Meine naive Arroganz – hilft sie oder hindert sie mehr? (4. Teil von „Mein Weg ins Leben“)

Ich schrieb der Schule, die wir in Waldberg entdeckt hatten, eine E-Mail. Ich stellte uns beide vor: Zwei Oberstufenlehrer, der eine mit der Kombination Deutsch und Staatsbürgerkunde, das war ich, die andere mit der Kombination Biologie und Sport. Wegen Staatsbürgerkunde genierte ich mich. Die Wahl dieses Faches war eindeutig ein Ergebnis meiner arroganten Lebensnaivität.

Ich hatte an der Erweiterten Oberschule eine Staatsbürgerkunde-Lehrerin gehabt, die zuhören und differenziert denken konnte, die durchaus kritisch gegenüber der DDR-Realität war und die mit uns philosophierte. Meinen optimistischen Irrglauben, dass jede Gesellschaft, die sich im Aufbau befand, unter „Kinderkrankheiten“ litt, an deren Heilung ich mich beteiligen wollte, hatte ich auch ihr zu verdanken.

Ich war damals tatsächlich Marxist und bin es, ehrlich gesagt, bis heute. Die DDR-Realität kam mir wie eine tumpe, primitiv-proletarische Abart der kommunistischen Idee vor. Marx und Engels hatten eine klassenlose Gesellschaft gewollt und den Staat als Instrument der herrschenden Klasse begriffen. Demnach hätten die staatlichen Strukturen zugunsten einer Selbstverwaltung der Bürger („freie Assoziation freier Bürger“) immer mehr zurückgehen müssen. In der DDR war das Gegenteil der Fall.

Sie wollten eine Gesellschaft, in der sich die Arbeitsteilung zwischen leitenden und Gedanken formulierenden Schichten und den ausführenden praktisch Arbeitenden aufhob. Karl Marx und Friedrich Engels schrieben 1845 in der „Deutschen Ideologie“:

Im Kapitalismus sei der Mensch nur entweder oder „Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker“, „während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je ein Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker zu werden“.

Herrlich, genau das war mein Lebensideal. Es überschnitt sich mit der großen Pädagogik Anton Semjonowitsch Makarenkos, der das „Chef-vom-Dienst-System“ in seinen Jugendkommunen perfektionierte. Selbst ein Dreizehnjähriger konnte für einen ganzen Tag schon der Chef der Kommune sein, natürlich mit anderen leitenden Kommunarden und Makarenko im Rücken. Darüber konnten die DDR-Funktionäre genauso wie gebildete „Westpädagogen“ von heute nur verständnislos die Nase rümpfen. Selbst ein guter Freund von damals versteht heute nicht mehr, was er einmal mit mir zusammen vertreten hatte. Ja, die Zeit geht eben weiter. Ich bin mir treu geblieben, sowohl in Bezug auf Marx und Engels als auch in Bezug auf Makarenko. Was besser ist, diese Treue oder das Ablegen gesellschaftspolitischer bzw. pädagogischer Denkmodelle in der „Rumpelkammer“ der Geschichte, wird die Zeit zeigen.

Noch ein Gedanke von Marx und Engels ist mir so wichtig, dass ich ihn hier an dieser Stelle einfüge:

Das entscheidende Kriterium der gesellschaftlichen Entwicklung ist die Produktivität der vorhandenen Produktionsmittel. Dieses ökonomische Sein bestimmt das politische und gesellschaftliche Sein und dieses das Bewusstsein. Wenn sich die Produktionsmittel einer Gesellschaft so weit entwickelt haben, dass mehr produziert werden kann, als alle Mitglieder dieser Gesellschaft verbrauchen können, ist die Voraussetzung für die kommunistische, klassenlose Gesellschaft gegeben. Dann, wenn es zugleich kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr gibt, kann die Arbeitszeit aufgrund der hohen Produktivität immer weiter gesenkt werden, und wir kommen in den oben aus der „Deutschen Ideologie“ zitierten idealen Zustand. So lange es Privateigentum an Produktionsmitteln gibt, ist das nicht möglich, weil ein Unternehmer, der die Arbeitszeit bei gleicher Bezahlung immer weiter senkt, nicht mehr der Konkurrenz standhalten kann.

Ein Problem der Gegenwart ist die große Ungleichheit der Produktivität zwischen den unterschiedlichen Volkswirtschaften auf der Erde. In hochentwickelten wie in Deutschland, den USA, Japan und anderen, könnte, wenn mehr produziert wird als alle brauchen, mehr Nahrungsmittel, mehr Autos, mehr elektronische Geräte usw., sogar das Geld als Zahlungsmittel abgeschafft werden. Das geht nicht, solange in anderen Ländern die Menschen unterversorgt sind. Trotz dieser Widersprüche ist mir dieses gesellschaftliche Modell immer noch logischer als der Kapitalismus, in dem – im Verhältnis gesehen – immer weniger, immer reicher werden und immer mehr andere nur noch gerade so (über)leben können.

Meine unbekümmerte jugendliche Überschätzung der Kräfte, die alles gut werden lassen, zu denen ich auch mich selbst zählte (das ist die naive Arroganz, die ich meine), hält bis heute an. Umso mehr war ich vor über 20 Jahren überzeugt: Das, was die beschränkten SED-Funktionäre, die Marx und Engels nie richtig verstanden hatten, sondern auf der primitiven Stufe eines Thälmannschen /1/, proletarischen Verständnisses des Kommunismus stehen geblieben waren, wollten, würde ich besser, qualitativ viel besser können als sie.

Das Gleiche galt für die Pädagogik: In der DDR wurden zwar Äußerlichkeiten von Makarenkos Pädagogik nachgeäfft, ihr Wesen, die Verbindung jugendlicher Selbstbestimmung mit einem hohen Maß von Disziplin und Pflichtbewusstsein (nicht umsonst wurde vor 100 Jahren in der Sowjetunion gemunkelt, Makarenko sei in Wirklichkeit ein preußischer Offizier), wurde aber nie wirklich begriffen und praktiziert.

Schon zu Beginn meines Studiums hatte ich die Überzeugung, dass mir das nun endlich gelingen könnte. Ich hatte die Idee, irgendwo die Leitung eines Schulprojekts nach der Art Makarenkos zu übernehmen. Dafür wollte ich mir gute Ausgangsbedingungen verschaffen, ein Fach unterrichten, das mich zur Schulleitung prädestinierte, deswegen „Staatsbürgerkunde“, was mir nach der „Wende“ im „neuen Deutschland“ auf die Füße fiel. Hinterher ist man immer klüger. Aber dieses Fach war aus noch einem anderen Grund nicht die beste Wahl: Ich hatte erst später, im Laufe meines Lebens gemerkt, dass mich Geschichte, vor allem die der deutschen Länder im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, im Deutschen Bund und dann im Deutschen Reich noch viel mehr interessierte.

Also bot ich in meiner Mail an, Geschichte als neues 2. Fach zu unterrichten und mich um eine diesbezügliche Qualifikation zu bemühen. Wie erhofft, lud uns die Schulleitung zu einem Gespräch ein. An Biologie bestand vorläufig kein Bedarf, dafür umso mehr an Sport und Deutsch. Wir würden ins Geschäft kommen, wenn ich die Schulleitung für meine pädagogische Konzeption würde begeistern können. Ich hatte vor Jahren im Selbstverlag ein Buch herausgegeben, in dem ich sie umrissen hatte. Mit Herzklopfen übergab ich sie dem amtierenden Schuldirektor, einem Mann in unserem Alter. Ich hatte die Hoffnung, dass er gedanklich offen genug sein könnte.

 

Fußnoten

/1/ Obwohl: Thälmann scheint unter den Kommunisten ein größerer deutscher Patriot gewesen zu sein, als es die meisten anderen Funktionäre der KPD waren.

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