Damals, als wir beide junge Lehrerstudenten waren, war Bert auch noch begeistert von Makarenko. Wir wollten ausprobieren, ob seine Erziehungsprinzipien auch bei uns funktionierten. Entscheidendes fehlte natürlich, wir hatten unsere Jungen, 13-14-Jährige, nur zwei Wochen, und wir hatten keine große Kommune, sondern nur diese Gruppe. Aber trotzdem gab es Einiges, was wir übernehmen konnten: Unser entschlossenes und eindeutiges Auftreten zu Beginn. Wir tragen die Verantwortung für euch, also entscheiden wir auch, aber wir wollen euch mehr und mehr einbeziehen, wenn wir uns auf euch verlassen können.
Ausschlaggebend ist das pädagogische Selbstbewusstsein, die offensive Haltung, mit der so etwas vorgetragen wird. Beides hatten wir; wir haben uns lange gedanklich darauf vorbereitet, und wir waren zwei, die sich gut kannten und gegenseitig Rückhalt gaben. Die Jungen waren gerade angekommen, für sie war alles neu. Sie waren verunsichert, da passte unsere offensive Sicherheit gut hinein: Wir sagten ihnen genauso klipp und klar, wie Makarenko das mit seiner „explosiven Methode“ getan hatte, was wir von ihnen erwarteten, nämlich ein freundliches, rücksichtvolles und zuverlässiges Verhalten, und wir erklärten ihnen, in welchen alltäglichen Einzelheiten sich das zeigen müsste, z.B. in der Pünktlichkeit, ordentlichem Grüßen, akkuratem Zimmer- und Tischdienst.
Das wirkt heute, wenn Sie es jetzt lesen, wahrscheinlich wie aus der Zeit gefallen. Wenn es heute eine pädagogisch-psychologische Einweisung für Lehrerstudenten in ihre Arbeit als Gruppenleiter gäbe, würde bestimmt, bei dem Alter unserer Jungen, zuerst betont werden, wie schwierig die Pubertät ist, dass in dieser Zeit das jugendliche Hirn einer Großbaustelle gleiche und deshalb Pünktlichkeit, ordentliches Grüßen usw. keineswegs zu erwarten wären. /1/
Und dann kommen noch dazu die vielen Kinder mit ADHS und/oder einer Autismus-Spektrum-Störung. Komisch, unsere Jungen haben sich damals alle „benommen“. Kleine Probleme gab es natürlich, aber die konnten wir bewältigen. Ich glaube eher, damals wie heute funktioniert Erziehung – auch – nach dem Prinzip der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Wenn von allen wichtigen Bezugspersonen erwartet („prophezeit“) wird, dass Kinder und auch Jugendliche freundlich-rücksichtsvoll, pünktlich und ordentlich sind, dann benehmen sie sich auch so. Das ist sozusagen ein Sog der Erwartungen, der sie auf einer guten Stufe des Verhaltens belässt bzw. sogar auf eine höhere Stufe zieht.
Leider funktioniert das nach unten hin genauso: Wenn die allgemeine Erwartung ist, dass Pubertierende sowieso ein problematisches Verhalten an den Tag legen „müssen“, dann wollen sie die Erwachsenen auch nicht „enttäuschen“ und verhalten sich tatsächlich so.
Zugleich haben wir „unsere Jungen“ von vornherein ernst genommen und ihnen zugehört, uns auch dem einen oder anderen einfühlsam zugewandt, der unter Heimweh litt, auch wenn er es selbst niemals zugegeben hätte. Da haben wir sie wieder, die Einheit der Gegensätze in ihrer ganzen Ausprägung (alles zu seiner Zeit und dann richtig) anstatt der lauen Mitte. Nach den klaren Erwartungen fügten wir an: „Wir machen Fehler wie alle Menschen, ihr könnt uns gern auf etwas hinweisen, was wir vielleicht nicht bedacht haben. Wichtig ist nur die Art und Weise, dass ihr nicht ’nölt‘ oder sonst wie beleidigend werdet. Auch wir werden uns immer, so ’streng‘ wir manchmal auch sind, um einen freundlichen Ton bemühen. Da können wir uns alle wohlfühlen und dann ist auch die Chance groß, dass wie euren Einwand, zumindest zum Teil, beachten werden.“
Schon nach ein paar Tagen konnten wir ihnen mehr zutrauen und erlauben, als das im Allgemeinen üblich war, sie durften sich z.B. selbstständig in einer Stadt bewegen, was offiziell, von der Lagerleitung her streng verboten und Anfang der 70-ziger Jahre in der DDR auch nicht üblich war. Wir vergatterten sie deshalb ausdrücklich, wie wichtig es sei, dass wir uns auf sie verlassen könnten und dass sie unbedingt pünktlich wieder am vereinbarten Treffpunkt sein mussten. (Wir kriegten dann auch prompt große Schwierigkeiten, weil sie jemand von der Lagerleitung „freilaufend“ gesehen hatte.)
In den ersten Tagen hatten wir die Pünktlichkeit „zelebriert“, und sie hatten z.B. begriffen, dass 8.01 Uhr absolut nicht akzeptabel ist, wenn wir 8.00 Uhr gesagt hatten (bei Makarenko konnte eine einminütige Verspätung zu ein paar Stunden Strafdienst führen). Wir kriegten einen Riesenschreck, als zum vereinbarten Zeitpunkt nur ein paar ängstliche „Mutti-Kinder“ da waren, die sich von vornherein nicht weit gewagt hatten, das Gros der Gruppe, die Mutigen und Angesehenen mit ihrem Anhang, aber nicht. Fünf Minuten später sahen wir sie im schnellen Dauerlauf auf uns zukommen.
Sowie sie uns bemerkt hatten, fingen sie an, „ganz normal“ zu laufen, als wenn nichts wäre. Sie näherten sich uns, ohne ein Wort zu reden, mit gesenkten Köpfen. Sie wurden immer langsamer, so als ob sie den Moment hinauszögern wollten, in dem sie von uns gewaltigen Ärger bekommen würden. Ihre ganze Körpersprache zeigte, dass sie überzeugt waren, ihn verdient zu haben.
Wir hatten nach unseren bisherigen Erfahrungen mit Schülern, auch aus unserer eigenen Schulzeit, mit einem frechen Schulterzucken nach der Art gerechnet „Na und!? Was sind denn schon fünf Minuten!“ So viel zerknirschte Einsicht hatten wir nie erwartet. Ich war überwältigt, mich durchströmte ein Glücksgefühl: Nehmen sie uns wirklich so ernst? Ist es uns wirklich gelungen, sie erzieherisch so umzukrempeln? Denn natürlich war auch in der DDR eine akkurate „preußische“ Disziplin keineswegs üblich. /2/
Ich hab’s versaut: Als Pädagoge muss man nämlich unbedingt auch ein guter Schauspieler sein können. Ich hätte ernst bleiben und böse gucken müssen. Berthold konnte das, perfekt. Ich habe versucht, mich zu sammeln, indem ich so getan hatte, als wenn ich mir die Schuhe zubinden müsste. Es ist mir nicht gelungen (das Erstere), und ich habe die Jungen ungehemmt angelacht, als ich mich wieder erhoben hatte.
Am Anfang konnte ich das noch als Verzweiflungsausbruch kaschieren, auch weil ich mich zwischendurch mit Hilfe der Schauspielkunst meines Freundes, der die „Delinquenten“ stoisch weiter verärgert und enttäuscht anschaute – und dazu noch sehr wirkungsvoll seine rechte Augenbraue ein wenig anhob – immer wieder kurz zur Ernsthaftigkeit aufraffen konnte. Das trieb das Schuldbewusstsein der bedepperten Jungen kurzfristig vollständig in die Höhe, aber dann brach das Lachen wieder aus mir heraus und ich konnte nicht mehr verbergen, dass es sich doch um ein ganz normales, „gemeines“ Lachen, aus schlichtem Glücklichsein handelte.
Das hat sie schwer verwirrt, ich glaube eine ganze Weile, und dann lachten sie erleichtert mit. Die schöne Möglichkeit, sie noch einmal intensiv für Pünktlichkeit zu sensibilisieren, hatte ich vertan, aus dem Hochgefühl heraus, dass diese jungen Menschen Berthold und mich tatsächlich als „souveräne Obrigkeit“ anerkannt hatten. Durch meine unbeherrschte Lacherei hatte ich diesen Status gleich wieder gefährdet. Nun kann es ja auch Vorteile haben, nicht nur dienstlich, sondern auch Mensch zu sein. Aber meine Menschlichkeit bezog sich ja leider nur auf mich selbst: Ich wurde als ein bisher eher schüchterner, sensibler 20-, 21-Jähriger übermannt von der Freude über meine eigene Wichtigkeit.
Bei weiteren Ferienlageraufenthalten konnte ich solche Erfolge nie wieder erreichen, entscheidend war, dass Bert und ich zu zweit auftraten, sich gegenseitig Rückhalt gebend wie ein gutes Ehepaar.
Fußnoten
/1/ Noch bzw. schon 1882 hatten zwei DDR-Psychologen festgestellt: „Noch in jüngster Zeit gab es überall dort keine ‚Pubertätsprobleme‘, wo einheitliche und festumrissene Altersnormen existierten. Ihre Einhaltung galt als Selbstverständlichkeit, ohne dass diese überkommenden Verhaltenserwartungen den Beteiligten bewusst waren. In österreichischen Alpentälern galten Heranwachsende gemäß ihrer Altersstufe als ‚Fatschenpopperl‘, ‚Umwerker‘, ‚Umhauser‘, ‚Fratz‘, ‚Dirndl‘ oder ‚Knechtel‘ (H. Hetzer): ‚Mit dem die Stufe bezeichnenden Namen war aber auch eine ganz bestimmte, festgelegte Form der Behandlung verbunden. Es stand fest, was der Erwachsene dem Kind an Hilfe zu bieten hat, was vom Kinde gefordert beziehungsweise ihm zur selbständigen Erledigung überlassen werden durfte.'“ (Claudia Köhle/Peter Köhle: Verständnis für den anderen: Ein Elternkurs. Leipzig/Jena/Berlin 1982, S. 70) Nichts davon steht heute noch fest. Alles ist individualisiert. Ich glaube, dass sich im Kampf der Systeme das gemeinschaftsorientierte chinesische gegenüber dem individuumzentrierten westlichen als das überlegene erweisen wird. Insofern haben auch die USA noch eine relativ gute Zukunftsperspektive, weil sie im Gegensatz zu Deutschland nicht nur auf das Individuum setzen, sondern auch auf die US-amerikanische Nation als Gemeinschaft.
/2/ Das zeigt schon daran, dass DDR-Pädagogik-Professoren Makarenkos Formel von „Höchste Achtung und höchste Forderungen“, die sie für übertrieben hielten, in „Höchste Achtung und optimale Forderungen“ umgewandelt hatten.
Lieber Karl,
beim Lesen deiner Erinnerungen aus der Zeit als Gruppenleiter im Ferienlager ist mir ein Detail eingefallen, das ich gern überprüft hätte. Ich schaute in der Mappe mit persönlichen Briefen aus jenen Jahren nach, konnte aber nichts finden. Mir wurde dabei mal wieder bewusst, wie sehr sich die Möglichkeiten, Korrespondenz zu archivieren, inzwischen verändert haben. Im Prinzip sind in der alten Mappe nur die Reaktionen der Empfänger meiner Briefe abgeheftet, nicht aber meine eigenen Briefe. Dazu hätte ich mittels Blaupapier einen Durchschlag anfertigen müssen, was ich aber nicht nur umständlich, sondern auch eitel gefunden hätte. Einige Briefe aus meiner Feder haben sich aber doch zwischen den Antworten an mich finden lassen, weil sie mir von der Familie zurückgegeben worden sind.
Auch ich war ja zur gleichen Zeit wie du, aber an anderen Orten, als Gruppenleiterin in Ferienlagern – genauer gesagt: in den Betriebsferienlagern des VEB Hochbauprojektierung, der Arbeitsstelle meines Vaters – tätig. Ich zitiere mal aus einem der erhalten gebliebenen Briefe, die ja alle noch im Ton unbekümmerten Nicht-Genderns daherkommen: „Die acht Mädchen meiner Gruppe kannten sich schon aus dem letzten Jahr; an der Aufteilung in zwei Untergruppen wollte ich nicht gleich am Anfang rütteln, zumal sie sich schon auf der Hinfahrt im Bus tuschelnd darüber geeinigt hatten, wer in welches der beiden Vier-Mann-Zelte ziehen sollte. Zelt 1: die vier Elf- bis Zwölfjährigen. Sie haben ihre Puppen dabei, sind stolz auf ihre neumodischen „Holzklapperlatschen“ und wollen für ihre Zopfhalter aus dem Westen bewundert werden. Sie albern viel herum. Zelt 2: die vier Dreizehn- bis Vierzehnjährigen. Sie haben schon Lippenstifte mit, ihre Bikinioberteile haben schon eine echte Aufgabe, sie tauschen unentwegt kleine Geheimnisse aus und spielen die Erwachsenen. Das Kuriose ist nur: Die vier „Kleinen“ sind durchweg intelligenter. Das hat heute schon zu Nörgeleien und Anspielungen geführt, die man wohl nur dann richtig verstehen kann, wenn man bestimmte Vorgeschichten kennt.
Gleich gestern Abend haben wir einen Gruppenratsvorsitzenden gewählt: Jutta, das älteste Mädchen, einstimmig. Wäre nicht ganz meine Wahl gewesen. Die Mädchen haben die Frage, wer wofür zuständig sein soll, unerwartet ernst genommen, nicht so lässig wie die anderen Gruppen. Jutta übernimmt außerdem das Geldeinsammeln und ist für die Kasse verantwortlich. Das macht sie zu meiner wichtigsten Vertrauensperson. Jetzt muss ich nur aufpassen, dass sie ihre Sonderstellung nicht ausspielt, denn sie ist es nicht gewohnt, sich einer so wenig Älteren unterzuordnen. In den vergangenen Jahren waren immer ihre Eltern als Gruppenleiter mitgefahren, der Vater für die Gruppe der ältesten Jungs, die Mutter für die ältesten Mädchen. Bei der Wahl ihres Stellvertreters habe ich dann aber ein wenig reguliert: Es solle doch ein Mädchen aus dem anderen Zelt sein; das fanden sie in Ordnung.
Heute hat Jutta jeden zweiten Satz von mir mit „ach, das ist ja witzig“ oder „ist mir völlig neu“ oder „das halt ich für’n Gerücht“ kommentiert, begleitet vom neugierigen Grinsen der anderen Mädchen. Ich hab mir das eine Weile gefallen lassen, dann aber so reagiert: „Jutta, deine ständigen Kommentare sind ja ganz lustig, aber du solltest dir noch ein paar weitere Varianten ausdenken, sonst wird das mit der Zeit zu eintönig. Bestimmt wollen dir die Mädchen dabei helfen.“ Jutta wurde ein bisschen rot und ist später ganz weit mit mir raus geschwommen, obwohl ihr schon kalt war – das sollte wohl eine Art Entschuldigung sein. Das ließ ich gelten.
Den Frühsport heute Morgen habe ich angeleitet, in den nächsten Tagen ist jeder der Reihe nach dran. Wir haben beschlossen, dass der jeweilige Frühsportleiter an „seinem“ Tag von der Gruppenratsvorsitzenden oder von mir angesprochen wird, wenn wir weitere Unterstützung brauchen.
Ich bin gespannt, wie das mit den großen Jungs – die sind in der Überzahl – werden wird. Während der Mittagspause sollen die beiden ältesten Gruppen die Kleinen nicht bei ihrem Schläfchen stören, dürfen aber z.B. Briefe schreiben. Oder Zettelchen wie die folgenden, die mir dann sogar zum Lesen rüber gereicht werden: „Wenn du ins Zelt kommst, Marina, kriegst du was mit K.“, „Ich brauche für heute Nacht ’ne Wärmflasche. Hast du nicht Zeit, Angela?“ Soweit für heute.“
Ach so, lieber Karl, jetzt noch einmal zu meiner nicht belegbaren Erinnerung: Stimmt es, dass ich dir und deinem Kumpel eine Armbinde gebastelt und in euer Lager geschickt habe, bestickt mit der Aufschrift „PvD“ (Pionier vom Dienst)?
Das fragt sich
Meta
Liebe Meta, es stimmt, dass Du uns mal eine Armebinde gebastelt und geschickt hast. „Pionier vom Dienst“ lautete sie mit Garantie nicht, das wäre uns viel zu bieder und brav gewesen, sondern es stand eher etwas wie „CvD“ (Chef vom Dienst) drauf. Ich glaube zwar, in diesem Ferienlager, von dem ich oben berichtet habe, hatten wir sie nicht eingesetzt, aber in irgendeinem auf jeden Fall.