Der „Poppenspäler“ oder: Das Gleiche im Anderen erkennen

Das nennt man auch „Analogiefähigkeit“, genauer Fähigkeit, die innere Gemeinsamkeit zwischen äußerlich Unterschiedlichem erkennen zu können.

Heute glauben viele politisch „Progressive“ an einen hundertjährigen Kalender (auch) auf dem Gebiet der Politik. Die „Nazis“ würden wieder an die Macht kommen, es würde ein neues „33“ geben.

Da werden Analogien, gemeinsame Verläufe, erspürt und vermutet, wo sie nicht sind. Sie werden mehr „erdacht“ als erspürt, denn was nicht passt, muss passend gedacht werden.

Damals gab es Schlägertrupps, die durchs Land zogen, die „Sturmabteilungen“ (SA) der NSDAP und die Rotfrontkämpfertrupps der KPD. Sie lieferten sich Saalschlachten und Straßenkämpfe. Heute gibt es nur eine Sorte gewalttätiger politischer Trupps, die in Deutschland ihr Unwesen treiben: die „Antifa“.

Selbst die hier mehrheitlich eher links-grünen Staatsanwälte und Richter kommen nicht umhin, den extremsten Teil von ihnen anzuklagen und zu verurteilen.

Heute gibt es in der Partei, die anologisch das Pendant zur NSDAP sein soll, in der AfD, Vereinigungen jüdischer, dunkelhäutiger oder migrantischer Parteimitglieder. Das sei natürlich nur ein raffinierter Trick der AfD, um die Menschen zu täuschen.

In der NSDAP gab es solche „Tricksereien“ jedenfalls nicht; das ist neben der SA schon einmal ein deutlicher Unterschied. Der AfD wird ständig unterstellt, sie würde völkisch-national denken, wahrscheinlich weil die Untersteller selbst „völkisch“ denken /1/, nämlich „antivölkisch“; sie sind ja schließlich auch ihrem Wesen nach „elitisch“. Dabei beweisen die genannten Mitgliedervereinigungen in der AfD, dass sie kulturell-national denkt, also auf eine nationale Kultur bezogen und nicht auf ein nationales Blut.

Es mag einzelne AfD-Mitglieder geben, die tatsächlich „völkisch“ denken, das ist aber nicht die offizielle Parteiposition. Es finden sich in jeder Partei Auffassungen, die nicht der offiziellen Linie entsprechen, so zum Beispiel in der CDU auch – noch vereinzelt – kulturell national denkende Mitglieder.

Also: Diese Analogie zwischen 1933 und 2033 ist falsch. Ich denke in der Überschrift an etwas ganz anderes, nämlich an die Novelle „Pole Poppenspäler“, die Theodor Storm 1874 schrieb.

Wie komme ich gerade auf diese Novelle? Wir leben alle in einem Überangebot von Informationen und Reizen. Von allem gibt es im „freien Westen“ zu viel: Joghurt-Sorten, Autos und Smartphones zum Beispiel. Die Auswahl fällt schwer. Obwohl: Unsere Demokraten-Regierung, von weltoffenen Bürgern gewählt, die es gar nicht bunt genug kriegen können, sorgt dafür, dass es doch an dem einen oder anderen zu fehlen beginnt, an Medikamenten zum Beispiel. Aber auch in meinem Konsum ist neuerdings öfter mal was „aus“. Das heimelige DDR-Gefühl schleicht sich langsam wieder ein: Gestern gab’s Bananen, bei Lidl gibt’s sie immer noch.

Aber von einem gibt es nach wie vor ein ungebrochenes Überangebot: an Gedanken, verpackt in Büchern, Zeitschriften, Hörbüchern, DVDs u.ä. Da droht kein Mangel, drohen keine DDR-Verhältnisse, dass man manche Bücher nur unter dem Ladentisch bekommt. Man kann sie heute einfach googeln und im Internet nachlesen.

Ich gehe fast „unter“ in diesem Überangebot und vertraue deshalb auf den Zufall, auf das, was mir „der Herr“ in Pappkartons anbietet, auf denen steht: „zu verschenken“. Was habe ich da neulich gefunden? Den „Poppenspäler“ in der Taschenbibliothek der Weltliteratur vom Aufbau-Verlag (1980). Das Bändchen heißt: „Theodor Storm: Ein Doppelgänger. Novellen“

Der Gedanke, der den „Poppenspäler“ mit den Problemen, die wir heute hier in Deutschland  haben, verbindet – ich greife die „Analogiefähigkeit“ von oben wieder auf -, ist für mich folgender:

Rohe, unkultivierte Gewalt gegen Vortragende, Künstler wie Lehrer, ist auf eine elementare, existentielle Weise zerstörerisch: Wir sind heute so weit, dass nicht mehr nur einzelne Künstler bei ihrem Vortrag behindert und gewalttätig attackiert werden, sondern eine immer größere Zahl Lehrer.

Das stellt die kulturelle Existenz Deutschlands in Frage, das so viele Katatrophen, vom 30-jährigen Krieg bis zu den beiden Weltkriegen, überwunden hat und nun vielleicht über die kulturelle Wende stolpern wird, die im wesentlichen die Merkel-CDU zu verantworten hat.

„Pole Poppenspäler“ hat mich beeindruckt. Die Novelle handelt von einem herzensguten Mann, der ein „Kindskopf“ geblieben ist bis ins hohe Alter, seiner Frau, die hart und durchsetzungsstark ist, und seiner temperamentvollen Tochter, ähnlich „herzensgut“ wie der Vater. Sie reisen mit einem kleinen Pferdefuhrwerk, einem zweirädrigen Karren, durch die deutschen Lande, vor 1871 von Fürstentum zu Fürstentum, bleiben einige Wochen in Städten und führen dort ihre Puppenstücke auf. Star der Puppen ist ein prächtiger Kasper, der mittels eines filigranen technischen Mechanismus seinen ganzen Körper auf vielfältige Art bewegen kann.

Sie haben viele Jahre Erfolg und können sich ein Auskommen erwirtschaften. Der Ich-Erzähler Paul ist als Junge regelmäßig bei einem Drechselmeister und „Mechanikus“. Sein Vater wünscht das so, er weiß, dass sein Sohn viel bei diesem Fachmann lernen kann, sein Handwerk und noch Wichtigeres:  Der Meister führte mit dem Jungen Gespräche, die seine Gedanken auf das richteten, was wichtig im Leben ist und von dem später selbst in den „Primaner-Schulbüchern keine Spur“ zu finden sein wird.

In dieser Zeit machten die drei Puppenspieler Halt in der Vaterstadt des Jungen. Sie wohnen in einer Herberge, die gegenüber von seinem Haus lag. Die beiden Kinder, das Puppenspieler-Mädchen Lisei und der Junge Paul, freundeten sich an. Es gab einige erfolgreiche Aufführungen, und das kleine Fuhrwerk zog weiter.

Nach dem Tod der durchsetzungsfähigen Puppenspieler-Mutter widerfährt dem Vater mit seiner inzwischen erwachsenen Tochter Tragisches. Aber das Glück im Unglück ist auf ihrer Seite und Paul, inzwischen auch erwachsen, kann in einer Stadt, wo er als wandernder Handwerker-Geselle eine Stelle bei einem Meister bzw. dessen Frau gefunden hat, seiner alten Freundin, die in höchster Not ist, helfen. Wahrscheinlich rettet er ihr sogar das Leben und hilft ihrem Vater aus einer ungerechtfertigten Haft heraus.

Dieser ist müde vom Wandern und den Ungerechtigkeiten des Lebens. Er und seine Tochter nehmen Pauls Angebot an, mit in seine Vaterstadt zu kommen, wo die Tochter Lisei und der Junge sich vor vielen Jahren kennen und mögen lernten. Seine Eltern sind gestorben, sein Elternhaus ist verwaist.

„Da war mir, als hörte ich die Stimme meiner Mutter sagen: ‚Halte diese Hand [Liseis] fest und kehr mit ihr zurück, so hast du deine Heimat wieder!'“ Er hielt sie fest und Lisei hatte auch „die Kuraschi“, obwohl die Leute reden würden. (S. 72) Der alte Puppenspieler-Vater Joseph zog nach hinten ins Hinterhaus, wo schon der Heinrich, der treue, alte Geselle lebte. Die beiden wurden Freunde.

Es war ein trautes schönes Leben zu viert und bald zu fünft. Joseph machte sich in der Werkstatt und im Garten nützlich. Aber er hatte noch einen Herzenswunsch: Er wollte noch einmal mit einem Puppenspiel auftreten. Damals hatten sie einen großen Erfolg in der Stadt. Diesen gedachte er zu wiederholen. Er wollte, dass seine Tochter die weiblichen Partien übernimmt, aber das schickte sich denn doch nicht für die Frau eines angesehenen Handwerksmeisters in der Stadt.

Sie fanden eine andere Frau, die gut war, bloß nicht hoch genug singen konnte.

„Es war aber damals in unserer Stadt nicht mehr die harmlose schaulustige Jugend aus meinen Kinderjahren; die Zeiten des Kosakenwinters lagen dazwischen, und namentlich war unter den Handwerkslehrlingen eine arge Zügellosigkeit eingerissen…“ (S. 77)

„Eine arge Zügellosigkeit“ – das kommt mir bekannt vor.

Die Aufführung läuft gut. „Dann aber kam das unglückselige Lied! Sie bemühte sich vergebens, ihrer Stimme einen zarteren Klang zu geben, wie Vater Joseph vorhin gesagt hatte, sie grunzte wirklich in der Tiefe. Plötzlich rief eine Stimme von der Galerie: ‚Höger up, Kröpel-Lieschen! Höger up!‘ Und als sie, diesem Rufe gehorsam, die unerreichbaren Diskanttöne zu erklettern strebte, da scholl ein rasendes Gelächter durch den Saal.

Das Spiel auf der Bühne stockte, und zwischen den Kulissen heraus rief die bebende Stimme des alten Puppenspielers: ‚Meine Herrschaft’n, i bitt g’wogentlich um Ruhe!‘ Kasperl, den er eben an seinen Drähten in der Hand hielt und der mit der schönen Susanna eine Szene hatte, schlenkerte krampfhaft mit seiner kunstvollen Nase.

Neues Gelächter war die Antwort. ‚Kasperl soll singen!‘ – ‚Russisch! Schöne Minka, ich muß scheiden!‘ … So ging’s noch eine Weile durcheinander. Auf einmal flog, in wohlgezieltem Wurfe, ein großer Pflasterstein auf die Bühne. [War da die Antifa im Saale?] Er hatte die Drähte des Kasperl getroffen; die Figur entglitt der Hand ihres Meisters und fiel zu Boden.

Vater Joseph ließ sich nicht mehr halten. Trotz Liseis Bitten hat er gleich darauf die Puppenbühne betreten. – Donnerndes Händeklatschen, Gelächter, Fußtrampeln empfing ihn, und es mag sich freilich seltsam genug präsentiert haben, wie der alte Mann, mit dem Kopf oben in den Suffiten [ein im Theater herabhängendes Dekorationsstück], unter lebhaftem Händearbeiten seinem gerechten Zorne Luft zu machen suchte. – Plötzlich, unter allem Tumult, fiel der Vorhang, der alte Heinrich hatte ihn herabgelassen.“ (S. 78)

Bleiben Sie mir bitte gewogen! Das versteht der eine Zartfühlende, wenn er es vom anderen hört. Aber zügellos gewordene rohe Burschen verstehen es nicht. Und mit denen haben heutige Lehrer genauso zu tun wie es Joseph damals mit ihnen zu tun bekam. Aber „roh“ und „unerzogen“ sind sie nicht, damals wie heute, sondern sie sind allesamt psychisch krank, haben die Pubertät, die Vor- oder Nachpubertät, haben ADHS, Autismus, Asperger oder PDA gar, haben Probleme mit ihrer weiblichen oder männlichen Geschlechtlichkeit bzw. einer diversen Mischung davon.

Was lässt sich da machen? Am besten lassen sich die Erziehungsverantwortlichen und ihre Obrigkeit auch krankschreiben. Sie haben Burnout, alle miteinander. Wir leben in einer kranken Gesellschaft. („Die kranke Gesellschaft“ – so wird einer meiner nächsten Beiträge lauten.)

 

Fußnote

/1/ Was ist an „menschlich“ schlimm? Es betrifft den Menschen, es ist ihm gemäß. Und „völkisch“, was ist daran schlimm? Es betrifft das Volk, die Verbundenheit mit einem Volk. Aber „volksverbunden“ darf man heute nicht mehr sein, vielleicht noch allgemein, aber auf keinem Fall mit seinem eigenen Volk; das wäre heute „rechtsextrem“ in Deutschland – aber auch nur dort.

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