„Ich habe meinen Frieden gemacht“

Das steht an einem Holzkreuz auf dem Leipziger Ostfriedhof, wo ich gelegentlich spazieren gehe. Derjenige, den dieser Ausspruch betrifft, ist ungefähr 10 Jahre jünger als ich. Als ich ihn das erste Mal gelesen hatte, war ich vor allem skeptisch: Wie soll das möglich sein, relativ früh zu sterben und dann „seinen Frieden“ gemacht zu haben? Auch ein bisschen Respekt hat sich in meine Skepsis gemischt: Sollte er das wirklich geschafft haben?

Ich bin unzufrieden. Auf meinem Kreuz könnte das nicht stehen. Womit bist du unzufrieden und was müsste passieren, damit auch du so etwas an deinem Grab stehen haben könntest, frage ich mich. Der erste große Punkt meiner Unzufriedenheit betrifft auch diese Webseite: Es gibt zu viele Worte. Wir gehen allesamt darin unter. Ich habe das Gefühl, ich dringe nicht durch. Etwas, was mir wichtig ist, schreibe ich auf, vor allem zur Erziehungsphilosophie der Gesellschaft, in der Sie, liebe Leser, und ich leben (alle Beiträge zum Thema Zeitzeichen Autismus, beginnend mit Die Grundfrage der Erziehung).

So ähnlich müssen sich die Klimakleber fühlen: Die Welt geht in ihren Augen unter, und einen Großteil der Bevölkerung interessiert das gar nicht. Ich fürchte auch, dass die Welt in Deutschland untergeht, aber nicht wegen dem Klimawandel, sondern wegen einer Erziehung, die im Ernst glaubt, das Wichtigste auf der Welt sei das, wozu ein Kind gerade Lust hat oder auch nicht. Wenn es etwas, was notwendig ist, nicht tun will, bestände die einzige Lösung darin, dieses so interessant zu machen und/oder mit einem so hohen Spaßfaktor zu versehen, dass es dann schließlich doch noch „Lust bekommt“, es zu tun.

Wenn man sich erst einmal auf diese Denk- und Verhaltensschiene begibt, wird es wie bei Drogenabhängigen: Sie brauchen eine immer höhere Dosis. Die Aufmerksamkeitsspanne wird immer kürzer, es muss dringend und immer öfter eine neue „Attraktion“ nachgeschossen werden, damit die Schüler am Lernball bleiben. Ich fürchte, so läuft Unterricht zunehmend in Deutschland.

Das ist für mich die Logik einer pervertierten Konsumgesellschaft. Manche Dinge sind einfach Pflicht, und ihre Erledigung wird kontrolliert, die gute mit positiven Folgen verbunden und die schlechte mit negativen (um eines der schlimmsten Gruselwörter der deutschen Pädagogik zu vermeiden, nämlich „Strafe“, die ganz sachlich und unaufgeregt auferlegt werden könnte): Alles hat seinen Preis, aber Fehler lassen sich durch zusätzliche Anstrengungen auch wieder gutmachen.

Es geht nicht um Launen, Befindlichkeiten und Stimmungen, die interessieren keinen, es geht um die Sache, um Leistungen. Lernen muss nicht – von vornherein – Spaß machen. „Der Appetit kommt beim Essen“, und Spaß und Freiheit können nur dann wertgeschätzt werden, wenn es einen Sockel von Pflichten gibt, auf denen sie aufbauen. Zu lernen, sich aus einem Geflecht eigener Stimmungen herauszukämpfen („Ich bin heute gar nicht gut drauf, hab‘ überhaupt keine Lust!“), ist für die eigene Persönlichkeitsentwicklung ganz wichtig, nicht nur beim leistungsorientierten Lernen, auch beim Meistern von Beziehungskrisen und generell bei der Verbesserung der eigenen psychischen Konstitution (Gesundheit).

Ich vermute, dass die kontinuierlich sinkende Leistungsfähigkeit deutscher Schüler mit dieser Lust- und Stimmungsorientiertheit der deutschen Pädagogik zu tun hat. Aber ich dringe mit diesen Thesen nicht durch, obwohl ich das seit Jahrzehnten sage. Das macht unzufrieden. Ich kann nicht einmal mehr meinen besten Freund und alten Kampfgefährten in dieser Sache überzeugen, mit mir zusammen auf dieser Webseite für das einzustehen, wofür wir früher gemeinsam gekämpft hatten und das, obwohl die nationale Erziehungsnot so groß ist, wie sie es noch nie war.

Vielleicht überhöhe ich mein Bild, das ich von asiatischen Schulen habe. Fakt ist, dass der Abstand zwischen den Leistungen, die 15-Jährige in Deutschland auf mathematischem und muttersprachlichem Gebiet erreichen, und denen, die gleichaltrige Schüler aus China, Südkorea oder Singapur nachweisen, immer größer wird. Ich vermute, dass die Klassenstärken in den asiatischen Ländern außerdem noch größer sind als bei uns und dass es dort viel weniger Sozial- und Heilpädagogen für die Schüler gibt und auch signifikant weniger Schulpsychologen.

Was sagt uns das? Dass wir mit viel größerem Aufwand viel weniger erreichen! Es scheint sogar so zu sein, dass mit der besseren Ausstattung des Bildungswesens mit Heil- und Sonderpädagogen die Erziehungsprobleme zunehmen. Sie werden dann eher als geheimnisvolle, tief in der kindlichen Psyche angelegte Mysterien gesehen und behandelt, die einer hochqualifizierten Therapie bedürfen. Auf die Idee, dass die betreffenden Kinder einfach nicht erzogen werden, gemeinschaftlich abgestimmt, konsequent und nachhaltig, kommt keiner mehr. Das wäre ja auch viel zu einfach, nicht kompliziert und heldenhaft genug!

Für mich ist es einfach: In China, Südkorea, Singapur, Vietnam und anderen vergleichbaren Ländern ist die grundlegende gesellschaftliche Erziehungsphilosophie gemeinschafts- und sachorientiert. In Deutschland ist sie individualisiert, auf die Besonderheiten der einzelnen Schüler ausgerichtet und auf ihre Emotionen, Befindlichkeiten, Launen und Stimmungen. Wenn Menschen sich entwickeln sollen, müssen sie doch aber in die gewollte Richtung „gezogen“ werden. Die beständige Versicherung, dass sie genauso, wie sie sind, gut sind, und dass, wenn sich einer anpassen muss, das dann die Gesellschaft ist, die sich gefälligst auf jeden Einzelnen in seiner Besonderheit zubewegen muss, führt zu den Erziehungs- und Bildungsergebnissen, die wir haben: Labile Kinder, die immer weniger leisten können.

Dabei ist es natürlich richtig: Wenn Menschen anders und besser werden sollen, als sie es sind, müssen sie erst einmal so (an)erkannt werden, wie sie sind. Sonst verhärten sie sich, bilden Widerstände aus, die allen schaden. Aber dann muss die zweite Stufe kommen, und zwar sachorientiert und vor allem gemeinschaftlich zwischen den Erziehenden abgestimmt. Kein Kind kann und will sich gegen das „wehren“ und stemmen, das Mutter und Vater gemeinsam so erwarten und fordern, das auch die Großeltern und die Lehrer und Erzieher so sehen. Es könnte so einfach sein, aber die Individualisierung, das Zauberwort der deutschen Pädagogik, gilt in Deutschland nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch für die Erziehenden.

Ein gemeinsames nationales Band fehlt, das sicherstellt, dass die Erziehenden in München die gleichen „Werte“ vertreten wie in Rostock, wobei diese selbst belanglos bleiben, wenn sie nicht durch gemeinsame Umgangsformen, Rituale, Traditionen und Zeremonien tatsächlich eingeübt und praktiziert werden. Und auch die Unterschiede zwischen multikulturellen Städten wie Berlin und der Provinz sind riesig. Ein Kind, das in Berlin sozialisiert wurde, wird sich in Eberswalde kaum zurecht finden. Und wo sind die Bildungsergebnisse höher? Raten Sie mal.

Inzwischen kann man sich in Deutsch-Land nicht einmal mehr sicher sein, dass die gemeinsame Sprache überall gilt. Immer mehr Zugewanderte, vor allem die höher Gebildeten, leben seit Jahrzehnten in Deutschland, und sie sehen keinen Sinn darin, Deutsch zu lernen. Englisch reicht für sie und die deutsche Gesellschaft, die sich dann gefälligst anzupassen und auch Englisch zu lernen hat. Das war mal ganz anders, trotz kurzer Zeit nach dem begonnenen und verlorenen 2. Weltkrieg.

Sogar die Beatles haben mal eine Zeitlang in Hamburg auf Deutsch gesungen. Diese Nation hatte einmal eine Strahlkraft. Die kulturell-mediale Elite Deutschlands, politisch vertreten durch die CDU, die SPD, die Grünen, die FDP und die Linke, hat sie mit vereinten Kräften zum Verglimmen gebracht, damit sie „europäisch“ neu aufleuchten kann. Das gelingt nicht, weil die anderen Länder nach wie vor viel nationaler als europäisch denken.

Womit sie meiner Meinung nach recht haben, denn eine Gemeinschaft, egal ob Familie, Schule, Stadt oder Region, mit der sich Menschen identifizieren sollen und wollen, muss genug kulturelle Gemeinsamkeiten haben, vor allem sprachliche und lebensmentale. Das ist beim Konstrukt der „Europäischen Union“ nicht der Fall. Als zollfreie Wirtschaftsgemeinschaft kann sie funktionieren, aber nicht als politische. (Siehe auch die Fußnote 1 in Die Grundfrage der Erziehung.) Daran festzuhalten, ist einer der Lebensirrtümer, neben dem hier in Bezug auf die Erziehung beschriebenen, die die Lebensqualität der Deutschen, einschließlich der Zugewanderten, von Jahr zu Jahr verschlechtern.

Buntheit allein ist keine Erfolgsgarantie. Unterschiedliches regt sich nur dann gegenseitig an – und das gelingt in einzelnen Fällen jetzt schon -, wenn es durch Gemeinsames verbunden ist. Und das können keine abstrakten „westlichen“ oder „europäischen“ „Werte“ sein, sondern das müssen die kontinuierlich praktizierten Grundzüge der allgemeinen Kultur einer Nation sein, die erfolgreich ist (wie Deutschland immer noch) und mit der sich deshalb alle identifizieren können und wollen.

Unser hoher Lebensstandard, den die vorherigen Generationen in Deutschland mit viel Pflichtbewusstsein und anderen „preußischen Tugenden“ erarbeitet haben, wird so von Jahr zu Jahr mehr verspielt. Ich weiß, das folgendes Missverständnis ist fast unvermeidlich: Ich würde wollen, dass Erziehende, Lehrer und Eltern, herrisch umherblaffen, mürrisch und unfreundlich ihre Forderungen stellen und ständig Fernseh- und Spielkonsolenverbot erteilen sowie Smartphones einkassieren. Nein! Man kann auch freundlich „streng“ sein.

 

Und ich weiß auch: Natürlich ist ein richtiges Leben im falschen möglich, jedenfalls in diesem pädagogischen Kontext

Auch wenn die Pädagogik in Deutschland Kopf steht, gibt es natürlich einzelne Lehrer und Erzieher, die trotzdem Herausragendes leisten, die nicht bei der Individualisierung stehen bleiben, beim Hinterher-Gehen hinter dem Kind, um möglichst ruhig (über)leben zu können, um den Daseins-Kampf der Erziehung geradeso noch zu bestehen, sondern die, nachdem sie beim Kind angekommen sind, es in abgestimmter Gemeinschaft mit anderen Pädagogen auch nach vorn zu höheren Stufen seiner Persönlichkeitsentwicklung führen.

Ich habe noch mehr Unzufriedenheiten, auch persönlicherer Art. Auch die werde ich in folgenden Beiträgen zum Thema „Was bleibt?“ wenigstens nennen, denn das ist der erste Schritt, dass ich mit ihnen meinen Frieden werde machen können,

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