Zwischen den Enkeln: Heiliges Römisches Reich „Europäischer“ Nation

Ich setze die Enkelbriefe fort. Zwischendurch muss ich erst einmal Folgendes loswerden:

Vor ein paar Tagen habe ich einen Fernsehbericht über die Abschiedsfeiern deutscher Junggesellen gesehen. Ich glaube, auf MDR.

Prag ist ein sehr beliebter Ort dafür. Dort ist den Feiernden viel mehr erlaubt als in Deutschland: Sehr wild und sehr offen. Aber natürlich, Sie ahnen es – alles auf Englisch.

Würde ich deutschen Abiturienten aus der Oberstufe (11. bis 13. Klasse) oder Geschichtsstudenten mitteilen, dass Prag viele Jahrhunderte lang eine zweisprachige Stadt war und sie fragen, welche Sprache neben Tschechisch denn das gewesen sei, würde die überwiegende Mehrheit bestimmt antworten: Englisch. Das befürchte ich. Vielleicht ist es wenigstens bei den Geschichtsstudenten doch nicht ganz so schlimm.

Entsprechend dieses historischen Bewusstseins war das Verhalten der Junggesellen, oft schlichte Gemüter, die bestimmt kein fehlerfreies Hochdeutsch beherrschten. Aber alle konnten Englisch. Sie sprachen ganz selbstverständlich und automatisch so mit ihrem tschechischen „Guide“ und dieser mit ihnen.

Er zeigte dann anhand der Buchungen in seinem Smartphone, dass bestimmt (mindestens) 80 Prozent der Junggesellengruppen, die sich bei seiner Veranstaltungsfirma angemeldet hatten, aus Deutschland und Österreich kamen.

Und trotzdem spielt die Sprache der Kunden bei diesem Anbieter keine Rolle. Es ist noch schlimmer: Die, die das Ganze teuer bezahlen, haben gar nicht mehr das Bedürfnis, in ihrer Sprache angesprochen zu werden. Sie fügen sich eifrig und vorausseilend.

Es ist wie mit dem „Standup-Paddeling“: Sie machen freiwillig das Schwierigere, Unlogischere und das in Anbetracht der Tatsache, dass sie die überwiegende Mehrheit sind und deshalb einen Anspruch auf das für sie einfachere Eigene hätten.

Aber es kommt ja noch Folgendes hinzu:

Prag war im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation – der Wunschtraum unserer Eliten steht in der Überschrift – und im darauf folgenden Deutschen Bund über viele Jahrhunderte eine zweisprachige Stadt. Die Juden, die in Prag lebten, waren zum großen Teil deutschsprachig. Die verwitterten deutschen Namen auf alten Häuserwänden in alten Gassen zeugen heute noch davon.

Der Judenhass der Nazis war nie „national“, sondern immer paranoid rassistisch. Der Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf zu Stauffenberg kämpfte nicht für die Freiheit oder die Demokratie, sondern für das „heilige Deutschland“ (in den Grenzen von 1918). Die Nazis bekämpften auf mörderische Weise nicht nur die Juden selbst, sondern auch ihre Sprache, Jiddisch und zum Beispiel in Prag auch Deutsch, weil sie primär Rassisten waren. Ihr Nationalismus war „nur“ Mittel zum Zweck ihres Rassismus. Jiddisch ist eine mit dem Deutschen nah verwandte Sprache, die deshalb zuweilen auch „Judendeutsch“ genannt wurde.

Was die Nazis nicht geschafft haben, vollenden nun andere Deutsch-Hasser nach deren Schreckensregime: Deutsch, die jahrhundertelang zweite Sprache in Prag, ist getilgt. Wenn es nach den Tilgern geht, bestimmt ein für alle Mal. Und die Deutschen machen wieder eifrig mit; sie verleugnen das Eigene, so wie Juden in der Zeit der Naziherrschaft sich selbst verleugnen mussten, wenn sie eine Überlebenschance haben wollten.

Die erste englischsprachige Universität außerhalb des britischen Reiches wurde 1348 von Karl IV. in Prag gegründet. Das glauben wohl die meisten unserer weltoffenen jungen Leute. Dass es in Wirklichkeit die erste deutschsprachige Universität war, noch bevor sich in Heidelberg in Kern-Deutschland eine solche gründete, können sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Wie auch, wo es doch heute in der Bundesrepublik Deutschland immer weniger Studiengänge gibt, die – immer noch – auf Deutsch und nicht „weltoffen“, auf Englisch gelehrt werden?

Wie soll ein Europa in der Welt eine Rolle spielen, wenn dessen bevölkerungsreichste Nation im Zentrum Europas, seine stärkste Wirtschaftsmacht ohne jedes kulturelles Selbstbewusstsein ist, entleert, entkernt und hohl? Die europäischen Eliten, auch und vor allem die deutschen, die Deutschland unbedingt klein halten wollen, halten damit auch Europa klein.

Sie wollen es bloß nicht wahrhaben und reden – wie Friedrich Merz – von einer deutschen Führungsrolle … … beim Vertreten US-amerikanischer und „europäischer“ Interessen, die aber um Gottes Willen keine deutschen sein sollen und dürfen.

 

Ein Kommentar zu “Zwischen den Enkeln: Heiliges Römisches Reich „Europäischer“ Nation”

  1. FederOhneFlagge sagt:

    Danke für den Text. Ich lese darin den Wunsch, dass Deutsch und deutsche Geschichte nicht verdampfen. Den Wunsch verstehe ich. Ich sehe Identität nur nicht als Nullsummenspiel: Europa war immer mehrsprachig – Prag war deutsch, tschechisch (und jüdisch); Italien ist stolz auf Rom, ohne heute Latein zu sprechen. Stolz braucht keine Monokultur.

    Zur Sprache: Ich bin für Pflege statt Purismus. Gegen sinnfreies Buzzword-Deutsch bin ich ganz bei Ihnen. Maßstab für Wortwahl sollte Verständlichkeit, Präzision und Adressat sein – nicht die Herkunft des Wortes. Anglizismen dort, wo sie etwas genau treffen oder internationale Verständlichkeit schaffen; gute deutsche Wörter dort, wo sie klarer sind. Von „Verdenglischung“ zu sprechen, greift m.E. zu kurz: Lehnwörter sind der Normalfall unserer Sprache – „Fenster“ kommt aus dem Lateinischen, „Konto“ aus dem Italienischen – niemand empfindet das als Identitätsverlust. Man schützt eine lebendige Sprache nicht, indem man andere meidet, sondern indem man sie liebt, benutzt, übersetzt und weitergibt.

    Schwieriger finde ich die NS-Analogie: freiwilliges Englisch in Alltag und Popkultur mit erzwungener Selbstverleugnung verfolgter Menschen zu parallelisieren, verkürzt die Geschichte. Für mich heißt Selbstbewusstsein: gern Deutsch sprechen und ohne Krampf mit anderen reden. Kein Widerspruch, sondern europäische Normalität. Das Eigene bewahrt man durch gelebte Mehrsprachigkeit und Respekt – nicht durch Abschottung.

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