Diese Station meines Weges in das Leben spielt in den 2000er Jahren. Wir beide, meine Frau Cornelia und ich, befanden uns damals in den sogenannten „besten Jahren“ des Lebens, durch die gelebten Jahre ausreichend erfahren, jedoch noch nicht alt, sondern um die 50 herum. Unsere Kinder waren schon aus dem Haus, die Enkel noch nicht da, also war die Zeit und die Kraft da für einen beruflichen Neustart.
Wir arbeiteten beide als Lehrer und waren unzufrieden. Zu DDR-Zeiten waren wir zu weit vorgeprescht, hatten geglaubt, uns „einbringen“ zu sollen und zu dürfen als Teil jener Kraft, die zwar das Gute wollte, jedenfalls in Teilen, es aber nicht hat geschafft. (Ich weiß, bei Goethe ist der Reim geschmeidiger.) Wir waren Mitglieder der führenden Partei, weil wir das Leben in unserem kleinen Land mitgestalten wollten und weil wir naiv genug waren, zu glauben, dass wir es können, nach der Devise „Kinderkrankheiten gibt es überall“, meckern reicht nicht, sondern mittun, auch mitregieren ist gefragt.
Natürlich, wie immer, wenn Menschen die Initiative ergreifen, sich „engagieren“, ist die eigene Eitelkeit daran beteiligt. Es gibt, vielleicht außer verliebt sein in seiner erotischen und auch mütterlichen bzw. väterlichen Ausprägung, keine größere Triebkraft menschlichen Verhaltens, und das ist auch nicht schlimm. Hauptsache, man tut es, was Gutes, warum und wieso ist zweitrangig.
Ich hatte mich nach der „Wende“ oft gewundert, dass Menschen, die sich seit jeher in ihr Privates zurückgezogen hatten, plötzlich als politisch Unbelastete gefragt waren. „Was geht mich die Welt an! Ich mache es mir in meinem Schrebergarten gemütlich, investiere alle meine Energien in das, was mir selbst nützt. Meine Frau ist mir genug an menschlicher Beziehung.“
Sind Menschen, die so denken, wirklich geeignet, in einer Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen? Die „Heraushalter“, die immer nur an sich und ihr Eigenes gedacht haben, konnten im Verhältnis zu ihren Mitmenschen nicht viele Fehler machen, weil sie kaum Beziehungen zu ihnen hatten.
Mein Onkel zum Beispiel, der als ehemaliges NSDAP-Mitglied nach dem 2. Weltkrieg „ganz unten“ war, lange Jahre niedere körperliche Arbeiten verrichten musste, bevor er wieder als Beamter arbeiten konnte, verkündete mir bei Familienfeiern, dass er sich nie wieder in irgendeiner Hinsicht politisch engagieren würde. Das eine Mal in der NSDAP würde für dieses und die kommenden zwei Leben reichen.
Keine zehn Pferde würden ihn mehr in eine politische Partei kriegen, sagte er kopfschüttelnd, als er den Enthusiasmus bemerkte, mit dem ich als 18-, 19-Jähriger für meine kommunistischen Ideale schwärmte. Dabei war er noch nicht einmal wie viele andere inhaftiert worden.
Aber er war sozusagen zutiefst „beleidigt vom Leben“, denn er war sich keiner Schuld bewusst, hatte nichts Schlimmeres getan, als all die anderen älteren Männer, die das Glück hatten, in einer entscheidenden Zeit ihres Lebens nicht so „gläubig“ und begeisterungsfähig gewesen zu sein, wie er es mal in einer kurzen Phase seines Lebens war.
„Dumm gelaufen!“ (oder wie Sprachtrottel sagen: „Shit happens!“) Er hat sich zwar gesellschaftlich zurückgezogen, aber er hatte immer noch – bzw. wieder – einige (wenige) gute private Freunde. Immerhin!
Es gab einige, die mit dem SED-Parteiabzeichen am Revers etwas Gutes, Menschliches taten, mithalfen, dass die Welt ein wenig erträglicher und erfreulicher wurde. Diesen Typ „Kommunist“ gab es, Menschen, die, indem sie an die Lügen ihrer Partei glaubten, ihre Phrasen ernst nahmen, dazu beitrugen, dass die Lebensrealität tatsächlich etwas besser wurde, als das die Parteifunktionäre wirklich glaubten und wollten. (Das wird in allen Diktaturen so sein, und es gab zum Bespiel auch überzeugte Nazis, die mit ihrem persönlichen Verhalten die Härte des nationalsozialistischen Lebens an der einen oder anderen Stelle aufweichten.)
Cornelia und ich waren beide nicht der Typ Mensch, der äußerlich seine Überzeugungen vor sich hertrug. Ich musste mir damals in der DDR öfter Kritik aus meiner Parteigruppe anhören, dass ich so gut wie nie das Abzeichen trug. Cornelia war da in einer besseren Lage, weil die weibliche Kleidung nicht so zum Vorführen politischer Überzeugungen geeignet war.
Wir machten uns am Sonntag bei schönem Wetter zu einem Ausflug (der in Wirklichkeit eine Ausfahrt war) auf. Wir fuhren gern hinaus aus der großen Stadt Leipzig und sahen uns im Umfeld um. Wir hatten alle Vorbereitungen für den Montag erledigt und fuhren diesmal in Richtung Süden. Nach einer Stunde Fahrtzeit über die Dörfer kamen wir in einer kleinen Stadt an, die uns beide regelrecht „vom Hocker haute“, „Waldberg“ genannt.
Wir kannten sie noch nicht und waren ganz überrascht, als wir in sie hineinfuhren. Rechts ein schönes Schloss und vor allem links eine lange Reihe kleiner Häuser auf einem hohen Felsenkamm. Ich bin romantisch veranlagt und war fasziniert von diesem Anblick. Aber auch Cornelia, von etwas sachlicherer und spröderer Natur, war sofort beeindruckt. Wir stellten das Auto unten vor der Felsenwand ab und gingen eine Straße hoch in die Stadt.
Ein Teil der Häuser war bereits renoviert, der größere Teil war marode, hielt sich meistens aber noch in seiner Substanz, grau und erlöschend zwar, aber die Hoffnung einer Wiederbelebung war noch nicht ganz gewichen. Allerdings stand selbst ein großer Teil der Wohnungen in den renovierten Häusern leer.
Wir setzten unseren Rundgang fort und entdeckten einen sehr beeindruckenden, stattlichen Gebäudekomplex aus der Kaiserzeit mit großen Fenstern, backsteinumfassten Fassaden und zwei Giebeln auf den Dächern. Es wurde ursprünglich als „Fürstliches Lehrerseminar“ errichtet. Jetzt befand sich eine Privatschule mit einer Grund- und Oberschule sowie einem Gymnasium darin. Der Gebäudekomplex und das Schulgelände gefielen uns von Anfang an. Hier müsste man Lehrer sein…
Unsere reichlich vorhandene Phantasie begann zu arbeiten. Hier würden wir billig ein schönes Haus kaufen können und kämen vielleicht endgültig und endlich wo an, an einem Flecken, der Heimat werden könnte, einem Kirchturm, der uns in Zukunft Orientierung bieten und immer wieder zurückrufen würde. Ein Anfang (vom Anfang) war gemacht.
Es war inzwischen Nachmittag, zum gewohnten freudvollen Ausmalen einer vielleicht schönen Zukunft in der eigenen Phantasie hätte jetzt ein schönes Stück Torte gepasst, bei dem die Eindrücke sacken könnten und es sich gut weiterträumen ließ. Aber dieser Wunsch erwies sich als vermessen. Auf dem ganzen Markt weit und breit war nichts zu sehen. Ich nervte Cornelia mit meiner alten Idee eines Schulcafes. Sie verstand mich zunächst miss. Auch du, Cornelia, bist gefangen im Zeitgeist.
Sie dachte an ein Cafe für die Schüler, betrieben von mehr oder weniger alten Leuten, die dafür hätten extra eingestellt werden müssen. Ich dachte natürlich an ein Cafe für aber vor allem von Schülern, die es selbst betrieben, unter Anleitung ihrer Großmütter („Generationen aller Waldberger vereinigt euch!“) Kuchen und Torten nach Hausmannsart fertigten und verkauften, zusammen mit selbst geerntetem Obst, daraus gepressten Säften und Eis. Meine Frau stöhnte ob meiner überschießenden Phantasie und fing an, mir zu erklären, warum das alles sowieso nicht gehen würde.
Da blieb ich doch lieber in der Gegenwart und wollte weiter nach einer gastlichen Stätte in Waldberg suchen, wie es jetzt war. Wir entdeckten dann endlich in einer Seitenstraße eine Eisdiele mit einem eher spartanischem Angebot, keinerlei Kuchen oder Torte, immerhin einige Eissorten. Ein einziges Ehepaar war außer uns da. Aber es gab Platz genug und auch eine schöne Terrasse. Wir bestellten am Tresen Kaffee und zwei Eisbecher und setzten uns an einen Tisch mit guter Aussicht.