Welche Götter haben früher die Menschen angebetet? Den Mammon? Ja, auch den.
Heute ist das immer noch so, und es ist auf jeden Fall ein Gott dazu gekommen: Die Medizin als Wissenschaft und ihre Diagnosen. Sie sind heilig und werden mehr oder noch mehr angebetet. Das zeigt sich auch bei der Erziehung und also auch in dem Buch, das ich mir vorgenommen habe. Ich setze nach den ersten 14 Punkten in den Teilen 1 bis 6 von „Isch geh Schulhof“ nun mit dem 15. Punkt fort:
15. „Aber seitdem ich Menschen wie Jamil kenne, der ohne Ritalin nicht beschulbar scheint, bin ich zu der Ansicht gekommen, dass man es bestimmten Menschen nicht vorenthalten sollte. Deutlich wird das besonders an den Tagen, an denen Jamil sein Ritalin nicht genommen hat, und heute erlebe ich es wieder mal einmal hautnah mit, was das bedeutet. Als Jamil nach dem Umziehen brüllend in die Halle stürmt, schießt er jeden Ball, der vor seinen Füßen landet, durch die Gegend, schubst andere Kinder, schmeißt sich auf den Boden, zappelt und imitiert paarende Hunde. Das volle Programm. Nach ungefähr einer Minute ungebremster ADHS-Randale kommt sein erstes Opfer weinend zu mir gerannt…“ (S. 170f.)
Komisch, wenn ADHS eine Krankheit oder Behinderung ist, jedenfalls etwas Biologisches, hirnorganisch Verursachtes, das weder (allein) durch eine falsche Erziehung entstand, noch (allein) mit einer richtigen korrigiert werden kann, warum ist mir dann so etwas in meiner ganzen Schulzeit in den Fünfziger bis Sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nicht einmal begegnet? Und auch in den 70er und 80er Jahren, als ich schon auf der anderen Seite der pädagogischen Barrikade stand, habe ich von so etwas in der Ausprägung, über die ich gleich noch weiter berichte, nichts gehört.
16. „Es ist gar nicht so einfach, jemanden zu fangen, wenn man ihn nicht berühren darf. Bei Berührungen kriegt man nämlich gern zu hören: ‚Isch zeig disch an, ja? Bei Polizei, ja?‘ Ihre Rechte kennen viele Schüler sehr gut, nur ihre Pflichten leider nicht. Als ich endlich vor ihm stehe und ihm ruhig, aber bestimmt sage, dass er sich zusammenreißen muss, weil ich ihn sonst vom Sportunterricht ausschließe, macht er nicht den Eindruck, als würde er mir zuhören. Wie ein junger Hund steht er vor mir, komplett außer Atem, völlig überdreht und beschimpft seine Mitschüler. ‚Du Missgeburt, isch kriege disch, ja? Dein Mutta is…‘ Er bemerkt, dass ich seit einer Minute aus nächster Nähe auf ihn einrede, und schreit mich plötzlich an. ‚Du bist kacke! Dein Unterricht ist scheiße! Sch’asse disch!‘ Dann rennt er weiter. Eine weitere Minute später gibt es den nächsten Zusammenprall. Diesmal mit einem Mitschüler, der daraufhin mit Nasenbluten auf die Bank muss. Während ich zwei Schülerinnen kurzerhand zu Krankenpflegerinnen erkläre, knöpfe ich ihn mir erneut vor. ‚Ich hab’s dir gesagt! Jetzt ist es soweit, dass…‘ ‚Is mir egal, was du sagst. Sch’asse dich, du bist scheiße und dein Unterricht auch. Fick disch!‘ Mit diesen Worten lässt er mich stehen. Ich atme tief durch und spule im Geiste mein Mantra ab, dass er nichts dafür kann, dass er krank ist und ich ihn dafür nicht bestrafen sollte. Aber irgendwie muss es mir trotzdem gelingen, die Sicherheit der anderen Kinder zu gewährleisten.“ (S. 171f.)
In der Tat, wenn einer schon „krank“ ist, dann kann es ja wohl nicht angehen, dass er die anderen auch noch krank macht, körperlich und psychisch. Ich verstehe diese Medizin-Gläubigkeit nicht. Wie kann man sich über ein solches Verhalten wundern, wenn die Kinder, die es an den Tag legen, in ihrem Leben keinerlei Ordnung, Ruhe und Struktur haben? Wenn sie morgens zur Schule gehen sollen, schlafen ihre Eltern oft noch. Oder das andere Extrem: Die Eltern wuseln um sie herum, machen ihnen alles (mund)gerecht, so dass sie sich daran gewöhnen, dass, wenn es Probleme gibt, sich immer die Gesellschaft, sprich die Schule, an die Kinder anzupassen hat, aber niemals anders herum. Im ersten Fall, wenn die Eltern am Morgen nicht mit aufstehen, ist oft das Geld knapp, so dass nach den langen Abenden mit Kippen, Chips und Bier oft keins mehr übrig ist, um es den Kindern zu geben, damit diese sich einen „Pinguin-Riegel“ bei Aldi als Frühstück kaufen können. Verdammte Diskriminierung!
Beides, die erzieherische Gleichgültigkeit und die Überversorgung, sind Formen eines unsozialen Lebens, das den Kindern klare Konturen verweigert, in die sie sich einfügen und in denen sie Halt finden können. Kinder, die so verwahrlost aufwachsen, entweder abends vor Bildschirmen einschlafen oder im Luxus der Totalversorgung untergehen, können beim besten Willen nicht die Leistungsfähigkeit entwickeln, sich den normalen Ansprüchen des Lebens zu stellen. Dafür ist ihr Leben zu chaotisch. Und ein solches unordentliches, entrücktes und ver-rücktes Leben reicht mir fürs Erste als Erklärung für das beschriebene Verhalten vollständig. Da brauche ich keine Konstrukte wie ADHS oder ASS (Autismus-Spektrum-Störungen) mehr, die ablenken vom Wesentlichen, nämlich einer vollständig unsozialen Lebensweise bzw. einer vollständigen Fehlerziehung.
17. „Vielleicht sollte ich mir für solche Notfälle eine Druckluftpistole zulegen und mit kleinen Ritalinkapseln befüllen. Die Ritagun – eine echte Marktlücke.“ Die absolute Medizingläubigkeit kann also auch witzig sein, wenigstens das. Was ich in der Tat nach der Wende selbst erlebt hatte, war, dass sich die Lehrer in einer „Förderschule für Erziehungshilfe“ nicht anders zu helfen wussten, als den Notarzt zu rufen, wenn einer ihrer Schüler wieder einmal durchdrehte. Die Therapie bestand dann in Ermangelung wirksamer pädagogischer Maßnahmen in der Verabreichung einer Beruhigungsspritze. Ich dachte, das wäre eine sowjetische Methode, Personen, die nicht in das gesellschaftliche System passen, in der Psychiatrie zu „heilen“. Siehe da, der „demokratische Westen“ bedient sich auch dieser Methode, jedenfalls der in Deutschland, weil er sich als unfähig erweist, die Pädagogik auf solche schwierigen Fälle anzupassen. Da muss dann eben die Medizin her. Aber weiter im Buchtext:
18. „‚Herr Müller, schnell!‘, reißt mich eine Schülerin aus meinen Businessplänen [mit der ‚Ritagun‘]. Jamil liegt auf dem Boden und hält einen deutlich kleineren Mitschüler im Schwitzkasten. Als ich angerannt komme, ist der Kopf des Kleinen bereits knallrot angelaufen. Mit den Worten ‚Es reicht!‘ reiße ich Jamil von ihm herunter. ‚Du Ficka, isch zeig disch an!‘, schreit er. ‚Is mir scheißegal‘, brülle ich zurück und baue mich bedrohlich vor ihm auf…“ (S. 172) Einen Moment herrscht Ruhe, aber dann geht es wieder los: „‚Sag isch doch. Dein Unterricht ist scheiße! … Und du bist auch Scheiße, du Ficka! … Du Arschloch, fick disch, deine Mutter…'“ Wenn ich bedenke, dass im Zuge der „Me too“- Bewegung schon ein falscher Blick reicht oder ein dummer Scherz oder auch die unachtsame Berührung eines Knies, und derjenige ist geächtet, staune ich, wie endlos tolerant der „demokratische Westen“ mit solchen Macho-Äußerungen umgeht, und die werden so nach meiner Überzeugung nicht nur in Grundschulen geäußert, sondern auch in weiterführenden und in Berufsschulen. Und sollte nicht gelten: Wehret den Anfängen? Aber konsequent und wirksam! Und wenn das nicht möglich sei, weil es doch Kinder sind, warum kann man dann Kindern zumuten, so früh Opfer zu werden, mit blutender Nase und fast erwürgt auf der Bank zu sitzen? Wenn aber irgendjemand etwas mit „Hitler“ sagt, ist die Toleranz sofort zu Ende. Ich wundere mich, dass Jamil und Schüler wie er noch nicht auf diese Idee gekommen sind. Lehrer als „Scheiße“ zu bezeichnen, als „Arschloch“ und „Ficker“ sind doch absolute „Erdnüsse“ dagegen. „Du bist Hitler!“ – das kommt auch noch, wollen wir wetten? Und dann wird die Schule umstellt vom Sondereinsatzkommando, weil damit das Leid all der wirklichen Opfer Hitlers verharmlost wird. Ich halte diese Verlogenheiten des „Westens“ für unerträglich.
19. Weiter im Buchtext: Jetzt macht Philipp Möller in seiner Not, unter dem Dauerbeschuss existentieller Beleidigungen, einen großen Fehler: „‚Weißt du, Jamil‘, unterbreche ich ihn ruhig, ‚wenn jemand anderes so etwas zu mir sagen würde, dann würde mir das was ausmachen.‘ Er wird hellhörig. Die ganze Klasse ist auf einmal mucksmäuschenstill. Dann fällt mir etwas ganz besonders Dummes ein. ‚Aber bei dir macht mir das nichts aus, denn ich weiß, dass du nicht gesund bist.‘ … ‚Du Wichser!‘, brüllt er. ‚Du darfst nicht sagen, dass isch krank bin!‘ Er steht auf und geht auf mich los. Ich sehe an seinem Blick, dass er nun keine Rücksicht auf Verluste mehr nimmt, auch nicht, wenn er mich dabei ernsthaft verletzen könnte. Die anderen Schüler, von denen ich mir jetzt wünsche, dass sie zur Schlichtung der Situation beitragen würden, springen auf und fangen reflexartig an, im Chor zu brüllen: ‚Einzelkampf, Einzelkampf!‘ Ich kann es kaum fassen. … Jamil ist außer Rand und Band, nicht mehr ansprechbar. Mit Schaum vorm Maul schleudert er mir alle ihm bekannten Schimpfwörter entgegen und wirft den Kopf wild um sich. Weil ich seine Arme festhalte, fängt er außerdem an, mit den Hacken um sich zu treten.“ (S. 173f.)
Wie konnten Sie auch nur, Herr Möller, das zu behaupten, was seine Eltern ständig selbst vorbringen, wenn es um das aggressive Verhalten ihres Sohnes geht. Er könne nichts dafür, er sei eben krank, und die Lehrer haben sowieso immer Schuld. Schließlich haben sie Pädagogik studiert und durchaus auch Psychologie mit heißem Bemühen, also müssen sie wissen, was zu tun ist. Ein Kind ist immer unschuldig – und das stimmt sogar: seine Verzieher sind schuld. Da die Verzieher aber nicht zur Verantwortung gezogen werden dürfen in Deutschland, kann ich nur allen raten, die Lehrer werden wollen: Augen auf bei der Berufswahl!
Mit ADHS und dergleichen Diagnosen ist es so eine Sache. Ich halte auch nichts von dem Trend, aus jeder Schwäche eine Krankheit zu machen. Aber ich empfehle Ihnen das Buch „Ist das mein Kind?“ von Elke Sauer. Das ist der Bericht einer Mutter, deren Sohn höchstwahrscheinlich an ADHS litt, was jedoch nicht diagnostiziert wurde. Der Junge wurde nicht verzogen, der Rest der Familie war völlig normal. Es scheint tatsächlich behandlungsbedürftige Störungen zu geben …