Die entscheidenden Jahre

Als ich Stefan Zweigs autobiografischen Roman „Die Welt von gestern“ las, war ich von nachfolgender Textstelle besonders beeindruckt:

„Was man man an seinen Muskeln versäumt hat, holt sich später noch nach; der Aufschwung zum Geistigen, die innere Griffkraft der Seele dagegen, übt sich einzig in jenen entscheidenden Jahren der Formung, und nur wer früh seine Seele auszuspannen gelernt hat, vermag später die ganze Welt in sich zu fassen.“

Schlagartig wurde es mir bewusst: Genau das ist es, was meinem Leben gefehlt hat, was mich schon immer als Mangel bis heute begleitet. Und nun wusste ich, was ich noch einmal leben und erleben möchte, nämlich die Zeitspanne zwischen dem 10. und 23. Lebensjahr, mit den Möglichkeiten, die heute meinen Kindeskindern gegeben sind.

Vor allem jetzt, jenseits von Berufstätigkeit und familiären Verpflichtungen und ausreichender Freizeit, stoße ich immer wieder an meine Grenzen. Es mangelt mir an Grundkenntnissen, die ich mir in den Jahren meiner Bildung und Ausbildung nicht ausreichend aneignen konnte bzw. durfte. Das bezieht sich auf die Allgemeinbildung, auf Sprachkenntnisse und die musische Bildung. In meinem kleinen Dorf gab es nur die Möglichkeit der Ertüchtigung in verschiedenen Sportarten, die ich dann auch umfassend nutzte. Ganz sicher war das auch gut und richtig, ich habe damit die Grundlage für meine Fitness bis ins Alter gelegt. Aber während ich genau das auch später noch hätte erreichen können, gelingt der Aufschwung zum Geistigen im Alter nur mühsam oder gar nicht mehr.

So vieles, was heute mein Interesse weckt, kann ich nur oberflächlich oder fragmentarisch erleben. Manches Schöne, was mir aufgrund einer guten Altersvorsorge möglich wäre, kann ich nicht ausreichend nutzen. Und alle meine Versuche, Versäumtes nachzuholen, scheiterten irgendwann. Ich denke da an meine verzweifelten Versuche beim Erlernen einer Fremdsprache, an meine Malversuche, die an der Technik scheiterten, obwohl ich die Bilder alle im Kopf hatte. Das Erlernen eines Instrumentes habe ich gar nicht erst in Angriff genommen, als ich erfuhr, dass man dafür schon Grundkenntnisse mitbringen sollte.

Ich habe also selbst die Erfahrung gemacht, dass die Jahre der Schulbildung, das Studium und die Ausbildung wahrhaftig die Jahre sind, die darüber entscheiden, wie ausgefüllt und sinngebend das Leben einmal werden kann, wenn man es später entsprechend zu nutzen weiß. Die körperliche Ausbildung dagegen kann man in jedem Lebensalter vervollkommnen. Immer wieder bin ich beim Sport Altersgenossen begegnet, die erst spät in die Körperertüchtigung eingestiegen sind und durch Trainingsfleiß eine beachtliche Fitness erreichten.

Warum ich das hier aufschreibe? Nun, als ehemalige Lehrerin bewegt mich das schon sehr, den ständigen Abschwung in unserem Bildungswesen miterleben zu müssen. Wenn man von der Investition in die Zukunft spricht, sollte man nicht nur an das Klima, die Energieversorgung und die modernen Technologien, bis hin zu KI, denken, sondern in erster Linie an die Erziehung und Bildung unserer Kinder und Jugendlichen.

Sie müssen lernen, „die entscheidenden Jahre“ zu nutzen und für sich auszunutzen, damit sie später erfolgreich im Beruf sind und ein wertvolles Mitglied unserer Gesellschaft werden, aber auch ein sinnerfülltes Privatleben führen können, bis ins hohe Alter. Das bedeutet sowohl Disziplin beim Lernen in der Gemeinschaft als auch eine hohe Selbstdisziplin, wenn man seine Anlagen und Talente vervollkommnen möchte.

Die angestrebte „Selbstverwirklichung“ kann warten, sie kommt später…

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