Lieber Karl,
diesmal hast du mir einen Brief geschrieben, auf den ich gern im selben Format antworte. Ein Brief ist eine sehr private Textsorte …
… und natürlich bestens geeignet, persönliche Erlebnisse, Erfahrungen, subjektive Betrachtungen, individuelle Sichtweisen darzustellen. Hier passt der vertrauliche Ton, aber wenn man die Wirkung auf die vorgestellten Adressaten bedenkt, ist er nicht immer die beste Wahl. Ich bin es gewohnt, eher eine leicht distanzierte Quasi-Vertraulichkeit zu praktizieren. Ich bin da auch in sehr familiären Situationen ziemlich kontrolliert und plaudere nur aus, was ich ausplaudern will. Ich bringe sogar das Kunststück fertig, vor mir selber Diskretion zu wahren. So gesehen bin ich gar nicht extrovertiert, oder genauer: Ich verberge meine Introvertiertheit hinter einem extrovertierten Habitus. Bei dir ist es wohl eher umgekehrt. Aber ich schweife ab.
Nun zu deinem Text, der kein Gegentext ist und auch gar nicht sein will. Dass du kein herkömmlicher Macho bist, ist mir durchaus klar. Aber nach meiner bescheidenen Erfahrung mit Männern, die ähnlich sensibel gestrickt sind wie du (und nicht zum ersten Mal verwende ich diese problematische Verallgemeinerung), schließt das eine Lust am Herrschen und Beherrschen nicht aus. Ich selbst möchte schon auch gern das Sagen haben und obenauf sein, aber genauso gern bin ich stille Beobachterin und denke mir mein Teil. Und teile das Ergebnis meiner Überlegungen dann leider auch gern mal ungefragt meiner Umgebung mit. Ist das „typisch weiblich“?
Genau genommen hast du mit deinem Text das Thema gewechselt, indem du die Dichotomie ‚männlich – weiblich‘ als eine von vielen der universellen Kategorie ‚menschlich‘ untergeordnet hast. Wer mag dir da schon widersprechen. Wobei viele „Zwei-Seiten-Theorien“ mittlerweile von mehr als zweiteiligen Modellen abgelöst wurden. Hippokrates zum Beispiel entwickelte die Lehre von den vier Gemütstypen, die später weiter in 8, dann 16 unterteilt wurden. Allerdings hatte Hipprokrates dabei nur Männer im Auge. Dafür kommen im biblischen Gleichnis von den fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen nur Frauen vor, die allerdings von männlichen Chronisten in diese Schubladen gepackt wurden. Auch in anderen Kriterienrastern überlagert die Mann-Frau-Einteilung alle anderen Aussagen, ob man nun Alte mit Jungen, Altruisten mit Egoisten, Schöne mit Hässlichen, Gesunde mit Kranken, Kreative mit Phantasielosen oder Einheimische mit Zugereisten vergleicht. Und natürlich kann man dir nicht widersprechen, wenn du von den fließenden Grenzen zwischen all diesen Kategorien und von den Mischformen sprichst. Ich habe in meinem engeren Umkreis allein schon so viele Menschen, die mit ihren Koordinaten irgendwo zwischen allen Kriterien landen, und es ist nur zu begrüßen, dass die Akzeptanz für solche Zwischentöne langsam wächst und im besten Fall auch eine Faszination ohne Indiskretion zulässt.
Um das Ganze noch einmal auf die persönliche Ebene zu ziehen. Ich für mein Teil könnte ohne Weiteres den Goetheschen Satz vom Ewig-Weiblichen ummodeln: „Das Ewig-Männliche zieht uns hinan.“ Heißt das nun, dass ich mit vielen erklärtermaßen männlichen Eigenschaften ausgestattet bin? Vermutlich kann man das so sehen, wenn auch meine äußere Erscheinung diesem Eindruck keineswegs zu Diensten ist. Aber heißt das nicht auch, dass ich besonders für die Erotik der Männlichkeit empfänglich bin? Ja, das heißt es ganz bestimmt. Wobei Männlichkeit für mich nicht nur eine Frage der Manneskraft und der Ausstrahlung junger männlich-sinnlicher Schönheit ist, sondern auch von einem starken Intellekt, gepaart mit einem schönen Charakter, ausgehen kann. Oh, ich wüsste schon, wie ich Goethes Engel-Bengel-Szene ummünzen würde auf gestandene, appetitliche Mannsbilder und ich müsste den Worten nichtmal diese abwiegelnde Doppelbödigkeit verleihen, indem ich sie einem Teufel in den Mund lege. Die Orientierung auf Männer, mit denen ich übrigens auch im Beruf meist lieber zusammengearbeitet habe, ist bei mir so ausgeprägt, dass für erotische Gefühle Frauen gegenüber kein Platz bleibt. Schönen Frauen begegne ich mit Wohlgefallen, aber fern von jeglichem erotischen Interesse. Mir fehlt da sowohl das Eifersuchts-Gen als auch das „Beste-Freundin“-Bedürfnis. Ich stehe auf der Mann-Frau-Skala mental wohl doch ziemlich dicht bei der Marke ‚absolut Frau‘. Ich merke, dass die letzten Sätze meine persönliche Grenze der vorhin beschriebenen Quasi-Vertraulichkeit beinahe überschritten haben.
Meta
Ein Kommentar zu “Der große kleine Unterschied”