Teil 2: Kann man denn Respekt, Wertschätzung und Menschenliebe trainieren?
Ein Blick in die Schaufenster der Buchhandlungen, in die Programme von Funk und Fernsehen oder auf die Angebote der elektronischen Medien genügt, um zu wissen, welche Textsorte in den letzten Jahren das Rennen gemacht hat: Es waren die Ratgeber. Mittlerweile gibt es Ratgeber zu jedem nur erdenklichen Thema und für jede Lebenslage. Manche Autoren holen auch gleich zum Rundumschlag nach dem Prinzip ‚alles über alles‘ aus und nennen ihren Ratgeber z. B. „Schlauer im Alltag“, „Der Ratgeber für alles“ oder „Weltentdecker“. Natürlich gibt es auch einen Ratgeber über Ratgeber: „Jeder kann einen Ratgeber schreiben“.
Zahlenmäßig schießen aber Erziehungsratgeber für Eltern den Vogel ab, dicht gefolgt von Ratgebern zum Lehren und Erziehen für Pädagogen. Bei Nr. 50 der Elternratgeber habe ich aufgehört zu zählen, und da war thematisch gerade erst das Kleinkindalter erreicht. Es gibt mittlerweile Listen wie die von Vera Rosenbauer („Diplom-Elternbildnerin und Diplom-Erziehungsberaterin“) „Meine Top 10 der pädagogischen Ratgeber“, die – wie sollte es auch anders sein – nach subjektiven Gesichtspunkten zusammengestellt worden sind.
Auch die Handbücher für Pädagogen jeder Art füllen inzwischen viele Regale und ein Ende ist nicht absehbar. Vielleicht schreibe ich ja doch noch den Ratgeber: „Wie komme ich ohne Ratgeber durchs Leben?“ oder, noch wichtiger: „Wer erzieht eigentlich die Erzieher?“ Einige Kapitelüberschriften hätte ich dafür schon:
(1) Kein Wertekanon ist für die Ewigkeit gemacht
(2) Die wichtigste Bildung ist die Herzensbildung
(3) Respekt, der nicht von innen kommt, ist mir suspekt
(4) Das Fremde macht Angst, das Eigene betriebsblind
(5) Darf man der Natur auf die Sprünge helfen? Aber natürlich!
Zu meinem gedachten Kapitel (1) habe ich hier im ersten Teil von „Werte, Traditionen, Umgangsformen“ schon eine Reihe von Aspekten zur Sprache gebracht.
Kurze anekdotische Abschweifung zum Stichwort Aspekte: In der Nacht nach Verteidigung meiner Doktorarbeit träumte ich, was bei mir äußerst selten vorkommt, eine Art Filmszene: Da saßen einige korpulente, glatzköpfige alte Herren, ihres Zeichens professorale Gutachter, paarweise in uralten, viel zu engen Schulbänken (die Sorte, wo Tisch und Bank untrennbar miteinander verbunden waren und die Tischplatte hochgeklappt werden konnte, um in dem darunter liegenden Fach seine Utensilien zu verstauen). Ihre undurchdringlichen Mienen ließen kaum erkennen, was sie von meinem Vortrag hielten. Aber dann flüsterte einer seinem Banknachbarn zu: „Was für ein hanebüchenes Sammelsurium von Aspekten!“
Auf einen neuerdings inflationär gebrauchten Begriff sei an dieser Stelle kurz eingegangen, auf die „Wertschätzung“. „Du sollst deinen Mitmenschen wertschätzend begegnen“, tönt es aus allen Richtungen. „Unsere Firma ist für den wertschätzenden Umgang mit ihren Mitarbeitern bekannt“, verheißen Werbeprospekte. „Jede Meinung hat Wertschätzung verdient“, lautet eine gern und oft erhobene Forderung in Leserbriefen. Was für eine Heuchelei! Wertschätzung als Kampfbegriff, um sein Gegenüber unter Druck zu setzen: Wertschätze mich gefälligst, auch wenn ich weit davon entfernt bin, im Gegenzug dich wertzuschätzen! So verstanden ist Wertschätzung eine Form der Entsolidarisierung.
Die Tatsache, dass sich jemand an die gängigen Regeln hält, heißt noch lange nicht, dass er die Werte verinnerlicht hat, auf denen diese Regeln beruhen. „Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen“, schrieb Adolf Freiherr von Knigge schon 1788 im Vorwort zu seinem Hauptwerk „Über den Umgang mit Menschen“.
Das sind hehre Wünsche, von denen wir heute kaum weniger entfernt sind als zu Knigges Zeiten. Auch wenn ich mich im Folgenden dem Vorwurf der Ideologisierung aussetze, möchte ich feststellen, dass wir in einem Gesellschaftssystem leben, dessen Grundpfeiler gerade nicht Moral und Weltklugheit sind, sondern Doppelmoral und oberflächliches Häppchenwissen.
Der Neoliberalismus überrascht einen immer wieder mit seiner Fähigkeit, Wertvorstellungen aus anderen Gesellschaftskonzepten aufzugreifen und die damit verbundenen Begriffe so lange durchzukauen, bis er sie für seine Bedürfnisse mundgerecht gemacht hat. So entstehen Mogelpackungen wie der „Green New Deal“ oder das Konzept Basisdemokratie á la FDP. Da wird der Umbau der Weltwirtschaft nach ökologischen Gesichtspunkten postuliert, aber letztlich werden nur die Profitinteressen und Wachstumsphantasien der global agierenden Großkonzerne und Banken bedient. Da wird für neue basisdemokratische Verfahren der Willensbildung geworben, aktuell gerade mit dem Großversuch „Bürgerrat Ernährung“, aber an mehr als eine simulierte Demokratie mit vorhersehbarem Ergebnis im Interesse der Nahrungsmittelindustrie ist nicht gedacht.
Unser westliches Wertesystem, einschließlich der sogenannten deutschen Tugenden, ist doch längst zu einer Farce verkommen. Zwar funktioniert es im Kleinen – in der Familie, im Freundeskreis, in Kirchgemeinden, an gut sortierten Schulen – noch einigermaßen, aber im Großen bzw. für diejenigen, die an den Schalthebeln der Macht sitzen, haben andere Werte Vorrang, die für den Systemerhalt zwingend notwendig sind: Siegeswillen, gnadenloser Ellenbogeneinsatz und eiserne Konsequenz bis zur Skrupellosigkeit im Dienste der Profitmaximierung und eines um jeden Preis aufrechtzuerhaltenden Wirtschaftswachstums. Mit „Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab“, dem wohl bekanntesten (und von Mozart mit einer Melodie versehenen) Gedicht von Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748 – 1776), der auch unter dem Pseudonym „Town, der Sittenrichter“ publizierte, kommt man da nicht weit. Schon eher mit dem zynischen Spruch: „Erst Knete, dann Gebete“.
Eigentlich weiß jeder um die Erosion unser Werte. In der Mehrheit wird daraus aber nicht der Schluss gezogen, für ein gerechteres System zu kämpfen. Stattdessen arragiert man sich mit den Gegebenheiten in der Hoffnung, seine eigenen Schäfchen schon irgendwie ins Trockene zu bringen, wenn nötig auch auf Kosten seiner Mitmenschen. Am besten, man begrenzt den Kreis derer, für die man Sorge zu tragen bereit ist, auf eine überschaubare Zahl, etwa auf die engeren Familienangehörigen, auf die halbe Handvoll echter Freunde, vielleicht noch auf ausgewählte Mitglieder seines Lieblingsvereins oder auf den heimatlichen Kiez – aber spätestens beim Heimatland ist dann die Grenze der Zumutbarkeit erreicht. Sowieso gilt es, sich von Menschen abzugrenzen, deren Wertebewusstsein zu wünschen übrig lässt, darunter nicht zuletzt von Ausländern. Eine deutsche Untugend besteht dabei in dem Bedürfnis, nach unten zu treten und nach oben zu buckeln. Um so wichtiger erscheint es dann, den Schein einer funktionierenden äußeren Ordnung zu wahren. Warum nicht Vorschriften verschärfen und Benimmregeln trainieren?
Allerdings können die Verstöße dagegen selten konsequent geahndet werden, denn auch die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative, Exekutive und der „Vierten Macht“ Medien funktioniert nicht mehr zufriedenstellend.
Wie soll unter diesen Bedingungen eine erfolgreiche Bildungs- und Erziehungsarbeit aussehen? Wie sollen Eltern, die ihre Kinder nach den Idealen des „Wertewestens“ erziehen wollen, mit dem Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit umgehen, den Brecht einmal mit den Worten umschrieb: „Wir wären gut anstatt so roh – doch die Verhältnisse, die sind nicht so“? Oder sollen sie ihren Nachwuchs von vornherein so konditionieren, dass er aus den nun mal nicht zu ändernden Verhältnissen den größtmöglichen persönlichen Vorteil ziehen kann?
Wie soll Schule auf die ihr aufgezwungene Rolle eines Reparaturbetriebs für gesellschaftliche Missstände reagieren? Wie soll sie mit der gewollten Ungleichverteilung von Bildungschancen umgehen? Wie mit Lehrplänen, die den Erfordernissen einer modernen Rundum-Bildung schon lange nicht mehr gerecht werden?
Für mich als Mutter und Lehrerin habe ich den Ausweg aus diesen Dilemmas eigentlich immer nur in einer Richtung gesehen: Nichts tun, was meinen Mitmenschen schadet, ihren Eigenheiten mit Nachsicht begegnen, den inneren Kompass nicht ignorieren, aber ihm auch nicht blind folgen, die Rituale und Normen eines zivilisierten Umgangs miteinander respektieren, aber auch hinterfragen und ihre formale Einhaltung nicht zum alleinigen Maßstab der Beurteilung anderer Menschen machen, niemanden dominieren wollen, den Zweifel an allem und jedem als produktive Kraft nutzen, Versuch und Irrtum nicht scheuen, keine endgültigen Urteile fällen und ewigen Wahrheiten misstrauen.
Auf den ersten Blick scheint eine solche mentale Disposition für eine Rolle als Leithammel, wie sie nun mal von einer Mutter und Lehrerin erwartet wird, ziemlich ungeeignet. Als Begründung wird dann gern angeführt, dass Respektspersonen an ihren Führungsqualitäten keinen Zweifel aufkommen lassen dürfen. Aber Respekt ist eine vielschichtige Angelegenheit und hat nicht nur mit dem Amt zu tun, das man ausübt. Wie peinlich, wenn sich jemand nur Gehör verschaffen kann, indem er seinem Gesprächspartner entgegen schleudert: Wissen Sie eigentlich, mit wem sie reden? Oder indem er auf seine strafrechtlichen Befugnisse verweist oder auf den längeren Hebel, an dem er sitzt. Respekt sollte doch vor allem aus der Bereitschaft erwachsen, die Bemühungen seiner Mitmenschen zu würdigen und ihnen fair zu begegnen.
In meinem fiktiven Ratgeber „Wer erzieht eigentlich die Erzieher?“ fehlen noch die Kapitel (4) und (5), für die ich weiter oben schon eine Überschrift vorgeschlagen hatte. Dazu im 3. Teil mehr.
Schön und gut, liebe Meta. Du moralisierst, sprichst von „inneren“, sozusagen wahrhaftigen Werten, die nicht äußerlich antrainiert werden können und sollen, davon, „Rituale und Normen eines zivilisierten Umgangs miteinander zu respektieren“, sie aber auch zu hinterfragen und keinen anderen dominieren zu wollen. Das ist wohlfeil und keiner wird dir widersprechen wollen.
Aber wo ist der gedankliche „Widerhaken“, an dem eine Gesellschaft, die nach meinem Gefühl immer egoistischer wird, aus dem Schlamassel gezogen werden kann? Was hat der grassierende Individualismus damit zu tun, die Ablehnung von Gemeinschaften wie die Familie, die Schule und die Nation, die über dem Ich stehen sollten, weil nur sie die Bildung echter Ichs ermöglichen? Darauf gibst du keine Antworten, du warnst nur vor allen Äußerlichkeiten, die ein Ich bedrängen könnten. Ich jedenfalls weiß, dass etwas Inneres nicht aus anderen Innerlichkeiten entstehen kann, sondern als „Wirt“ immer eine äußere praktische Form im Handeln braucht. Eine hochwertige Fähigkeit, Rücksicht auf den Mitmenschen zu nehmen, entsteht nicht aus klugen Reden darüber, sondern aus materiellen Handlungen, aus praktischen Formen eines entsprechenden Umgangs miteinander (Umgangsformen). Du begegnest Ihnen mit Skepsis, sofern Sie von den Erziehungsverantwortlichen eingeführt und eingeübt werden.
Wie denn dann? Lassen wir es dann lieber ganz und gehen unter in spätrömischer Dekadenz, die schon die Pubertierenden praktizieren? Es ist ganz einfach: Gibt es eine gewachsene Gemeinschaft, die Familie, die Schule, die Nation, dann passen die Erwachsenen, die dort die Verantwortung tragen, gegenseitig aufeinander auf, damit es keiner von ihnen mit den Führungsrechten und -Pflichten gegenüber den Jungen übertreibt. Und dann wird in der Gemeinschaft offen darüber gesprochen, wobei die Jungen zwar eine Mitspracherecht haben, aber die Entscheidungen denen vorbehalten bleiben, die dann auch den Kopf hinhalten müssen. So regelt sich ein gutes Maß ein und so geht die Erziehung der Erzieher.