„Und die Bibel hat doch recht!“…

… so lautet der Titel eines Bestsellers aus dem Jahre 1955, der mir als erstes einfiel, lieber Karl, als ich deinen Beitrag „Rosa Luxemburg und der synodale Weg“ las. Geschrieben hat das Buch der Journalist und Sachbuchautor Werner Keller (1909-1980). Der Untertitel „Forscher beweisen die Wahrheit des Alten Testaments“ dürfte damals bei manchem gläubigen Christen falsche Erwartungen geweckt haben, denn Keller wollte nicht den Beweis antreten, dass die Texte der Bibel authentisch sind und direkt von Gott kommen – dies ist bis heute die offizielle Lehrmeinung aller christlichen Kirchen -, sondern es ging ihm darum, mit Hilfe der Archäologie im Vorderen Orient nachzuweisen, dass es die Orte, Landschaften, Pflanzen und Nutztiere tatsächlich gegeben hat, von denen in der Heiligen Schrift die Rede ist.

Kellers Publikation gilt noch immer als Standardwerk, ist in -zig Auflagen und mehr als 20 Sprachen erschienen und wurde in den 70-er Jahren durch einen Dokumentarstreifen in Spielfilmlänge gekrönt. Der sorgte dafür, dass das Buch auch in den Kirchengemeinden Ostdeutschlands vermehrt nachgefragt wurde. Da sich kein DDR-Verlag der Nachfrage annehmen konnte/wollte/durfte, kursierten die Ausgaben mehrerer Verlage „von drüben“. Auch in der neuapostolischen Gemeinde meiner Heimatstadt wurde der Bestseller herumgereicht. Die Wege, um an ein solches Exemplar zu kommen, überschritten oft die Grenzen des Erlaubten. Offiziell geduldet war aber z.B. die Bücherspende des neuapostolischen „Medienhauses Bischoff“ aus Neu-Isenburg. („Bischoff“ galt als politisch harmlos und durfte auch Gemeinden im Osten legal mit einer begrenzten Anzahl von hauseigenen Druckerzeugnissen – wie der zweimal pro Monat erscheinenden Zeitschrift „Unsere Familie“ – versorgen.) Eines Tages – ich studierte schon in Dresden, hatte meinen Austritt aus der Kirche schon erklärt und war nur noch an den „Heimfahrwochenenden“ in meinem Elternhaus zu Gast – lag das Buch dort auf dem Garderobenschränkchen im Korridor. Neugierig geworden, zogen mich die teils spektakulären Recherchen in ihren Bann. Ich fand auch viele der spekulativen Schlussfolgerungen plausibel – nur eines fand ich, wie vermutet, nicht : den in Aussicht gestellten Gottesbeweis.

Erstaunlich ist der Aufstieg des Buches, das doch eigentlich nur als archäologische Recherche gedacht war, in den Rang eines Grundlagenwerkes – womit sich die Erwartungen der Gläubigen aus der Zeit der Erstveröffentlichung letztlich doch erfüllt haben: „Und die Bibel hat doch recht!“ gehört heute zu den Dokumenten, die als ultimativer Beleg für die Wahrheit der christlichen Lehre herangezogen werden. Dabei ist doch seit langer Zeit bekannt, spätestens seit dem 4. Jahrhundert, dass die heutige Bibel ein Mischwerk aus vielen Quellen ist. Die erste zusammenhängende lateinische Fassung, „Vulgata“ genannt, auf die sich alle späteren Versionen der Bibel berufen, hat der Schriftgelehrte Hieronymus im Auftrag des damaligen Papstes Damasus geschaffen.
Hieronymus ist an dieser Aufgabe schier verzweifelt, wie man seinen zum Glück erhalten gebliebenen Randbemerkungen und Kommmentaren sowie mehreren dokumentierten brieflichen oder persönlichen Rücksprachen mit dem Pabst entnehmen kann. Die Quellen, die Hieronymus sichten, in einen plausiblen Zusammenhang bringen und wenn nötig harmonisieren sollte, basierten auf mündlichen Überlieferungen und stammten nicht nur von verschiedenen Chronisten aus verschiedenen Zeiten, sondern widersprachen sich zum Teil auch erheblich. Wie viele Gebote brachte Moses vom Berg Sinai mit? Waren es sieben, zehn, zwölf oder noch mehr und für welche Version sollte man sich entscheiden? Wann und von wem wurde z.B. das Gebot „Du sollst es nicht mit Tieren treiben.“ aus der Liste gestrichen? Stimmt die Version, dass Jesus von seinen Jüngern eine rein pflanzliche Ernährung verlangte – oder kommen laut einer anderen Quelle in seinen Speisevorschriften auch tierische Produkte vor? Hatte Jesus weitere Brüder, war er gar verheiratet – oder sollte man einen Text, der dies behauptete, einfach ignorieren? Wer entschied, ob bei der Übersetzung aus dem Hebräischen bzw. Altgriechischen ins Lateinische Marias Status mit dem Begriff „junge Frau“ oder mit „Jungfrau“ zutreffender benannt ist? Solche Entscheidungen liefen schon damals so, wie sie bis heute in allen Fragen von Ideologie und Weltanschauung, von Moral und Ethik laufen: Wer die materielle Macht hat, hat auch die Definitionsmacht über das Ideelle. Und so wurden die überlieferten Texte, teils nur Fragmente, nach dem Willen der herrschenden Kirchenfürsten gewichtet. Manche Texte wurden für besonders wertvoll erklärt, andere verworfen. An manchen Texten haben spätere Übersetzer oder Bearbeiter ihr geniales Sprachgefühl bewiesen, bei anderen mussten sprachliche Schnitzer oder gar grobe Fehler nachträglich korrigiert werden. Im Laufe der Jahrhunderte wurden ganze Passagen getilgt oder hinzugefügt; bis heute werden Bibelstellen mit Blick auf die aktuellen Lebenslagen der lokalen bis globalen Anhängerschaft aus- und umgedeutet.

Ich habe solchen Ausdeutungen bis zu meinem 18. Lebensjahr oft hautnah beigewohnt, denn der Vorsteher der neuapostolischen Gemeinde meiner Heimatstadt, ein Laienprediger im Ehrenamt, wie in dieser Kirche üblich, war mein Vater. Er schnappte sich als Motto für die sonntägliche Predigt meist ein schönes Zitat (oder kriegte von höherer Stelle eins vorgeschrieben) und bezog es auf heutige Problemlagen, die er dann mit Beispielen veranschaulichte. Die Beispiele begannen meist mit den Worten „sei es, dass…“. So wurde passend zu dem schönen Satz aus der Bergpredigt „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ nach kurzer Erläuterung exemplifiziert: „Sei es, dass wir über die Unordnung im Garten unseres Mitbruders herziehen, anstatt uns um die Unordnung im eigenen Kopf zu kümmern, oder sei es, dass wir am Schuljahresende darüber tuscheln, welche Kinder aus unserer Gemeinde die schlechtesten Noten nach Hause gebracht haben, wo es doch viel wichtiger wäre, über die Herzensbildung der eigenen Kinder nachzudenken…“ Manchmal führten meine beiden Schwestern und ich Strichlisten über die „sei es, dass“-Konstruktionen unseres Vaters. Wie respektlos!, werden einige von Ihnen jetzt vielleicht sagen. Gar nicht! Dafür, dass er solche und andere Respektlosigkeiten grinsend duldete, ohne das Ruder aus der Hand zu geben, genießt unser Vater bis heute den größten Respekt. Übrigens hätten seine aus dem Leben gegriffenen Vergleiche so manches angeschafft-salbungsvolle Wort zum Sonntag in den Schatten gestellt.

Aber ich schweife ab. Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass die Bibel, jedenfalls in ihren lesenswertesten Teilen, also wenn sie nicht gerade seitenweise Stammbäume runterrasselt („und X zeugte Y, und Y zeugte Z“ und so weiter), eine reichhaltige Sammlung von tiefgründigen, im Laufe der Zeit mit vielen Auslegungsvarianten angereicherten Geschichten, Legenden und Gleichnissen ist, aus denen man bis heute schöpfen kann. Das Wort Gottes aber ist sie nicht. Und erst recht nicht verkündet sie zeitlose, „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ gültige Wahrheiten, auf die man sich verlassen kann als einem sicheren Ruhepol in unserer hektischen, alles in Frage stellenden Zeit. Eine solche Behauptung solltest du, lieber Karl, als jemand, der mit dem dialektischen Materialismus auf vertrautem Fuße steht, doch zumindest mit Stirnrunzeln quittieren. Was soll denn beispielsweise ich anfangen mit dem 10. Gebot: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Acker, Knecht, Magd, Ochsen, Esel, noch alles, was sein ist.“ Mal abgesehen von der konsequent eingenommenen Männerperspektive, die mich als Frau eigentlich gar nicht meint, ist doch der Eigentumsbegriff längst in die Krise geraten und sich anstelle von Ochs und Esel wenigstens Hund und Katze zu halten, wäre doch wohl auch kein allgemein verbindlicher Tipp. Oder muss ich jetzt laut dem von dir erwähnten Paulusbrief an die Korinther nach der berüchtigten Anweisung kuschen: „Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt“? Ich will der Bibel aber gern zugestehen, dass ihre andauernde Popularität nicht zuletzt damit zu tun hat, dass allgemein-menschlich nachvollziehbare Erfahrungen, dass die erprobten Lebensweisheiten vieler Generationen zur Sprache kommen.

2 Kommentare zu “„Und die Bibel hat doch recht!“…”

  1. Karl sagt:

    Liebe Meta, sei es, dass es gar nicht um die oberflächlichen Fakten (Ochse oder Esel) geht, sondern um die mentale Grundbeziehung, die tiefe geistig-emotionale Analogie. „Du sollst nicht gierig und neidisch auf das schauen, was dein Nachbar hat“ – das ist eine Wahrheit, die für mich tatsächlich Ewigkeitscharakter hat.

    Mit Deinem Vater, liebe Meta, würde ich gern mal reden, um zu hören, was er zu der Stelle sagt, die ich aus dem Paulus-Brief zitiert hatte. Du vertrittst einen absoluten Relativismus, dass nichts wörtlich zu nehmen ist, gerade so, wie meine alten Genossen bezüglich Rosa Luxemburg argumentierten. Das mag sein.

    Die Frage ist, ob die zugrundeliegende Tiefenbeziehung nicht immer noch klar und deutlich sein kann, so, wie ich glaube, das mit der Position der Bibel zur gleicheschlechtlichen Liebe ist, wobei hier oberflächliche Fakten und das tief Gemeinte noch näher beieinander liegen als beim Beispiel Ochse&Esel mit der Tiefenstruktur Gier und Neid.

  2. Meta sagt:

    Lieber Karl,
    ach ja, die wörtliche Bedeutung und der tiefere Sinn. Mit Fragen der Rezeptionstheorie habe ich mein halbes Berufsleben verbracht und wenn es eine Erkenntnis gibt, an der man in dem Zusammenhang nicht rütteln kann, so ist es diese: Schon die wortwörtliche Bedeutung einer Aussage ist nie komplett eindeutig. Aber die gemeinte Bedeutung, die der Rezipient verstehen soll, ist es auf keinen Fall. Indem er das „zwischen den Zeilen“ Stehende, den „Untertext“, das Unausgesprochene, das Verklausulierte, das „durch die Blume“ Gesagte – oder wie auch immer dieses Phänomen genannt wird – entschlüsselt, begibt er sich auf unsicheres Terrain und muss einen Akt der Sinngebung bewältigen, der – je nach Individuum, Zeit, Zeitgeist, Ort, Weltanschauung usw. – zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Es gibt also nicht den (einen und einzigen) Sinn eines Textes. Das festzustellen zeugt also nicht von grenzenlosem Relativismus, sondern resultiert aus dem Wesen der Sprache. Da schlägt dann die Stunde der professionellen Ausleger, der Pädagogen, Philologen, Pfarrer und Publizisten. Die entwickeln alle ihre spezifische „Déformation professionnelle“, die Philologen beispielsweise halten sich oft für bessere, weil analytisch vorgehende Schriftsteller als diejenigen, deren Texte sie gerade zu Tode reiten. Auch die Pfarrer verstehen sich oft als verhinderte Literaten, weil sie ständig mit den kleinen menschlich-allzu menschlichen Geschichten in Berührung kommen und sich ein persönliches Gedächtnisarchiv angelegt haben, aus dem sie schöpfen können. Ist es nicht erstaunlich, dass man gute Texte noch immer daran erkennt, dass sie Generationen von Auslegern locker überleben? So gesehen sind die Bücher der Bibel natürlich gute Texte. Deshalb muss man aber nicht gleich an die ewige Gültigkeit ihrer Aussagen glauben. Übrigens stammen gerade unter den Geboten und Vorschriften der Bibel viele aus einer Zeit, wo an die Bibel noch gar nicht zu denken war.

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