Die Zeiten sind vorbei, da man Menschen in ein binäres Mann-Frau-Raster zwängte und nur eine sexuelle Orientierung als „normal“ bzw. „natürlich“ gelten ließ, die heterosexuelle:
Frauen hatten Männer zu lieben und umgekehrt, nur so konnten sie sich fortpflanzen und für den Erhalt der menschlichen Rasse sorgen. Laut aktuellen Statistiken (veröffentlicht z.B. in Portal Statista) bezeichnen sich in Deutschland etwa 73 Prozent der Frauen und etwa 80 Prozent der Männer als ausschließlich heterosexuell. Der „Rest“, eine Minderheit von immerhin 20 Prozent und mehr, tickt auf unterschiedliche Weise ein bisschen oder ganz anders und wird derzeit mit der Formel LGBTQIA* erfasst. Die Buchstaben stehen für die Begriffe: lesbisch, schwul, bisexuell, transgender/transsexuell, quer/fragend, intersexuell und asexuell (bis auf schwul = englisch: gay gelten diese Wörter als Internationalismen, werden also in vielen Sprachen genauso oder ähnlich gebraucht). Das * dient als Platzhalter für weitere Geschlechtsidentitäten, die es außer den 7 Kategorien – genauer gesagt sind das 7 Sammelbegriffe – noch geben könnte. Immerhin gehen die zuständigen Humanwissenschaften (Medizin, Psychologie, Soziologie und die zugehörigen Bindestrich-Disziplinen) in jüngster Zeit von bis zu 80 Varianten geschlechtlicher Identifikation aus.
Soweit das Statistische, das zwar nicht unwesentlich, aber in mancherlei Hinsicht irreführend ist, wenn es um das Menschliche geht.
Jeder möge nach seiner Fasson selig werden, wünschte sich schon Friedrich II, der „Alte Fritz“. Der Satz ist im Zusammenhang mit Friedrichs Reformvorschlägen für ein modernes Staatswesen belegt; ein Kernbegriff seiner Überlegungen lautet Toleranz. Ob er dabei speziell auch an die sexuellen Vorlieben seiner Untertanen gedacht hat, ist eher unwahrscheinlich. Seine eigenen Vorlieben wird er aber wohl nicht ganz aus den staatsmännischen Reflexionen herausgehalten haben können: Der vielleicht intelligenteste Monarch der letzten Jahrhunderte war stockschwul. Das war unter seinen Biografen ein offenes, aber in der Öffentlichkeit nicht breitgetretenes Geheimnis. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts machten Historiker Friedrichs Homosexualität öffentlich zum Thema. Das Aufsehen, das sie damit erregten, hielt sich in Grenzen, denn mittlerweile konnte man „über so etwas“ reden.
Die Tatsache, dass der Mensch als Geschlechtswesen spezifische Bedürfnisse hat und diese auch befriedigen will, wurde zunehmend sachlich zur Kenntnis genommen. Das Geschlechtliche ließ sich nicht mehr ohne Weiteres in die Tabuzone bzw. Schmuddelecke verbannen oder als Sünde deklarieren. Eine Folge dieser Entwicklung, die man bald mit dem Begriff der sexuellen Befreiung umschrieb, war die zunehmende Sexualisierung aller Lebensbereiche als Reaktion auf die Verteufelung der Fleischeslust in vergangenen Jahrhunderten. Kunst und Literatur verhandelten die Liebe zwischen Mann und Frau nicht mehr nur in romantisch verklärten Andeutungen, sondern die Beschreibung des Geschlechtsaktes und der hemmungslosen Extase wurde salonfähig. Die aufblühende Pornoindustrie sekundierte den Trend auf ihre Weise. Die Reklameindustrie erkannte sehr schnell, dass sich der Kaufanreiz für viele Produkte enorm steigern ließ, wenn sie mit einem sexuell reizvollen Drumherum assoziiert wurden.
Zunächst unangetastet blieb der Bezug auf eine heterosexuelle Norm und das Ideal einer lebenslangen monogamen Partnerschaft, deren Sinn nicht zuletzt darin bestand, sich in ihrem Nachwuchs zu verewigen. Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg war noch einige Jahre lang von diesem Konservatismus geprägt, aber mit wachsendem Wohlstand und wachsenden Möglichkeiten der individuellen Entfaltung verlor das Ideal seinen Reiz und die Norm wurde als allgemeingültige Regel in Frage gestellt. Anfangs gehörte für den Einzelnen eine gehörige Portion Mut dazu, dem traditionellen, auf moralische und religiöse Gebote gegründeten Beziehungsideal den Rücken zu kehren. Vermutlich noch mehr Mut brauchte es, sich als jemand zu outen, der die heterosexuelle Norm nicht mit Leben erfüllen konnte oder wollte. Homosexualität, die häufigste „Abweichung“ von der Norm – ich nenne es lieber eine Laune der Natur – wurde lange Zeit als Straftat eingestuft oder auch als Krankheit, die man dem oder der Betroffenen mit drastischen Maßnahmen, z.B. Elektroschocks, austreiben wollte. Vergleiche mit der Tierwelt, die viele Spielarten von Sexualität kennt, galten da noch als schwer deplatziert. Dabei stuften unvoreingenommene Zoologen diese Spielarten angesichts ihrer Häufigkeit mittlerweile nicht mehr als pathologisch ein, sondern fragten nach Sinn und Zweck solcher Betätigung. Sie diene, so die Wissenschaftler, dem Lustgewinn, der Befriedigung des Spieltriebs, der Entspannung und der Entschärfung von Konflikten und sei somit wichtig für die Gesundheit und den sozialen Zusammenhalt. Offenbar sei der Sexualtrieb bei vielen Tierarten keineswegs nur auf die Zeugung von Nachkommen gerichtet.
Das sahen die Protagonisten der „sexuellen Revolution“ auch so. Der folgenlose Lustgewinn wurde geradezu als eigentlicher Zweck von sexuellen Aktivitäten proklamiert. Dem trugen die zahlreicher werdenden Verhütungsmethoden Rechnung und mit der Erfindung der „Pille“ schien diese Rechnung auch wunderbar aufzugehen. Homosexuelle Paare hatten das Problem erst gar nicht, dafür aber ein anderes: Was tun, wenn sie ihre Partnerschaft mit einem Kind besiegeln wollten? Mittlerweile hat sich die Gesetzgebung auf solche Wünsche eingestellt. Neben der Adoption gibt es für lesbische Paare auch die Möglichkeit, per anonymer Samenspende zu einem Kind zu kommen. (In einigen Ländern ist es darüber hinaus schwulen Paaren erlaubt, eine Leihmutter in Anspruch zu nehmen.) In meinem Bekanntenkreis haben sich drei herzlich befreundete Menschen ihren Kinderwunsch erfüllt, indem die an Sex nicht interessierte Frau sich mit dem Samen ihre beiden schwulen, miteinander verheirateten Freunde befruchten ließ und sie nun zu dritt das Sorgerecht für den inzwischen schulpflichtigen Knaben ausüben. Natürlich kann man die Qualität einer (Paar-)beziehung nicht nur an dem Wunsch messen, Verantwortung für ein Kind/Kinder zu übernehmen, aber auffällig ist schon, dass die traditionelle Kleinfamilie, die mit der Einkind-Ehe ihre Minimalvariante erreicht hat, in der Gegenwart von anderen Modellen Konkurrenz bekommt.
Vor einigen Jahren, als mir das Wort „queer“(quer) als Bezeichnung für eine andere Spielart von Sexualität noch unbekannt war, traf ich seine Bedeutung in einer konkreten Situation instinktiv mit dem Satz: „Ich glaube, der orientiert sich querbeet.“ Der Satz fiel während einer Konsultation, um die mich Jana, eine Studentin der Medienwissenschaft, gebeten hatte. Als Masterarbeit sollte sie eine Vorabendserie ihrer Wahl analysieren und ihr Betreuer gab ihr den Tip, „das Ganze auch mal textlinguistisch durchchecken zu lassen“. Ich war nicht gerade begeistert, als sie zu mir kam, zumal mir die von ihr gewählte Serie komplett unbekannt war. Ich musste mir „Doctors Diary“ erst besorgen und war dann doch positiv überrascht von der Qualität der Dialoge und dem subversiven Humor, mit dem sozialkritische Akzente gesetzt wurden. Für Jana waren das aber offenbar nicht die Hauptgründe gewesen, gerade diese Serie zu wählen, sondern ihr hatte es der Hauptdarsteller Florian David Fitz angetan. Der junge Mann war wirklich bildschön und obendrein ein begnadeter Schauspieler. “Aber über seinen Beziehungsstatus schweigt er sich aus”, sagte Jana vorwurfsvoll. Ich antwortete mit dem vorhin zitierter Satz, was ihr überhaupt nicht gefiel. “Wenn das stimmt, hat die Natur ihre besten Gaben mal wieder an einen ungeeigneten Empfänger verschwendet”, sagte sie. Mit dieser Meinung war sie nicht allein, wie ich nach einem Blick in die sozialen Medien feststellen konnte. Neben den üblichen “Florian, ich liebe dich”-Kommentaren behauptete sich die Aufforderung, seinen zahlreichen weiblichen und männlichen Bewunderern endlich mitzuteilen, was Sache ist. Aber Florian tat ihnen den Gefallen nicht. Wenn man ihm in Talkshows mit Fragen in dieser Richtung zu nahe kam, gab er meist in fröhlicher Offenheit randständige Details zum Besten, aus denen sich keine schlüssige Antwort zusammenbasteln ließ. Die Souveränität, mit der Fitz sich einer Reduzierung seiner Person auf Kriterien der Fleischeslust entzog, nötigte mir Respekt ab.
Eigentlich war es ja begrüßenswert und überfällig, jene Menschen ins rechte Licht zu rücken, die nicht zu den 80 Prozent sexuellen „Normalos“ zählten, aber die mediale Aufmerksamkeit, die man ihnen seit 20-30 Jahren schenkte, z.B. in Dokumentationen, Vorabendserien, Filmen und Theaterstücken, hatte nicht selten etwas Bemühtes, Voyeuristisches. Mittlerweile gehört es zum guten Ton jeder Seifenoper, sich ein schwules oder lesbisches Pärchen zu leisten, und es ist absehbar, dass bald die ganze LGBTQIA*-Palette abgedeckt wird. Mit diskret und unspektakulär angelegten Beispielen gingen „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ voran. So agiert im Berliner „Tatort“ schon länger der queere Kommissar Robert Karow (Mark Waschke) und neuerdings hat auch der „Polizeiruf 110“ aus Frankfurt/Oder einen queeren Ermittler namens Vincent Ross (gespielt von André Katczmarczyk, der sich selbst als „gender-fluid“ bezeichnet). Die jüngste „Polizeiruf“-Folge mit dem Titel „Daniel A.“ erzählt die Geschichte eines „Transmanns“, der zu Unrecht des Mordes verdächtigt wird. In der Rolle der Hauptfigur ist ein tatsächlich transsexueller Schauspieler zu sehen.
„Schon wieder ’ne Transe“, stöhnen die einen. „Endlich geht es mal um uns“, triumphieren die anderen. Der Vorwurf, man übertreibe es mit der Aufmerksamkeit für eine Minderheit und bagatellisiere auf diese Weise ihre tatsächlichen Konflikte, ist nicht ganz unbegründet. Als Begleitmusik stolpert die Diskussion um eine gendergerechte Sprache von einem absurden Höhepunkt zum nächsten (siehe dazu meine Beiträge „Gendern (1) bis (3)“ und „Wer für eine gendersensible Sprache ist, kann nicht für Gendersternchen und Co. sein“).
Kommen wir noch einmal auf Florian David Fitz zurück. Der überraschte die Öffentlichkeit vor gut zwei Jahren mit der Information, Vater von Zwillingen geworden zu sein. Es sickerte durch, dass die beiden Knaben in Amerika/Bundesstaat Iowa zur Welt gekommen waren, ausgetragen von einer Leihmutter. Fitz zog in ein familiengerechtes Quartier am Münchner Stadtrand um, ganz in der Nähe seines Elternhauses, und trat beruflich etwas kürzer. Was die Auskunft über seinen neuen Status als alleinerziehender Vater betrifft, so ließ er sich bisher lediglich den Satz entlocken: „Es ist das Beste, was mir je passiert ist.“ Auch bei der Frage nach seiner sexuellen Orientierung blieb er weiterhin wortkarg. Aber immerhin ließ er kürzlich verlauten, er teile die Liebe nicht in Schwarz und Weiß ein, er respektiere die vielen Grauschattierungen. Das Begehren anderer Personen sei für ihn kein „lebenslang unveränderlicher Block“. Seine innere Stimme sage ihm: „Beweg Dich, spiele, finde Sachen raus, bleib weich – wir sind alle Menschen.“ In diesem Sinne habe er in seinem Leben „kaum etwas ausgelassen“.
Vor wenigen Wochen hatte sein Film „Oskars Kleid“ Premiere, zu dem er das Drehbuch schrieb und die Hauptrolle spielte: einen Vater, dessen kleiner Sohn Oskar nur noch Kleider tragen will und sich Lili nennt. Fitz gehe in seinem Skript „für eine Mainstreamkomödie erstaunlich ehrlich vor“, lobte die Kritik. Mit dem Begriff „Mainstreamkomödie“ wird aber auch auf eine Problematik hingewiesen:
Genderfragen sind derzeit „in“; wer sich darauf allzu sehr fokussiert, muss mit schwer kalkulierbaren Nebenwirkungen rechnen. Spielt nicht die weitere Ausdifferenzierung der Sicht auf Geschlechtsidentitäten auch einer übertriebenen Individualisierung in die Hände, der Illusion, jeder Einzelne sei etwas ganz Besonderes und habe deshalb ganz besondere Wertschätzung verdient? Fördert ein solches Vorgehen nicht den ohnehin schon ins Kraut schießenden Egoismus unserer Zeit?
Ohne Zweifel gehört es zu einem humanen Umgang miteinander, dem Mitmenschen das Recht auf ein Leben im Einklang mit seiner jeweiligen geschlechtlichen Orientierung zuzugestehen (solange dadurch nicht das Menschenrecht des Gegenübers verletzt wird, wie z.B. im Falle von pädophilen Handlungen). Niemand kann sich seine sexuellen Präferenzen nach Belieben aussuchen, aber es ist durchaus nicht müßig, sich die Frage zu stellen, inwiefern Erziehung, Gruppennormen und auch Moden für die eigenen Sexualpraktiken mit verantwortlich sind. Man denke nur an die normierenden Vorstellungen von einer erfüllten Sexualität, wie sie von den Medien vermittelt und dem Einzelnen quasi eingeredet werden. Die Begriffe „Menschenrecht“ und „Mode“ im Titel dieses Beitrags sind durch ein „oder“ verbunden und legen damit eine Denkrichtung nahe. Mittlerweile halte ich neben diesem „oder“ auch ein „und“ für angebracht.
Liebe Meta, das ist, wie ich es von Dir gewohnt bin, ein sachlicher, mit Fakten grundierter Beitrag. Was regt mehr das Denken an, frage ich mich, vorsichtig Fragen zu stellen, wie Du es tust, oder sich mit Hypothesen, die in eine Richtung gehen, festzulegen? Ich neige mehr zum Letzteren. Ich finde es zum Beispiel lächerlich, sein männliches Kind darin zu bestärken, sich im Rock oder Kleid in der Öffentlichkeit zu zeigen. Ob Homosexualität eine „Laune der Natur“ ist, bezweifele ich (dazu später), aber dass ein solches Ansinnen die Laune eines übersättigten, verwöhnten Kindes ist, das sich langweilt und deswegen nach immer neuem Spielzeug und Kleidermoden verlangt, halte ich für sehr wahrscheinlich.
Es ist von da nicht mehr weit dahin, aus Langeweile und Übersättigtsein dann auch einmal ein neues Geschlecht auszuprobieren. Auf jeden Fall hat es damit zu tun, dass solche Kinder nie lernen müssen durften, anzunehmen, was (nun einmal) ist, es jedenfalls erst einmal und lange genug zu akzeptieren, bevor sie daran gehen können, um eine begründete Änderung zu kämpfen. Ich höre von „autistischen“ Kindern, die durchdrehen, wenn das Wetter es sich wagt, anders zu sein, als sie es sich gewünscht haben.
Ich habe diesen Film nicht gesehen, aber es gab schon vor Jahren, 2014, dazu eine Diskussion in einer ZEIT-Beilage. Dort wird der Wunsch des Jungen, einen Rock zu tragen, damit begründet, dass „er es luftig um die Beine (mag)“. Wenn das der wirkliche Grund wäre, könnte er kurze Hosen tragen, von denen es die verschiedensten gibt, inzwischen auch für Mädchen. Der wirkliche Grund ist der Lifestyle-Überdruss einer abgehobenen Gesellschaftsschicht, die vor lauter Luxus nicht mehr weiß, was ihr noch einfallen könnte und den Sahra Wagenknecht in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ beschreibt.
Das Problem von Kindern und Jugendlichen, die im „freien Westen“ aufwachsen, mit der angesagten Mode, die bis auf wenige Ausnahmen alles erlaubt, ist geradezu obszön gegenüber den wirklichen Problemen, mit denen sich Kinder und Jugendliche an anderen Stellen dieser Welt herumschlagen müssen. Wer schon viel hat oder wem schon Vieles erlaubt ist, will immer noch mehr, fällt mir dazu ein. Hoffentlich geht’s ihm wie der gierigen Frau im Märchen vom Fischer und seiner Frau, die am Ende wieder so arm da steht, wie sie es einmal war.
Zur Homosexualität: Schon 1915 schreibt Sigmund Freud in „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“: „Der Psychoanalyse erscheint […] die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objektes, die gleich freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie sie im Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten ist, als das Ursprüngliche, aus dem sich durch Einschränkung nach der einen oder der anderen Seite der normale [d. h. heterosexuelle] wie der Inversionstypus [d. h. der homosexuelle] entwickeln. Im Sinne der Psychoanalyse ist also auch das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit […]“
Auch Interesse an Menschen des eigenen Geschlechts zu haben, ist also keine Laune der Natur, sondern der natürliche Ausgangszustand jedes sexuellen Begehrens, wenn Freud recht hat, und das hat er als genialer Beobachter und Theoretiker der menschlichen Seele. Ich selbst erinnere mich an ein Jahrzehnte zurückliegendes Ereignis. Es muss mich beeindruckt haben, weil ich es immer noch vor meinem geistigen Auge sehe. Auf einem Rundholz als oberer Begrenzung eines Weidenzauns sitzen Jugendliche, vielleicht 16, 17 Jahre alt. Vor ihnen befindet sich ein großes Plakat. Es ist Hochsommer. Beim Näherkommen sah ich zunächst nur ihre nackten Beine in kurzen Hosen. Ihre Oberkörper waren verdeckt. Ich fand von fünf, sechs Beinpaaren, dass zwei sehr schön aussahen; es war ein ästhetischer Genuss, sie anzusehen. Er streifte die sexuelle Dimension und ich fragte mich, ob es Jungen- oder Mädchenbeine waren. Das konnte ich erst entscheiden, als ich um das Plakat herumgegangen war. Es waren sowohl männliche wie weibliche.
Es ist oft gerade das besonders reizvoll, was ein wenig und auch nur untergründig mit den Merkmalen der sexuellen Gegenseite angereichert ist, also z.B. Beine mit einer schönen glatten Haut (weiblich), die aber zugleich muskulös und (ein wenig) athletisch kräftig sind (männlich). Vielleicht entspricht das dem spielerischen Erproben der eigenen Sexualität und der Erweiterung der erotischen Genussfähigkeit, wovon Du oben, liebe Meta, schriebst, als Du über den Sinn der Abweichungen vom „Normalen“ nachdachtest.
So großzügig und offen ich diesbezüglich bin, so sehr möchte ich darauf bestehen, dass das freiwillige Genießen der verschiedenen Seiten und Nuancen der Sexualität zwischen erwachsenen Menschen absolute Privatsache ist. Der Staat soll nur das unterstützen und fördern, was auf natürliche Weise dem Fortbestand der Gesellschaft dient, also der Geburt von Kindern. Kinder haben ein Recht darauf, in einer Familie mit Mutter und Vater aufzuwachsen. Alles andere ist ein Sonderfall, der nicht extra gefördert werden sollte.
Ich scherze manchmal mit einem Freund, dass wir heiraten werden. Er bekommt eine ordentliche Rente, ich zwar nicht so viel, aber die Witwenrente würde sich trotzdem für uns beide lohnen. Es ist für mich eine dekadente Gesellschaft, die solche unmoralischen Angebote macht. Sind sie erst einmal da, kann man, denke ich, Menschen nicht verübeln, dass sie etwas, was legal ist, für sich ausnutzen. Wenn sie diese Politik nicht ändert, wird sie allein deswegen zugrunde gehen, abgesehen von den vielen anderen ungelösten Problemen.
Lieber Karl, du wirst lachen, aber ich habe diesen Film auch nicht gesehen. Was mir darüber erzählt wurde, passt aber nicht so recht zu deinem Urteil. Es geht um einen schlichten Polizisten, der geschieden und etwas aus der Bahn geworfen ist und unverhofft vor die Aufgabe gestellt wird, seine beiden Kinder einige Wochen am Stück betreuen zu sollen, weil seine Ex, also die Mutter der Kinder, ins Krankenhaus muss. Dass sein Sohn Oskar sich Kleider anzieht, wird nicht unter Transgender- Gesichtspunkten zur Diskussion gestellt, sondern als eine zusätzliche Herausforderung für den ohnehin schon überforderten Vater. Der weiß einfach nicht, wie er mit dieser Marotte umgehen soll. Dass sie mit der Übersättigung eines verwöhnten Kindes zusammenhängt, kann man als gewiefter Zuschauer sicher nicht ausschließen, aber als Standard-Erklärungsmuster für alle Erziehungsprobleme ist mir das dann doch zu billig. Und da möchte ich mich auch weder auf Freuds noch auf Wagenknechts Expertise verlassen. Der eine hatte es allzu oft mit den Wehwehchen wohlsituierter, ihrer eigenen Langeweile überdrüssiger Damen mittleren Alters zu tun, die andere schwafelt von den selbstgerechten Intellektuellen, die sich kommunistische Überzeugungen leisten, ohne sie wirklich zu brauchen, und ist doch selbst die Inkarnation einer Salonkommunistin. Ich bin auch nicht davon überzeugt, dass tatsächlich jeder Mensch die Anlage in sich trägt, unter bestimmten Bedingungen von Menschen des eigenen Geschlechts erotisch/sexuell angezogen zu werden. Ich bin garantiert nicht die einzige Frau, die andere Frauen gern mit freundschaftlichem Wohlgefallen betrachtet, ohne jemals auch nur eine Spur Begehrlichkeit empfunden zu haben. Und was die bevorzugende staatliche Förderung der Hetero-Familie aus Gründen der Nachwuchsgewinnung angeht, so frage ich mich schon lange, warum gewollt kinderlose Ehepaare diese Förderung auch genießen.
Warum so wütend, Meta, so wertend? Menschen können doch selbst entscheiden, ob etwas Geschriebenes oder Gesagtes „Gefasel“ ist. Diese (Ab)Wertung muss man ihnen doch nicht vorkauen.
Es kann gut sein, dass Dein Filmpolizist ein sympathischer ist, der nicht ideologisch über den einfachen Tatsachen dieses Lebens schwebt, sondern „nur“ erzieherisch überfordert ist. Da ich diesen Film nicht gesehen habe, orientierte ich mich an dem, was ich dazu kannte: „Die Lüge vom gestörten Kind“ in der Beilage „Zeitchancen: Schule&Erziehung“ in der ZEIT vom 11. September 2014. Und dort wird es positiv beschrieben, wenn Kinder gendermäßig „crossen“. Das würde sie bereichern.
Als der Sohn aus Berlin-Kreuzberg kommend, wo sich keiner über den Jungen im Rock mokiert hatte, in der süddeutschen Provinz doch Probleme kriegt, erklärt ihm der Papa, dass Röcke doch eher etwas für Frauen sind. Der Sohn darauf: „Na und?“ (Erstaunlich, dass er nicht „So what!“ sagt, aber das war ja auch noch vor ca. 10 Jahren.) Diese Antwort haut den Vater so um, dass er jetzt sogar selbst einen Rock anzieht. Der „Sohn geht inzwischen in die Schule. Nach einer Woche kam er zum ersten Mal im Rock. Bis vor kurzem hat er sich die Nägel lackiert, jetzt lässt er sich die Haare lang wachsen.“ (S. 7) Lackierte Nägel würde ich meinem 6-jährigem Kind nicht einmal erlauben, wenn es ein Mädchen wäre. Bis zur 8. Klasse nicht. Danach würde ich davon abraten, mich aber nicht unbedingt durchsetzen wollen.