Zwei junge Männer rennen die Treppe zur S-Bahn-Station herunter. Sie kommen gerade noch rechtzeitig auf dem Bahnsteig an, aber sie wollen gar nicht in den Zug einsteigen. Sie zücken ihre Smartphones und fotografieren emsig die noch stehende S-Bahn.
Jetzt verstehe ich warum. Sie ist über und über mit gesprühten „Gemälden“ verziert. Die jungen Männer wollen offenbar dokumentieren, was für eine gute Beute sie mit diesem Zug machten. Sie haben ihn „erlegt“ und über und über beschmiert, auch über die Fenster hinweg.
Sie haben in diesem Land keine Konsequenz und Nachhaltigkeit beim Schutz gemeinschaftlichen und/oder privaten Eigentums zu befürchten. Stolz können sie ihre Schandtaten, etwas, was ihnen nicht gehört, sozusagen vergewaltigt, mit gesprayter Farbe besudelt zu haben, fotografieren, von den verschiedenen Perspektiven aus.
Ich glaube im Ernst, dass die Geisteshaltung, mit der junge Männer mit der größten Selbstverständlichkeit und ohne jedes Unrechtsbewusstsein „unschuldige“ helle Flächen, jedenfalls welche, die relativ einfarbig sind, „schänden“, indem sie sie rücksichtslos nach ihren eigenen persönlichen Schönheitsvorstellungen besprayen, auch der Vergewaltigung von Menschen zugrunde liegt. Wer das eine großzügig hinnimmt, begünstigt das andere. (Das ist mal ein Beitrag zur „Ich auch“-Debatte aus einer ganz anderen Perspektive.)
Gleichmütig stehen wartende Bürger auf dem Bahnsteig daneben. Keiner wagt es, ihnen etwas zu sagen. Ich auch nicht. Diese Typen sind so überzeugt von sich, dass ich befürchte, sie würden gewalttätig reagieren. Offenbar konnten sie in ihrem bisherigen Leben ihre eigenen Interessen und Gelüste fast immer gegenüber den Ansprüchen der Gemeinschaften, zu denen sie gehör(t)en (Familie, Schule, Gemeinde, Nation), durchsetzen.
Wenn plötzlich Vertreter dieser Gemeinschaften wie die Bürger auf dem Bahnsteig als Leipziger anfangen würden, ihr egozentrisches Verhalten zu kritisieren und eine Anpassung an die geltenden Normen und Umgangsformen zu verlangen, wären sie wahrscheinlich perplex und würden nach der ersten Überraschung aggressiv reagieren. Wie auch anders, wenn ihnen keiner bisher Grenzen setzte bzw. schnell einen Rückzug antrat, nachdem er auf ihren Widerstand traf.
In allen wirtschaftlich erfolgreichen Ländern dieser Erde herrscht Ordnung, denke und behaupte ich. In Deutschland herrscht keine Ordnung mehr. In absoluten Zahlen sind wir trotzdem – noch – eine wirtschaftliche Großmacht. Wir stehen bezüglich der Bruttosozialprodukts nach den USA, China und Japan an 4. Stelle in der Welt. Bezüglich des Bruttosozialprodukts pro Kopf sieht das schon ganz anders aus, da findet sich Deutschland erst an 19. oder 20. Stelle und Länder, die in der Lage und willens sind, eine gemeinschaftliche Ordnung durchzusetzen, stehen weit vor uns: Luxemburg, die Schweiz, Singapur, Irland, Katar, Norwegen und andere. (In den letzten Jahren ist Deutschland pro Jahr um ca. 1 Million Einwohner gewachsen. Deshalb sinkt das Bruttosozialprodukt pro Kopf Jahr für Jahr weiter und bald werden wir uns noch viel weiter unten in der Liste der Nationen wiederfinden.)
Natürlich hat das auch mit Banken zu tun, die sich dort angesiedelt haben, und mit Einnahmen aus Rohstoffvorkommen wie Erdöl, aber ich wette, in diesen Ländern fahren keine beschmierten Bahnen durch die Gegend, in ihnen herrscht überhaupt Ordnung, etwas, was einmal ganz typisch für Deutschland war.
Wie war mein Vater begeistert von den gepflegten südwestdeutschen Städtchen und Dörfern, als er als Rentner ab Mitte der 70-er Jahre nach Westdeutschland reisen durfte. Brandenburg an der Havel war und ist demgegenüber auch nicht so schlecht, trotzdem, der Unterschied war groß. Im Vergleich zu Großstädten wie Berlin, die zunehmend vermüllt und vom Vandalismus gezeichnet sind, ist er gewaltig.
Jetzt lese ich in WELT+ vom 13.01.23 („Wie froh ich bin, nicht mehr in Deutschland zu leben“), wie glücklich eine ehemalige Berlinerin ist, nach Singapur entkommen zu sein. In Berlin kacken inzwischen nicht mehr nur Hunde, wo sie wollen, die Bürgersteige und Straßen voll, sondern auch Menschen tun das. Wieso sollen Schüler Ordnung in ihren Schulen halten, gewissenhaft, aufmerksam, pünktlich und leistungsorientiert sein, wenn rundherum das Chaos herrscht und die Staatsmacht unfähig und unwillig ist, ein Mindestmaß an Ordnung durchzusetzen?
Und es stimmt auch nicht, dass geistige Kreativität ein „freies“ Lotterleben in der Gesellschaft voraussetzt. Das Gegenteil beweisen die erfolgreichen asiatischen Volkswirtschaften China, Japan, Singapur, Südkorea, Vietnam und andere, in denen die Erziehung viel autoritärer ist als in unseren „freien“ Gesellschaften. „Arm, aber sexy“ war ein Motto für Berlin. Bald wird es für Deutschland heißen: „frei und offen für alles, inkonsequent beim Durchsetzen von all den Regeln, die nicht den Umweltschutz betreffen, und arm/erfolglos“. Der Lebensstandard wird zwar direkt proportional zum Bildungsniveau schrittweise immer weiter sinken, aber die Hauptsache ist für die, die hier den Ton angeben, dass wir in einer freien, „unautoritären“ Gesellschaft leben.
Das erinnert mich an den Spruch: Irgendwann werden die Menschen merken, dass man Geld nicht essen kann. Und irgendwann werden die Spaßmacher und Liebhaber unreglementierter Freiheit merken, dass diese allein zu nichts führt, von dem sich leben lässt.
Deutschland, ein Chaosland. Nie und nimmer hätte ich mir das noch vor ein paar Jahrzehnten träumen lassen und mein Vater erst recht nicht. Wie sagte Peter Scholl-Latour, der Journalist und Kenner der arabischen Welt: Wer halb Kalkutta aufnimmt, fügt diese Menschen nicht in seine Ordnung ein, sondern wird auf die Dauer selbst zu Kalkutta.
Aber die Sprayer sind ein typisch deutsches Eigengewächs. Die, die zu uns kommen, würden sich einfügen. Wenn Deutschland aber eine Kultur individueller Lustorientierung vorgibt, ist das nicht mehr so möglich, wie es jahrhundertelang gelang: Die, die zu uns kamen, trugen zum deutschen Erfolg bei, indem sie die positiven Seiten des „deutschen Wesens“ übernahmen und mit den Eigenarten ihres herkömmlichen Lebens und Denkens anreicherten.
2 Kommentare zu “Das hätte ich mir nie träumen lassen”