In diesen Zeiten, in diesem Land

Es gab natürlich schon viel schlimmere Zeiten in Deutschland, wenn ich bloß an die jahrelangen Hungersnöte nach den großen Kriegen denke (30-jähriger, 1. und 2. Weltkrieg), bei denen jedes Mal Hundertausende Menschen starben. Dagegen sind die Probleme, die wir heute haben, das reinste Paradies.

Trotzdem steht die Menschheit auch heute vor existenzgefährdenden Wegkreuzungen. Sie rauft sich sozusagen die Haare: Oh Gott, dugott, dugott, was sollen wir bloß tun, welcher Weg ist der richtige?

Entweder stoppen wir den Klimawandel oder wir gehen alle unter, auch im direkten Sinne des Wortes. Aber gibt es seit Jahrtausenden nicht einen martialischen Klimawandel auf der Erde? Gab es in Europa nicht schon subtrobische Meere und Urwälder ebenso wie Eiszeiten? Ja schon, aber jetzt gibt es an den Küsten große Städte. Und deswegen muss sich das Klima jetzt den Menschen anpassen und nicht umgedreht, sich also die Klimaänderung ändern und nicht die Art, wie und wo Menschen leben? Nun gut, vorher haben die Menschen das Klima massiv verändert. Aber gehören Kohle, Erdöl, Erdgas und Uran nicht auch zur Natur? Sind sie nicht, wie der Name z.T. schon nahelegt, „Kinder der Mutter Erde“?

Ich kann und will nicht entscheiden, wie diese Fragen beantwortet werden müssen. Das betrifft nicht mein Fachgebiet, davon weiß ich zu wenig. (Obwohl: Inzwischen habe ich dazu eine dezidiertere Meinung. Diesen Textteil hier hatte ich vor dem Beitrag geschrieben, auf den ich verlinke.)

Was haben wir noch für Wegkreuzungen wie im russischen Märchen? Der eine Weg führt in die satte Zufriedenheit, der andere zu aufregenden Abenteuern, der dritte zu Reichtum und der vierte zu einer Vertiefung des Seelenlebens. Alle hören sich gut an, aber nur einer führt wirklich weiter, einer sogar ins Verderben. Welche werden das sein?

 

Andere Scheidewege, die mir einfallen:

Entweder werden wir immer diverser, „bunter“, oder wir bleiben eingeengt grau? Dass unsere Vorfahren in Deutschland in der Gründerzeit vor dem 1. Weltkrieg oder vor der Zeit der Reichseinigung 1871 im deutschen Bund, also zur Zeit Goethes und Schillers, als es eine hohe Diversität des Lebens schon durch die vielen deutsche Kleinstaaten gab, ein monokulturelles, graues Leben führten, glaube ich nicht, zumindest die nicht, die es schafften, sich aus der Fronarbeit auf dem Land und in den Fabriken herauszuarbeiten.

Deutschland profitiert kulturell bis heute davon. Nirgendwo sonst gibt es eine so hohe Dichte von Theatern und Konzerthäusern wie hier. Da wurden bestimmt nicht fast alle Lieder mono-ton und -kulturell in einer Sprache, nämlich auf Englisch gesungen, wie das heute in Deutschland zunehmend der Fall ist.1 Von wegen Diversität. Obwohl: Es gibt natürlich Menschen, die in Deutschland mit Stolz ihre Muttersprache sprechen und keinesfalls von ihr lassen wollen, und das werden von Jahr zu Jahr mehr. Aber es sind nicht die Deutschen.

Wachstum oder Verzicht? Auch das ist so eine Wegkreuzung, die mich bewegt. Intuitiv neige ich dazu, zu glauben und zu sagen: Langsam reicht es. Aber wenn immer mehr Menschen geboren werden, muss wohl auch immer mehr produziert werden, vielleicht auch (ganz) anders und vertiefter. Es ist meiner Meinung nach nicht zu viel verlangt, den fruchtbaren Völkern zu sagen: Passt auf, wie viel Nachwuchs ihr in die Welt setzt!

Könnt ihr ihn dann überhaupt ernähren oder wollt ihr das anderen Völkern auf anderen Kontinenten überlassen? Wollt ihr Kuckucke sein? Haltet ihr das für in Ordnung? („Sagt uns nicht, wie viele Kinder wir kriegen dürfen [aber gebt uns weiter von eurem Reichtum ab, ‚den ihr nur auf unsere Kosten ansammeln konntet‘.]“) Auch hier kann ich mir kein endgültiges Urteil bilden. Auch das ist nicht mein Fachgebiet. Etwas, was die Natur im Tierreich für legitim hält (Kuckuck), hat vielleicht auch seinen Platz unter den Menschen.

Und es korrespondiert womöglich mit der dekadenten Geburtsverweigerung übersättigter Völker wie das der Deutschen. Was die einen aus gelangweilter Selbstverwirklichung heraus – es gilt nur das Jetzt und Hier und das bin ich (und ich möchte mich kreuz und quer auf jede denkbare und undenkbare Art ausleben, auch sexuell) – nicht mehr auf die Welt bringen, müssen die anderen vielleicht aus Hunger und Not zu viel zeugen und gebären. Auch so ein Scheideweg: Geburten in den Ländern stoppen, die ihren Nachwuchs nicht selbst versorgen können, oder nicht. Ich neige dazu, ja zu sagen.

 

Es gibt noch mehr Kreuzungen, wo die Entscheidung, welcher Weg der richtige ist, schwerfällt:

Darf das Tier, das der Mensch ist, andere Tiere, die nicht Menschen sind, essen? Müssen wir alle Vegetarierer oder sogar Veganer werden? Welchen Weg werden wir gehen? Das ist eine durchaus heikle Frage für mich. Wenn ich mir vorstelle, wie Tiere getötet werden, bloß damit ich meinen Appetit auf Fleisch befriedigen kann, vergeht mir derselbe. Aber gehört andererseits das Raubtierwesen nicht zu dieser Welt?

Ist es nicht „natürlich“, dass Tiere andere Tiere verzehren? Jedenfalls soll es die Ausnahme bleiben, habe ich für mich entschieden. Aber ein Mörder ist auch kein besserer Mensch, bloß weil er selten mordet. Obwohl: Für den, der dann nicht getötet wird, ist es natürlich schon ein Unterschied, und zwar ein lebensentscheidender.

Entweder begeben sich alle Länder der Welt auf den Weg der westlichen Demokratie oder sie landen in menschenverachtender Diktatur. Deswegen musste Afghanistan durch ausländische Truppen zwangsbesetzt werden, bis es endlich einsieht, dass seine eigene Art zu leben, falsch ist und die der westlichen Demokratien viel richtiger. Vom Größenwahn dieser Anmaßung sind die Westdemokraten wohl fürs erste durch die Praxis, die Realität des Lebens, geheilt.

Jedes Volk und jeder Mensch müssen selbst entscheiden dürfen, für welchen Weg an der Kreuzung es/er sich entscheidet. Sicher, es gibt universelle Menschen- und Tierrechte. Auch das kann und möchte ich hier nicht entscheiden: Was ist in unterschiedlichen Situationen wichtiger, die eigene, jahrhundertealte kulturelle Tradition oder der Anspruch individueller Lebewesen auf ein Höchstmaß an Freiheit und ungestörter Entfaltung? Interessanterweise hat eine große Mehrheit der Afghanen in einer aktuellen Umfrage, was ihnen wichtiger ist, Sicherheit oder Freiheit, geantwortet: Die Sicherheit.2

Obwohl man denken sollte, dass ich in Leipzig nicht in einem Kriegsgebiet lebe, würde ich diese Frage genauso beantworten.3 Immer wieder begegnen mir hier Menschen mit stumpfem, flackerndem Blick, aus denen der Hass spricht. Das sind Seelen, die nicht angekommen sind, die nicht dazugehören. Damit meine ich keineswegs nur Zugewanderte. Auch hier Geborene bleiben aufgrund des angesagten westlichen Lebensstils „frei flottierend“, ungebunden, nach innen, nur auf sich selbst ausgerichtet, so wie ihre Eltern es schon waren.

In den anderen westlichen Ländern gibt es ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, in Deutschland nicht; das macht diese Seelen doppelt heimatlos. Es gibt nichts Einigendes in den „deutschen Farben“. Diese sind inzwischen die des Regenbogens. Wer sozusagen „aus Versehen“ noch glaubt, es handele sich dabei um Schwarz-Rot-Gold, entpuppt sich außerhalb sportlicher Großereignisse als erzreaktionär und ruft den Inlandsgeheimdienst auf den Plan, der sich, wie bei Geheimdiensten üblich, tarnt, nämlich als „Verfassungsschutz“, obwohl er doch ein Etabliertenschutz ist.

Die alten deutschen Farben „Schwarz, Rot, Gold“ gelten für viele hier inzwischen als rechtsextrem, wenn nicht gerade eine Europa- und Weltmeisterschaft im Fußball stattfindet und/oder sie bei politischen Veranstaltungen durch die „Europa“fahne eingehegt sind, am besten im Verhältnis 2 : 1. Ohne das sind sie höchstverdächtig.4

„Deutsch“land ist die Nation des Regenbogens, weil hier die Formen der Sexualität bevorzugt werden, die nicht zu neuem Leben führen, sondern die dem rein persönlichen Genuss dienen, dem Kreisen um sich selbst, auch und gerade auf sexuellem Gebiet. Bloß keine Verpflichtung gegenüber anderen Menschen, weder in der privaten Beziehung, noch in der Zugehörigkeit zu einer großen nationalen Gemeinschaft.

In einem neuen „Lied der Deutschen“ müsste es in der ersten Strophe heißen: Ich, du mein individuelles Ich über alles. Welche Parole ist auf die Dauer lebenszerstörerischer, „Deutschland über alles“ oder „Ich über alles“? Ich glaube letztere, weil Hitler zuerst ein Rassist war, pathologischem Judenhass verfallen, und nicht Nationalist – er hatte z.B. die Kampfkraft der eigenen Armee durch die Vertreibung und Ermordung jüdischer Wissenschaftler und Offiziere massiv geschwächt (ähnlich wie Stalin aus anderen pathologischen Gründen fast das gesamte Offizierschor der roten Armee ausrottete) und Südtirol Mussolini überlassen. Ihm war der Kampf der Rassen um die Vorherrschaft in der Welt viel wichtiger als die Stärkung – oder auch nur der Erhalt – der deutschen Kulturnation.

Damit hatte er sogar gar nichts im Sinn, was schon aus der Floskel hervorgeht, dass ein „deutscher Junge“ „zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, schnell wie die Windhunde“ sein soll. Hätte er wenigstens noch gesagt „listig wie die Füchse“, aber nein, in seinem Denken war die körperliche Kraft viel wichtiger als die geistige. Damit korrespondiert auch, dass er mit der Verfolgung und Ermordung der Juden der deutschen Sprache in Mittel- und Osteuropa schwer geschadet hat.

Wer eine halbe Million Deutsche umbringt und vertreibt, oft besonders gebildete und begabte, bloß weil sie nicht wie die anderen Deutschen Christen oder Atheisten sind, sondern Juden, kann der ein deutscher Patriot sein? Natürlich nicht! Er ist nicht einmal vorrangig ein Nationalist, sondern ein beschränkter Rassist.

„Rassenkampf über alles“, haben die Nazis gewollt. Deutschland haben sie für diesen Zweck nur instrumentalisiert. Und Heinrich von Hofmannsthal hatte sein „Deutschland über alles“ nie aggressiv gemeint. Es wurde von den Nazis so umgedeutet. Sein ursprünglicher Sinn bestand darin, dass sich Menschen für die Liebe zu einem anderen oder etwas Größeres zurücknehmen können und dieses Andere an die erste Stelle rücken, so wie Verliebte zum Geliebten sagen: Du gehst mir über alles, auf jeden Fall über mich selbst, ohne dass sie damit andere Menschen oder Völker geringschätzen wollen.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg ist ein Beispiel dafür. Er hat sich für Deutschland geopfert. Sein letzter Satz, den er am 21.07.1944 bei seiner standrechtlichen Erschießung im Hof des Bendler-Blocks nach dem missglückten Attentat auf Hitler rief, lautete: „Es lebe das heilige Deutschland!“ Er lautete nicht: „Es lebe die (heilige) Demokratie!“ oder „Es lebe die (heilige) Freiheit!“.

Ein solches Zurückstellen des eigenen Lebens für etwas, was darüber steht, gilt auch – ich denke, für die meisten – Eltern oder Großeltern in der Beziehung zu ihren (Enkel)Kindern. In einer existentiellen Notsituation werden sie sagen: Du, mein Kind, gehst mir über alles. Wenn es sein muss, opfere ich mein Leben für dich.

 

Die „Nationenbildung“ wird in Deutschland rückabgewickelt

Wie widersprüchlich das westliche Denken in Bezug auf Gemeinschaftlichkeiten, insbesondere nationale, ist, geht auch daraus hervor, dass für Entwicklungsländer wie Afghanistan dringend die Nationenbildung – die hier in „Deutsch“land natürlich „Nation Building“ heißen muss – als Grundlage der Problemlösung empfohlen wird. In Deutschland wird genau sie rückabgewickelt wie 1989 und in den folgenden Jahren die staatlichen Strukturen der DDR, insbesondere mit Hilfe der „Untreuhand“.

„Regionale Fürsten“ gewinnen heute wieder an Bedeutung in Deutschland wie vor der Reichseinigung 1871, immer mehr Sprachen und Kulturen sollen gleichberechtigt nebeneinander bestehen; wenn es eine einigende Sprache und Kultur geben darf, dann natürlich nicht die historisch hier gewachsene deutsche, sondern die anglo-amerikanische Besatzungskultur und Sprache, was erstaunlich ist, weil sich Großbritannien ja gerade dem europäisch-westlichen Wertekanon mehr und mehr entzieht.

Die USA haben die kulturelle Weltherrschaft errungen, auch dank der Devotheit der Westdeutschen, und sie werden sie wieder verlieren. Das tröstet mich. China wird triumphieren und wahrscheinlich wird auch die Rolle Russlands eher zu- als abnehmen.

 

Welchen Weg schlagen wir bei der Erziehung ein – das ist ist das Gebiet, wo ich substanziell etwas beitragen kann

Bei den anderen Scheidewegen, die ich genannt habe, ist dies, wie ich schon schrieb, nicht wirklich der Fall. Aber bei diesem sehr wohl. Ob wir hier den richtigen Weg finden, entscheidet mindestens so sehr über unsere zukünftige Lebensqualität, über unseren zukünftigen Lebensstandard, wie es die darüber stehenden Entscheidungsalternativen tun.

Diese Kreuzung wird sich als unser Schicksal herausstellen, mehr noch als die anderen Scheidewege. Entweder kriegen wir die Kurve weg von der „partnerschaftlichen Begleitung“5 im Sinne von „Mach‘ du, was du willst und lass‘ mich dafür in Ruhe“ hin zu einer „richtigen Erziehung“ oder die westliche Welt geht unter wie vor 2000 Jahren das Römische Reich und das wahrscheinlich zuerst in Deutschland, weil uns im Rahmen der allgemeinen Vereinzelung auch noch die nationale Bindung fehlt.

Zu meinem Kummer sieht das kaum einer so, auch nahe Kollegen sind verstrickt in der Grundüberzeugung ihrer Zeit: Die Lösung aller Probleme bestünde in immer noch mehr Individualisierung. Wenn diese nicht auf der Grundlage von Gemeinschaftsbildung in den Familien, Kindereinrichtungen, Schulen und in der Nation erfolgt, nutzt sie nichts, sondern verschlimmert letztendlich die Probleme sogar.

 

Wir brauchen eine erzieherische Wende

So viele hat es in der bisherigen Menschheitsgeschichte nicht gegeben. Ich behaupte, es gab eine einzige „richtige“, die die grundlegenden Werte auf den Kopf stellte, und diese hatte ihren Höhepunkt in den USA und den westeuropäischen Ländern in den 60ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts:

Jahrtausende lang war über die verschiedenen Gesellschaftsordnungen klar, dass Kinder und Jugendliche auf ihre Eltern und Lehrer hören müssen, dass sie Älteren generell Respekt zu erweisen haben, zumindest in ihrer eigenen gesellschaftlichen Klasse oder Schicht. Das war eine Ordnung ihres Lebens, die allen Generationen Halt gab und die allein es schon lohnenswert erscheinen lassen konnte, älter zu werden.

Wenn es solche Ordnungen gibt, ist der Parole von einer angeblich nicht vorhandenen Zukunft („No future!“) für die Jugend, zumindest einer von mehreren Böden entzogen. Diese Jahrtausende bewährte Selbstverständlichkeit hat sich erst vor historisch kurzer Zeit geändert, angefangen mit Rousseau (1712 – 1778), der seine eigenen Kinder im Waisenhaus verkommen ließ, über die Reformpädagogen um 1900 bis hin zur studentischen Kulturrevolution in den 60ziger Jahren.

Wie so oft führte die berechtigte Ablehnung etwas Alten und Falschen – in diesem Fall der Rechtlosigkeit und Abhängigkeit Unerwachsener von Erwachsenen, die ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren – zu einer Überreaktion in die andere Richtung: die völlige Gleichstellung Unerwachsener mit Erwachsenen, aber nur hinsichtlich ihrer Rechte, denn in Bezug auf die Pflichten ist das von der Natur der Alterstufen her gar nicht möglich: Ein 12-, nicht einmal ein 14- oder 16-Jähriger kann in aller Regel nicht so zu seiner Versorgung oder gar dem Unterhalt seiner Familie beitragen, wie das ein ausgewachsener, also mindestens 21-jähriger Mensch kann.

Es geht also nicht darum, wie wir das alte System besser machen, sondern wir brauchen ein grundsätzlich neues Denken in Erziehungsfragen, einen Umbruch in der Art, wie wir die Probleme angehen.

Es/er besteht

  • zum einen in der Rückkehr zu bewährten Grundsätzen der Erziehung. Was Jahrtausende richtig war, kann nicht plötzlich und für immer falsch sein. Eine Zeitlang können Kulturrevolutionen wie die studentische 1968 in Westeuropa („Trau’ keinem über 30!“, „Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört zum Establishment“) diesen Eindruck erzeugen, aber dann regelt sich wieder ein, was zur menschlichen Natur gehört: „Wer die Verantwortung trägt, muss auch führen dürfen“, erst recht, wenn das Maß der Verantwortung so groß ist wie in der Beziehung zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern oder zwischen Lehrern und ihren Schülern. (Das allein wäre eine Rückkehr zum alten Denken, deswegen muss der folgende Punkt dazu kommen.)
  • Zum anderen muss dieses Gute vom Alten nicht nur wieder aufgegriffen, sondern auch sozusagen „spiralförmig“ auf ein höheres Niveau gehoben werden. „Boss-Sein“ bei der Erziehung (und auch sonst im Leben, wenn einer die Verantwortung für andere trägt) ist gut und nötig, es reicht aber nicht, dazu muss heute kommen, dass der, der klare Ansagen macht, der nicht nur Grenzen setzt, sondern auch führt, sich als ganzer Mensch zeigen und erweisen kann, einfühlsam, ehrlich und offen auch mit seinen eigenen Schwierigkeiten und Ängsten6, optimistisch, humorvoll und echt.

So etwas Edles, fast Heiliges, ist aber wieder angewiesen – erst recht gegenüber den urwüchsigen, noch weitgehend impulsiven Lebenstrieben von Kindern und Jugendlichen, die zumindest bei einem Teil von ihnen leicht „über die Stränge schlagen“ – auf das Erste und Alte: Der Erziehende, der „lieb“ ist, muss stark und eindeutig sein und sich durchsetzen können, sonst wird ihm sein Mitgefühl und seine Ehrlichkeit als Anbiederei und Kumpelei ausgelegt. (Ich selbst neige in der Praxis dazu, zu weich zu sein.)

Und so stark sein können einzelne Mütter, Väter, Erzieher und Lehrer wieder nicht aus sich selbst heraus (genauso wenig wie lieb sein und – vor allem – bleiben), sondern dazu brauchen sie ein mitmenschliches Beziehungsnetz, aus dem sie neue Kraft schöpfen. Das ist insbesondere die Familie7, die Gemeinschaft von

  • Frau, Mann und Kindern in der Kernfamilie, auch dann, wenn es sich nicht in jedem Fall um leibliche Eltern-Kind-Beziehungen handelt.
  • Eltern, Großeltern, eventuell noch anderen engen Verwandten und allen ihren Kindern in der Großfamilie. (Bezüglich dieses zweiten Punktes können wir Deutsche viel von Türken, Arabern, Russlanddeutschen und anderen Zugewanderten lernen.)

 

Die richtigen Fragen stellen

Wollen und können wir weiter den Weg gehen, den die westlichen Länder Endes der 60ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eingeschlagen haben, dass sich die menschliche Gemeinschaft in den Familien, Schulen und Nationen immer mehr den individuellen Besonderheiten Einzelner anpasst, dass das als der Königsweg guter Erziehung betrachtet wird, viel mehr als der umgedrehte Weg, Kinder und Jugendliche zu befähigen, über sich selbst hinauszuwachsen, ihr eigenes Ego in den Dienst von Aufgaben zu stellen, deren Bewältigung zuerst der ganzen Gemeinschaft, in der sie leben, und dann auch ihnen selbst dient, gefällt und nutzt?

Wo ist das Primat? Soll und muss es dabei bleiben, dass die persönliche, individuelle Lust, etwas zu tun, primär sein muss, bevor eine Tätigkeit in Gang kommen kann. Oder muss die Pflicht primär sein?8 Kann eine Gemeinschaft etwas verlangen, worauf die Kinder – noch – keine Lust haben und darauf vertrauen, dass sie beim Tun kommt, so wie der Appetit beim Essen? Die sachliche, „preußische“ Pflicht zur Übernahme von Aufgaben in der Gemeinschaft, die das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkt, oder die „natürliche“, emotionale Begierde etwas zu tun, worauf einer gerade selbst Lust hat – was ist primär für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen? (Ich bin darauf schon ausführlich in meinem Beitrag „Die Grundfrage der Erziehung“ eingegangen.)

Hier zeigt sich wieder die Notwendigkeit eines paradigmatischen Wechsels der gesamten Erziehungsphilosophie. Mit ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger vom Üblichen ist es nicht getan. Es geht um ein grundsätzliches Umdenken bei der Erziehung, um die vorurteilslose Klärung von Fragen wie:

Sind für das Herstellen von gemeinschaftlichen Ordnungen, die es den Kindern und Jugendlichen ermöglichen, Verantwortung für ihr eigenes Handeln zu übernehmen und dadurch um ein Vielfaches leistungsbereiter und –fähiger zu werden, als sie es jetzt in der Regel sind, wirklich immer noch mehr Erwachsene nötig? „Nett“ gesagt: Pädagogen und Psychologen, „böse“ gesagt: Kindermädchen, Nannys und Aufpasser.

Ihre Steigerungsform bei uns heute sind „Heil-“ und/oder Sonderpädagogen. Das ist die falsche Logik von Grund auf, sich einer gestörten Realität anzupassen und – ich behaupte – ihr Gestörtsein mehr gegenüber der Möglichkeit seiner Normalisierung zu verteidigen, als es tatsächlich zu bessern. Meine eigene gesamte pädagogische Erfahrung lehrt mich, dass die beste Heilung von Sonderfällen darin besteht, sie immer als so „normal“ zu betrachten, wie das nur möglich ist. Das geht aber nur, wenn die „normale“ Erziehung in sicheren und festen Strukturen stattfindet, wenn die Erziehenden eine starke Position und Rückhalt in der Gesellschaft haben, wenn sie ein gutes Verhalten durch Umgangsformen und Rituale einüben dürfen und sollen und ein schädliches bestrafen, bevor es sich etablieren konnte.

Kann es sein, dass dieses heutige Umstelltsein der Kinder und Jugendlichen von einer ganzen Armada pädagogischer, psychologischer und hauswirtschaftlicher Hilfskräfte, die angeblich immer noch nicht reichen würden, letztendlich gerade zu den Erziehungsproblemen der Gegenwart beiträgt?

Das Erste, was SEFIKA GARIBOVIC aus der Schweiz macht, wenn sie zu schwierigen Kindern und Jugendlichen gerufen wird, ist das Wirrwarr der umschlingenden pädagogischen und psychologischen Hilfen und Begleitungen sofort zu kappen und den Eltern ihre Macht zurückzugeben, im doppelten Sinne, weil sie jetzt nicht nur von den Reinrednern befreit sind, sondern auch lernen, die eigene Kraft selbst und bewusst, gern und gekonnt für die Erziehung ihrer Kinder zu nutzen. Zu viele wollen am Leid der Kinder und ihrer Eltern verdienen und so pflegen sie – sicher nicht (alle) bewusst, aber durchaus wirksam – die Probleme, um weiter einen sicheren Platz im Leben der Familie zu behalten.

 

Der Kampf der Systeme wird durch die Qualität der Erziehung entschieden

Unsere Eliten sehen das auch so. Deswegen reden sie ständig davon, dass durch „Digitalisierung“ und „Individualisierung“ die Qualität der Bildung gehoben werden muss. Individualisierung und auch die Digitalisierung in der Schule machen aber alles noch schlimmer, wenn sie nicht den konkreten Mensch-Mensch-Beziehungen untergeordnet sind, insbesondere der Beziehung zwischen dem „Boss“ Lehrer und seinen „Mitarbeitern“, den Schülern, und auch zwischen den Schülern selbst.

Wie sollen denn Menschen ihr Eigenes entwickeln, wenn sie sich in der Schule nicht in ein Kollektiv unter Führung ihrer Lehrer einerseits integrieren mussten und andererseits lernen konnten, sich gegen diese „Einhegung“ zu behaupten und in ihr zu profilieren, von Schuljahr zu Schuljahr ein bisschen mehr?

In diesem sozialen Kontext, aber nur in diesem, sind alle Lernmittel von Bedeutung, die einfache Kreidetafel, über die Lehrbücher und Schulhefte bis zur digitalen Tafel und den Laptop. Es bleiben reine Hilfsmittel, so wie es für den Sportler seine Sportgeräte sind. Das Entscheidende bleibt die Person und seine Beziehung zu anderen Personen, insbesondere dem Trainer und den „Sportskameraden“.

Auch der Lehrermangel wird sich nicht wirklich beheben lassen, solange die pädagogische Grundordnung in Deutschland „kopfsteht“. Alle anderen Maßnahmen sind nachgeordnet bzw. sowieso nur kosmetischer Natur.

 

Ich erinnere mich noch an die 60ziger, 70ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts

Es war 1961. Der erste Sputnik und der erste Mensch im All waren Sensationen. Ich lebte auf der richtigen Seite der Welt und war sicher, dass ich in 20 Jahren auf dem Mond wandeln würde und hatte mit meinem besten Freund eine entsprechende Wette abgeschlossen.

Es ging aufwärts und konnte immer nur noch besser werden. Mein Onkel „aus dem Westen“ besuchte uns. Er war einfacher Arbeiter und kam mit seinem Leut an. Wir hatten einen Trabant, damals noch einen 500er. Er staunte: Und der hat einen Rückwärtsgang? Es sah noch gut aus für die DDR. Wir waren Teil des richtigen Systems, konnte man noch denken. Und meine Eltern dachten es. Ich dachte das auch, obwohl ich als Jugendlicher zunehmend kritisch gegenüber dem „real existierenden Sozialismus“ wurde, den Marxschen Grundideen aber treu blieb. (Wenn ich mich nicht in Bezug auf mich selbst verschätze, weil ich mir zu nah bin, dann gilt das bis heute. Marx- und „Populisten“-Hasser, bitte vor dem Verurteilen erst einmal genau lesen – und nicht nur die Überschriften! -, was Sie verurteilen.)

Heute gibt es wieder einen Kampf der Systeme. Die große „Sowjetunion“ ist als Russland nicht mehr der Hauptgegenspieler des „Westens“. Aber China ist ein ernsthafter Konkurrent für ihn geworden. Das chinesische Modell präsentiert ein gänzlich anderes Modell des Wirtschaftens und Lebens als der „Westen“. Privateigentum an Produktionsmitteln, also Kapitalismus, gibt es zwar in beiden Systemen. In China sind der höchste Wert aber die Gemeinschaft und ihr Wohlergehen als Nation und Familie.

In Deutschland ist der höchste Wert das Individuum und sein Wohlergehen. Gemeinschaft existiert bei uns im Gegensatz zu den USA, Großbritannien, Frankreich und den meisten anderen kapitalistischen Ländern nicht als Nation, sondern – auf dieser politischen Ebene – nur als multilaterales Konstrukt, vor allem als „Europa“.

Der „Westen“ ist also nicht einheitlich. Deutschland schert aus, aber ist sich mit den anderen westlichen Staaten einig, dass der Endzweck aller Staatlichkeit, das Wichtigste und Größte die Förderung der Entfaltung des Individuums mit seinen ganz persönlichen Ambitionen ist. In China ist es umgedreht: Da ist der Endzweck die Stärkung der Gemeinschaft, vor allem als Familie und Nation. Der Einzelne dient diesem Zweck und darf und soll dafür zur Geltung kommen, seine Potenzen und Fähigkeiten darf und soll er für die chinesische Nation und – erst damit und dadurch auch – für sich selbst entfalten.

Die überhebliche Orientierung auf sich selbst und – höchstens noch – auf die eigenen Kinder (die dann allerdings in Ermangelung anderer Gemeinschaftsbezüge auch besonders stark sein kann), dieses sich selbst übersteigernde Anspruchsdenken des westlichen Individualismus wurde mir wieder bewusst, als ich von der deutschen Mutter eines behindertes Kindes vor kurzem (Juni 2021) im Deutschlandfunk hörte: „Meine Tochter ist bereit für die Welt, aber ist diese auch bereit für meine Tochter?“

Für das, was die deutsche Gesellschaft ausgibt, damit sich Einzelne hier mit all ihren Sonderansprüchen voll entfalten können, könnten jeweils Hunderte Kinder in der „Dritten Welt“ gut und voll versorgt werden. Natürlich haben Kranke und/oder Behinderte ein Recht auf besondere Aufwendungen der Gemeinschaften, in denen sie leben, also in erster Linie ihrer Familien und Staaten.

Aber diese besonderen Leistungen müssen sich doch noch in einem Bereich der Verhältnismäßigkeit befinden, so wie das immer im gesellschaftlichen Leben ist, z.B. auch bei polizeilichen oder militärischen Einsätzen. Wenn sich gefährliche Terroristen zum Beispiel in einem Haus verschanzt haben, in dem sich viele andere Menschen befinden, kann dieses nicht einfach gesprengt werden, auch dann nicht, wenn sie in diesem Haus weiter unschuldige Menschen gefährden, die sich in ihrer Macht befinden.

Ein solches absolutes Anspruchsdenken greift aber in Deutschland um sich, wenn es um die angeblichen Rechte einzelner Benachteiligter geht. Immer, auch hier, ist eine Abwägung zwischen den Rechten und Ansprüchen aller beteiligten Menschen nötig.

Welches Denken ist das richtige, weiterführende? Das selbstverständliche Anspruchsdenken einzelner hier lebender Menschen an den deutschen Staat oder das Anspruchsdenken eines Staates, einer Nation wie der chinesischen daran, was die Einzelnen, die in ihr leben und von ihr profitieren wollen, zu tun und zu leisten haben?

Welches System wird sich als das bessere erweisen, das gemeinschaftsorientierte chinesische oder das individuumfokussierte westliche, das in Deutschland, wo die Bindungs- und Beziehungslosigkeit auch noch in nationaler Hinsicht existiert, ganz besonders vertreten wird? Welches wird seinen Bürgern ein schöneres, längeres und gesünderes Leben ermöglichen?

Und das ist doch die einzig entscheidende Frage: Die Qualität des Lebens und nicht, ob der Lebenslauf individualisiert und angeblich damit „demokratisch“ oder ob er kollektiviert ist. (Alles andere ist Bla-Bla.)

 

Fußnoten

1 Machen Sie einmal unvoreingenommen den Test: Gehen Sie im Radio alle Sender durch. Ich mache das zum Beispiel gern, wenn ich in Berlin bin. Auf fast jedem Sender höre ich englischsprachige Musik, es sei denn, es ist der türkische Sender (Radio Metropol), auf dem nicht ein Lied auf Englisch zu hören ist (auf Deutsch natürlich auch nicht, schließlich steht der Sender ja nicht in Ankara, sondern in Berlin), oder der französische oder der russische. Ich höre diese Sender gern, weil ich dann endlich einmal der englischsprachigen „Meterware“, die mir in den „deutschen“ Programmen unentwegt um die Ohren gehauen wird, entkommen kann. (Höchstens bei Radio Teddy, einem Programm für Familien und Kinder, gilt die Dominanz des Englischen im deutschen Rundfunk nicht ganz so.) Bei der Werbung ist es auch so: Wie wirbt Siemens in Frankreich? Natürlich auf Französisch. Wie in Spanien? Natürlich auf Spanisch. Wie in Russland? Natürlich auf Russisch. Wie in Deutschland? Natürlich auf Englisch!
2 Das habe ich Anfang Juli 2021 gelesen. Leider finde ich nicht mehr, wo es stand, auch nicht im Nachhinein über Google. Ich kann diese Antwort jedenfalls gut nachvollziehen. Ich hätte mich sehr gewundert, wenn sie anders ausgefallen wäre.
3 Der höchste Wert im Leben ist nicht die Freiheit (wie das z. B. Joachim Gauck behauptet), sondern die Liebe, die spürbar erlebte Liebe, jedenfalls für Kinder. Haben nicht die rapide zunehmenden psychischen Erkrankungen der Gegenwart, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, alle den gleichen Kern: Ein Gefangen-Sein in sich, die Unfähigkeit, der Welt zu vertrauen und sich für sie zu öffnen – mit einem beginnenden Bewusstsein der eigenen Konturen? Dieses Selbstbewusstsein kann aber nur in der liebevollen Wechselwirkung mit den klaren Konturen elterlicher Bezugspersonen entstehen.
4 Legendär bleibt die Szene, in der Angela Merkel am Abend der Bundestagswahl 2013 ihrem feiernden damaligen Generalsekretär Herman Gröhe die deutsche Fahne aus der Hand nimmt und hinter der Bühne entsorgt.  Peter Tauber, ein Nachfolger von Herman Gröhe als Generalsekretär der CDU, behauptet später, sie wollte die hochgeehrte Fahne nur dem Volk zurückgeben. Interessant – Nr. 1: Das Volk hat sich also hinter der Bühne versteckt. Nr. 2: So ist der Gesichtsausdruck (von Frau Merkel), wenn sie etwas hochverehrenswert findet. (Leider ist die Internetseite von Herrn Tauber nicht mehr online, so dass eine Verlinkung nicht möglich ist.)
5 MICHAEL WINTERHOFF hat weiterhin recht, wenn er sie in allen seinen Büchern als erste und beginnende Störung der Beziehung zwischen Eltern und Kindern beschreibt. Das gilt unabhängig davon, ob bzw. inwieweit sich die Kritik an seiner therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in seiner Bonner Praxis bewahrheiten wird.
6 Sicherlich haben auch schon erzieherische Autoritäten und Patriarchen früherer Zeiten von sich behauptet, dass sie „streng und gerecht“ wären, also auch menschlich sein könnten. Der entscheidende Unterschied zur neuen und höheren erzieherischen Führungsqualität, die ich meine, ist, dass sie kaum ihre eigenen Ängste und ihr eigenes Versagen den Kindern und Jugendlichen gegenüber zugeben konnten, für die sie verantwortlich waren. Das ist auch heute erst dann sinnvoll, wenn ein Erzieher zugleich zeigen und beweisen kann, dass er stark ist, wenn es darauf ankommt, dass er in der Lage ist, die, für die er verantwortlich ist, dann ruhig, bedacht und entschlossen zu führen. Ist das so, gehört auch diese offene, weiche Seite zur ganzen Menschlichkeit eines Pädagogen.
7 Die gedankliche Assoziation zur Mafia und der Filmreihe „Der Pate“ beweist, dass gute und richtige Formen des Zusammenlebens in einer Familie, ihres Zusammenhalts, ihrer klaren Hierarchie und der gepflegten Rituale wie immer auch für falsche Inhalte und Werte missbraucht werden können. Deswegen ist die Form selbst so wenig falsch wie die Worte einer Sprache es sind, aus denen ebenso gute wie böse Texte formuliert werden können.
8 BERNHARD BUEB hatte sich dieses Themas schon 2006 mit seinem Buch „Lob der Disziplin. Eine Streitschrift“ angenommen und dann 2008 in Zusammen mit der Führung: „Von der Pflicht zu führen. Neun Gebote der Bildung“. Aktuell (2021) greift RICHARD DAVID PRECHT dieses Thema wieder auf: „Von der Pflicht. Eine Betrachtung“. Er schreibt dort: „Nur wenn das marktwirtschaftliche ‚Individualprinzip‘ des persönlichen Vorteilsstrebens durch ein durchdachtes ‚Sozial- und Humanitätsprinzip‘ ausgeglichen wird, können freiheitliche Staaten gelingen“. Er plädiert dabei für ein „soziales Pflichtjahr“ einerseits für „alle jungen Menschen nach dem Schulabgang“ und andererseits für „alle Menschen im Renteneintrittsalter“ (bei ihnen nur 15 Stunden in der Woche).

4 Kommentare zu “In diesen Zeiten, in diesem Land”

  1. Ununpentium sagt:

    Karl, ich möchte auf Ihre Passage „Der Kampf der Systeme, wird durch die Qualität der Erziehung entschieden“ eingehen. Unser Bildungssystem vermittelt den Eindruck, als wäre die Digitalisierung die Lösung auf alle Bildungs-und Erziehungsfragen. Mal etwas „reaktionär“ formuliert, hatten wir in der DDR den Polylux für den Dia-Vortrag und jede Menge Wandtafeln für die visuelle Darbietung. Eine gemeinsame Schulordnung bis zur 10.Klasse und Lehrer gaben in ihrer Freizeit Nachhilfe. Das klingt schon ähnlich wie beim digitalen Vorzeigeland Estland. Auf Estland wird ja gerne von deutscher Seite aus geblickt. Man verspricht sich die digitale Bildungslösung von Kindern, die ohnehin mit sämtlicher Computertechnik vertraut sind und als Folge ihr Vertrauen den Augenärzten und Optikern schenken…

    Das in der Pisastudie gut abschneidende Estland, verstrickt sich in Widersprüche, denn die „Pisakinder“ wandern ab. Was bleibt, ist eine hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Geburtenrate, Integrationsprobleme mit Minderheiten. Ja, und dann gibt es dort noch den bekannten, ausgeprägten, generationsübergreifenden Individualismus mit einem Schulsystem, das durchaus Züge von Gemeinschaftlichkeit aufweist. Könnte es eine altgediente Lehrerschaft sein, die noch Autorität besitzt und die die Individualkinder sprichwörtlich zusammenhält? So wie in der DDR-Pädagogik, mit der Voraussetzung, dass es ein Umfeld gibt, dass das alles mitträgt? Das wird jedenfalls in Estland gemunkelt.

    Derartige Munkeleien findet man auch im nördlichen Nachbarland Finnland, dem einstigen „Pisaprimus“. Die gute Pisastudie kam hier wohl erst zum Erliegen, als sich die guten, alten Lehrerautoritäten ausdünnten und man sich in Finnland dem Zeitgeist der Individualpädagogik angeschlossen hat. In dem Erziehungsexperiment „Projekt Follow Through“ aus den U.S.A. folgte man der sogenannten „Direkte Instruktion“. Dabei gelang es, benachteiligte Schüler nach den Techniken von Jacob S. Kounin deutlich zu fördern. Signifikant sind hier klassische Unterrichtsmethoden, die eine Lehrerautorität, mit allem was dazu gehört, beinhalten. Dem Projekt schenkte man weiterhin keine Aufmerksamkeit, obwohl sich die Ergebnisse stark verbesserten. Die Individualpädagogik übernahm wieder das Ruder mit schlechteren Ergebnissen. Diese Studie bildet also erste Indizien dahingehend ab, dass mit freiheitlichen, individualistischen Methoden etwas nicht stimmt. Ja, Deutschland ist an einem Scheideweg angekommen. An dessen Gabelung steht ein altes Schild, mit der Aufschrift: „Wer das eine will, muss das andere mögen“.

    1. Karl sagt:

      Liebes Ununpentium,

      ich danke Ihnen für Ihren interessanten Kommentar.

      Vertiefen Sie dieses Thema doch einmal in einem eigenen Beitrag.

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