Loriot und das Militärische (2)

 

Ich halte es für ausgeschlossen, dass Loriot 45 Jahre später eine Begeisterung für alles Militärische entwickelt hätte. Würde „Weihnachten bei Hoppenstedts“ in der Jetztzeit spielen, dann hätte er sich vermutlich nicht veranlasst gefühlt, die Grundkonstellation des Stückes zu verändern.

Die visuellen Eindrücke, die von den Szenen ausgingen, würden aber mit denen von damals kaum zu vergleichen sein. Anstelle des kleinen Spielzeugladens würde sich jetzt ein großzügig angelegtes Spielzeugparadies über mindestens eine halbe Kaufhausetage erstrecken und im Selbstbedienungsmodus (mit uniformiertem Wachmann) funktionieren. Das Domizil der Familie Hoppenstedt wäre ein Eigenheim mit Einliegerwohnung für den Opa. (Oder der Opa wäre über die Feiertage aus dem Seniorenheim geholt und ins Gästezimmer verfrachtet worden.)

Der Unterschied würde besonders in der Möblierung und Ausstattung der Handlungsorte bemerkbar werden. Die Wohnzimmereinrichtung sähe aus, als würden Hoppenstedts sich die Vorschläge der Zeitschriften „Schöner wohnen“ und „Unser Heim“ penetrant und mit preußischer Gründlichkeit zu Gemüte geführt haben, um sie dann mit Bravour zu verschlimmbessern.

Der Weihnachtsbaum wäre noch immer kein künstlicher. Kommentar Walter Hoppenstedt: „Das bisschen Tradition lasse ich mir halt was kosten.“ Die Blautanne (Import aus Dänemark) würde mit prunkvoll glitzernden Kugeln in den Farben und Motiven der Saison geschmückt sein (made in China, Kunststoff, auf Glas getrimmt, sehr preiswert). Außerdem mit Lametta (bundesdeutsch), das wieder im Kommen war. Dazu Lisa Hoppenstedt: „Wir nehmen die Aufforderung unseres Wirtschaftsministers sehr ernst, die einheimischen Kleinunternehmer zu unterstützen, indem wir ihre Produkte kaufen.“

An die Stelle von Mutters Staubsauger „Heinzelmann“ wäre ein vollautomatischer, KI-gestützter Saugwischroboter – nenne wir ihn „Hagen“ – getreten. „Es war uns wichtig, das Haus mit neuster Technik aufzurüsten“, würde Walter Hoppenstedt sagen, „denn die Nachbarn sollen doch sehen, dass wir modern denkende Menschen sind.“

Auch die Geräuschkulisse hätte sich verändert. Statt „Tochter Zion“ und „Oh, du fröhliche“ wäre jetzt „Jingle Bells“ und „Rudolph The Red-Nosed Reindeer“ als Hintergrundmusik zu hören. Opas Plattenspieler wäre einem Jahresabo für RTL+ gewichen; mit dem Musikpaket „Max“ würde er auf Youtube rund um die Uhr Marschmusik hören. Momentan hätten es ihm die deutschen Traditionsmärsche „Hohenfriedberger“, „Preußens Gloria“ und „Mein Schlesierland“ angetan.

Die Bescherung würde genau so üppig ausfallen wie damals, denn noch waren die Hoppenstedts von der mittelständischen Abstiegsangst mancher ihrer Nachbarn nicht infiziert. Der Verpackungsmüll hätte abgenommen, seit die Geschenkeindustrie an smarten Umhüllungen, gern vegan, gut verdiente und seit man gebrauchtes Geschenkpapier, geglättet und sauber gefaltet, bei Sammelstellen abgeben konnte, von wo aus es zur Nachnutzung in die Dritte Welt transportiert wurde. „Seid mit dem Papier vorsichtig“, würde die Hausfrau ihre Lieben anweisen, „nur glatt gestrichen und sauber gefaltet taugt es als eine Botschaft an die Ärmsten der Armen: Wir haben euch nicht vergessen.“

Und Dickies Modellbaukasten für ein Atomkraftwerk? Der würde wohl heute beim Publikum nicht mehr dieselben starken Abwehrreflexe auslösen wie damals und wäre deshalb vermutlich für Loriot nicht mehr das Requisit seiner Wahl, um der Pointe auf die Sprünge zu helfen. Loriot, der die Effekte seiner Texte kühl und präzise kalkulierte, hätte sich wohl in der Gegenwart nicht mehr so sicher sein können, dass die Zuschauer das fiktive Spielzeug als eine absurde, geschmacklose Übertreibung verstanden, die aber vor den echten Gefahren atomarer Technologien und Szenarien warnen wollte.

Denn inzwischen reagieren immer mehr Menschen auf solche Warnungen mit Weghören, Achselzucken und Pragmatismus. Als der Sketch 1978 seine Fernsehpremiere hatte, war der Kalte Krieg in vollem Gange und die Menschen waren durch zahlreiche Berichte über Nukleartests (die meisten von den USA durchgeführt) und strahlungsgeschädigte Opfer (geschätzt 2,4 Millionen) maximal sensibilisiert für die Gefahren, die der Einsatz von Atomenergie mit sich brachte. Acht Jahre später bewahrheiteten sich diese Befürchtungen mit dem schrecklichen Reaktorunfall von Tschernobyl, der laut Schätzungen von Greenpeace 93 000 Menschen das Leben kostete und bis heute Folgeschäden wie Krebs und Anomalien des Erbgutes hervorruft. Deutschland beschloss daraufhin den Atomausstieg, also den Verzicht auf die Nutzung von Kernenergie für die Stromerzeugung. Andere europäische Länder folgten.

Aber mittlerweile ist auch das Atomare wieder salonfähig geworden.
Zwar hält Deutschland bis heute offiziell an der Unumkehrbarkeit des Ausstiegs fest, doch die Planspiele der Energiekonzerne sprechen eine andere Sprache. Schon werden in unseren Nachbarländern Reaktoren, deren Abschaltung bevorstand oder bereits eingeleitet war, wieder hochgefahren und neue, angeblich extrem sichere Anlagen kommen hinzu.

Nie ans Aufhören gedacht haben die Protagonisten einer militärischen Nutzung der Atomenergie. Bis vor Kurzem war die Vorstellung der westdeutschen Militärs nicht mehrheitsfähig, dass die Bundeswehr eine Atombewaffnung und die Stationierung von US-Atomwaffen brauche. Formal wurde der Mehrheitswille respektiert, denn Deutschland gilt laut Definition nicht als Atommacht. Wir besitzen „nur“ die notwendigen Atomsprengköpfe (das Lager in Büchel hat es deshalb zu trauriger Berühmtheit gebracht) und Kampfflugzeuge, die für den Transport von Atombomben ausgelegt sind. Aber seit dem Ukraine-Krieg bröckelt hierzulande die mehrheitliche Ablehnung einer atomaren Aufrüstung. Militärstrategen denken laut über einen „kleinen“ atomaren Erstschlag nach. In den Schulen wird offensiv für den Soldatenberuf geworben.

Unter diesen Vorzeichen würde das Spielzeug-AKW bei einem Teil der heutigen Zuschauer als Pointenbeschleuniger nicht mehr optimal funktionieren. Ob die Aufrüstung des Modellbaukastens mit Elektronik und futuristischem Schnickschnack dieses Defizit heilen könnte oder der Verzicht auf die damalige Idylle der rund um das Kraftwerk aufzustellenden, friedlich weidenden Kühe, muss bezweifelt werden. Die Kuhweide durch eine vollautomatische Melkanlage mit integrierter Dung-Entsorgung und Schlafplatz zu ersetzen, wäre wohl auch nicht der Bringer. Wahrscheinlicher ist, dass Loriot ein neues Spielzeug erfunden hätte, vielleicht in Anlehnung an die gegenwärtig beliebten Strategiespiele. Vorschlag: „Raubtierkäfig. Wer nicht siegt, der fliegt“ oder: „Kurzer Prozess. Wer drückt den Roten Knopf?“

An dem Verkaufsgespräch selbst hätte Loriot wenig ändern müssen. Mit Zeitgeist angereichert, würde die Verkäuferin für Opas Spruch, nicht so genau zu wissen, ob sein Enkel ein Junge oder Mädchen sei, den Kommentar parat haben: „Verstehe. Dann also divers. Auch gut. Ist ja gerade schwer im Kommen.“

Die Verkäuferin würde sich jetzt Kundenberaterin nennen und für viel mehr Kunden zuständig sein. Opa Hoppenstedt würde sie erst suchen müssen und die sie belagernde Kundschaft mit dem Stock verscheuchen. Anstelle eines Verkaufsgesprächs würde sie auf das Beiheft zum Spiel verweisen: „Leider alles in Englisch. Ich hoffe doch, Ihr Enkelkind kommt damit zurecht.“ Darauf der Opa: „Dickie ist hochbegabt! Nur seine Lehrer sind zu dumm, das zu bemerken.“ „Lehrer-innen„, würde ihn die Verkäuferin korrigieren, „so viel Zeit muss sein“, und auf ein Schild an der Kasse zeigen: „Hier wird gegendert!!“

Der Sketch würde, wie schon vor fast einem halben Jahrhundert, mit Lisa Hoppenstedts Vorstellung von deutscher Gemütlichkeit enden, die sich natürlich erst nach Beseitigung der Spuren der explodierenden Geschenke-Orgie breit machen dürfte.

 

Und nun: Was würde Loriot an seiner Freischütz-Inszenierung verändert haben? Gute Inszenierungen wollen ja so ein Stück weder als historisches Dokument, noch als zeitloses Kunstprodukt, noch als Vehikel für die Selbstentäußerung des Regisseurs auf die Bühne bringen, sondern Gegenwartsbezüge herstellen, ohne das Werk zu vergewaltigen und seinen Autor zu diskreditieren. Das ist Loriot mit seiner damaligen Inszenierung gelungen. Die Interpretation des Jägerchors macht sich ja nicht über den Romantiker Carl Maria von Weber lustig, sondern über männerbündlerische Vereinsmeierei und Waffenfetischismus. Als historisches Dokument hat die Inszenierung bis heute ihre Gültigkeit, aber ob man sie jetzt noch einmal aktualisieren könnte oder sollte? Ob man an ihrer letztendlichen Harmlosigkeit rütteln sollte?

Ja, vielleicht. Eine kleine Idee hätte ich eventuell, aber Loriot hätte bestimmt eine bessere gehabt. Wie dem auch sei, ich könnte mir vorstellen, dem Lied eine dritte Strophe zu verpassen. Die müsste von einem Knabenchor gesungen werden, kostümiert als waidmännischer Nachwuchs, also in Uniform, und mit dem Stolz zukünftiger Schützenkönige ausgestattet. Unter Aufsicht dürften sie auch schon mal mit einer echten Waffe hantieren.

Die Jungs würden die Szene der feiernden Dorfbewohner mit konspirativer Attitüde betreten, denn sie wären mitten in einer Schnitzeljagd, kämen gerade aus dem Wald und gesellten sich nun mit großspurigem Gehabe zu den feiernden Dorfbewohnern auf dem Anger. Eine Konfettiwolke begleitete sie. Die Mädchen würden verschämt kichern. Die Altjäger schauten ihnen begeistert zu, wie Eltern, die ihren Nachwuchs für ganz etwas Besonderes halten. Spätestens bei Juchhu-fallera stimmten sie mit ein:

„Wir Jäger sind Helden, die niemals versagen,

verfolgen die Feinde durch Dickicht und Tann.

Im Spiel wie im Leben, wir werden sie jagen

die Räuber, die Bösen. Wir fangen gleich an.

Wir schnitzeln und spitzeln, wir lauern und mauern,

wir fischen im Trüben, hier wird nicht geflennt.

Nur Angsthasen wollen in Frieden versauern.

Wir Helden, wir zündeln bis das Eismeer verbrennt.

Juchhu, fallera …“

 

 

 

 

 

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