Jetzt dreht sich die Welt richtig schnell, schneller und extremer, als ich es noch erwartet hätte. Vertraut und sicher Geglaubtes erodiert mit einer Geschwindigkeit, die – mich jedenfalls – erstaunt. Die Dynamik erinnert mich stark an die des Herbstes 1989 nach der Montagsdemo vom 9. Oktober in Leipzig. Honni weg, Mauer weg, SED weg. Innerhalb von Wochen.
Wie damals empfinde ich die Veränderungen als Bedrohung. Doch heute hoffe ich, dass ich mich auch diesmal irre und alles viel besser kommt als gedacht.
Es mag knapp zehn Jahre her sein, da hatte mir ein Freud seine Zukunftsversion gezeichnet, von einem Europa nach der EU. Einem Europa starker, souveräner Nationalstaaten, die in einer Art neuer Völkerbund vereint sind, zu dem dann auch Russland zählen würde. Eine NATO wäre überflüssig. So jedenfalls erinnere ich es. Eine nette Fantasie damals. Von einem anderen Stern.
Obwohl ich die Fokussierung auf den Nationalstaat nie verstanden und geteilt habe, war mir die Vision damals sympathisch. Ich war erleichtert, dass auch Nationalisten ein friedliches Miteinander anstreben können und kein Zurück in kriegerische Auseinandersetzungen suchen. Und mit der Idee einer gleichwertigen guten Nachbarschaft mit den USA und Russland rennt jeder bei mir immer offene Türen ein. Denn ich war stets ein Freund der Gorbatschowschen Idee vom gemeinsamen Haus Europa. So habe ich den selbstverständlichen Fortbestand der NATO nach Ende des Kalten Krieges nie verstanden.
(Ganz schlimm erinnere ich in diesem Zusammenhang ein furchtbares Pamphlet des früheren Innenministers de Maiziere zur Skizzierung einer Leitkultur für Deutschland. Neben selbstverständlichen Sachen wie das Grüßen und Sich-die-Hand-geben stand da tatsächlich auch: „Wir sind Mitglied der NATO.“ Echt! Das war auf einer Ebene. Jahrhunderte gewachsene Tradition mit tagespolitischer Position. Wer also gegen eine NATO-Mitgliedschaft Deutschlands ist, der ist kein Deutscher. So die Logik. Völliger Wahnsinn aus meiner Sicht. Aber dies schien – und scheint immer noch – über weite Strecken die Gedankenwelt des politischen Spektrums zu repräsentieren.)
Jetzt fällt die NATO vielleicht auseinander. Je nach Laune eines erratischen Opas in Washington. Plötzlich laufen alle aufgeregt hin und her. (De Maizieres blödes Gesicht würde ich heute gern mal sehen.) Ohne die NATO hat Putin keinen Kriegsgrund mehr in der Ukraine. Das ganze Sterben umsonst. Hätte man früher und einfacher haben können. (Was das Putin-Russland allerdings ohne ein NATO-Feindbild mit sich anfangen soll, steht noch mal auf einem ganz anderen Blatt.)
Mich erschreckt und fasziniert zugleich die aktuelle Panik in der politischen Kaste in Deutschland und darüber hinaus. Offensichtlich ist offenes Denken den Politikern fremd. Meine Jahre in Russland haben mich gelehrt, dass jederzeit alles ganz anders sein kann. Von einem Moment auf den nächsten. Und noch heute bin ich froh und dankbar über mein Philosophiestudium in den frühen 90ern, als mir genau das gelehrt wurde: offenes Denken. Suche nach und Durchdringung von Gegenargumenten, Respekt vor und Neugier für andere Wertesysteme. Ich frage mich, ob das heute noch so möglich wäre.
Wer freilich davon ausgeht, dass die NATO so selbstverständlich ist wie das Grüßen – der steht derzeit wohl vor noch größeren Herausforderungen als ich. Da möchte ich nicht tauschen.
Lieber Martin,
ich freue mich, dass du die kleine Schar der Autoren dieser Seite bereicherst. Es gibt heute (zu) viele Möglichkeiten, sich zu äußern und sich darzustellen. Ich bin dankbar, dass du unsere Seite gewählt hast.
Sie will „eigen“ sein, dazu braucht sie Autoren, die es sind, vom Stil her und von ihren Gedanken. Das bist du. Wir wollen beide, glaube ich, eine laue Mittigkeit vermeiden, ansonsten ist alles möglich außer eine Postion, die sagt: „Mehr Gewalt!“ Ein bisschen „hoher Mut“ ist dabei schon hilfreich, und den hast du als „Junker“.
Ein wenig stört mich die Bezeichnung „Nationalist“. Ich bin ein nationalbewusster Mensch. Das Bewusstsein des Eigenen ist gerade die Voraussetzung, freundlich mit den anderen umgehen zu können. Ein familienbewusster Mensch, der sich der Eigenarten seines Partners und seiner Kinder bewusst ist und auch stolz darauf, ist doch nicht gefährdet, mit anderen Familien unfreundlich umzugehen. Im Gegenteil: Wer lieben kann, zuerst das Eigene, erfüllt die wichtigste Voraussetzung, auch zu anderen liebevoll, zumindest freundlich zu sein.
Wie überzogen die Westbindung Deutschlands ist, wird mir noch einmal klar, wenn du schreibst, dass etablierte deutsche Politiker der Mitte glauben, dass die NATO zur deutschen Leitkultur gehören müsse. Wie kann man nur so beschränkt sein, die eigene Nation unter eine internationale Organisation zu stellen? Diese kommen und gehen, die Nationen bleiben, ihre Bedeutungen nehmen sogar zu.
Ich freue mich auf weitere Beiträge von dir, aber lass dir Zeit, lass sie reifen. Das ist vielleicht auch eine Postion, die wir gemeinsam vertreten: Alles braucht seine Zeit. Langsam Gewachsenes ist wertvoller als schnell Gestrecktes.
Vielen Dank, Karl, für deine wertschätzenden Worte. Ich kenne nicht nur die Theorie von dem Eigenen, das man zuerst lieben (können) muss, bevor man das Fremde lieben kann. Nein, ich teile diese auch voll und ganz. Es geht mir mehr um die Grenzziehung zwischen Eigenem und Fremden. Die Familie ist für mich bei Weitem nicht dasselbe wie der Nationalstaat. Es gibt auch in meiner Nation ganz ganz viele Fremde.
Ich bin ganz bei dir, wenn es darum geht, einen engen Bezugsrahmen für die eigene Lebenswelt zu haben. Diesen aber gerade bei den Nationalstaaten zu sehen, halte ich für eine willkürliche Festlegung.
Allerdings führt mich diese Überlegung schon ganz schön weit weg von meinem eigentlichen Punkt: Es ist etwas grundsätzlich in Bewegung geraten. Das beunruhigt mich. Hoffentlich wird es gut.
Das ist doch gerade die Frage, wie weit sich eine Nation überdehnen kann, wie viel Fremdes sie in sich verträgt. Ein Fremdes, das nicht selbst die allgemeine Kultur bestimmen will, sondern die akzeptieren und respektieren kann – und ihre Kultur und ihre Bräuche – die „vorher“ da waren, ist eine Bereicherung. Ein Fremdes, das glaubt, eine parallele Leitkultur in einer Nation werden und sein zu können, ist eine Gefährdung für sie.
Genauso ist es in der Familie. Wenn ein neuer Schwiegersohn oder eine neue Schwiegertochter kommt, der/die erwartet, dass nun ihre Sprache in der Familie gesprochen wird, nun ihre Lebensphilosophie und Mentalität gelten, und die aufnehmende Familie hält das für den Gang der Welt, der „nun einmal“ so sei, dann löst sie sich auf. Die Familie/Nation, die sich das gefallen lässt – im direkten Sinne des Wortes: es „gefällt“ vielen Deutschen, dass sie in ihrer Bundeshauptstadt in manchen Gaststätten nicht mehr in ihrer Muttersprache bedient werden -, hat es verdient, dass sie untergeht und von der Bildfläche des Lebens verschwindet.
Das Starke und Vitale bleibt und vermehrt sich, es „frisst“ das Schwache, das sich nicht behaupten kann und will. So entstehen neue Ordnungen des Lebens und der Welt. Das geschieht nicht nur durch militärische Überfälle eines Landes auf ein anderes, so wie wir das gerade in der Ukraine sehen, sondern auch durch sozusagen kulturelle „Annexionen“, wie wir das seit Jahrzehnten in Deutschland erleben, insbesondere durch die übermächtige anglo-amerikanische Kultur.