Auf meine alten Tage finde ich plötzlich kleine Kinder süß, besonders knuddelige Jungs. Mir geht’s wie meiner Tante, die an keinem Kinderwagen vorbei kam, immer hineingucken musste und irgendwelche Albernheiten von sich gab.
Darüber war ich viele Jahre erhaben. Mit Kindern konnte ich frühestens etwas anfangen, wenn sie in die Schule gekommen waren. Und jetzt plötzlich mache auch ich mich „zum Affen“, zum Opa-Affen. Das einzige, was mich bremst, ist meine Angst, blöd dazustehen oder gar als einer angesehen zu werden, der gefährlich ist für die Kinder.
Jetzt ist auch noch eine Familie mit einem kleinen Jungen unter mir eingezogen. Ich habe ihn schon gehört, eine herrlich lebendige, unbekümmerte Stimme eines jungen Lebens, das sich anschickt, die Welt zu entdecken.
Wenn ich ihn mal im Treppenhaus oder vor dem Haus treffe, werde ich ihn fragen: Wer bist du denn? Er wird wahrscheinlich nicht antworten. Ich werde ihn weiter fragen: Wohnst du neuerdings hier? Wahrscheinlich wird er wenigstens nicken. Süß, diese verschämte Zurückhaltung.
Seine Eltern werde ich freundlich grüßen. Hoffentlich sind sie noch nicht von der Krankheit dieser Gesellschaft, dem autistischen Für-sich-und-bei- sich-bleiben-Wollen aus Miss-Trauen, befallen. Es wäre so schade, denn die neu entflammende Zuneigung der Alten einer Gesellschaft zu den ganz Jungen hat einen evolutionären Zweck und Nutzen: Die Noch-Schwachen und die Schon-Schwachen, die beide auf die Unterstützung durch die starke „Mittelklasse“ des Lebens angewiesen sind, schenken sich gegenseitig Aufmerksamkeit und Beachtung.
Die Alten haben viel Erfahrung angesammelt. Ehe sie in der Demenz versickert, wollen sie ihre Substanz weitergeben an die, die keine Vorurteile gegen die angebliche Rückständigkeit der Alten haben.
Diese Substanz besteht nicht aus klar konturiertem Wissen, sondern aus kristallisierten Gefühlen. Und die – das kann gar nicht anders sein – laufen in ihrem Kern auf Liebe hinaus, auf Liebe zur Welt und zum Leben. Gerade der, dessen Zeit sich dem Ende entgegenneigt, weiß sie zu schätzen, solange er nicht unter Schmerzen oder anderen schlimmen Beschwerlichkeiten leidet. Dann lässt sich ein Rentnerleben mit den großen Schulferien vergleichen. In ihrer letzten Woche hatte ich fast körperlich gespürt, wie viel wert die schöne Zeit war, die nun fast an ihrem Ende angelangt war.
Diese Weh-Mut macht weich, ermöglicht eine alte oder sogar eine neue Beziehungsfähigkeit, denn das schönste an der Welt und am Leben ist ja doch der andere Mensch, vor allem der noch ganz unverdorbene. Und wenn schon Pflanzen besser wachsen, weil Menschen sie mit freundlicher Aufmerksamkeit ansehen und vielleicht auch mit ihnen „sprechen“, wie muss das dann erst auf Menschen zutreffen, vor allem auf die, die noch ganz jung, so offen und „illusioniert“ sind.
Das liebevolle Streicheln mit Blicken und Worten wird für sie sein, wie mir das leise Säuseln der Blätter im Wind vorkommt: So wie wenn mir Gott mit seiner Hand sanft über den Kopf streicht. Für Junge und für Alte ist das bestimmt wachstumsfördernd. Bei den Kleinen wächst die Seele und der Körper, bei den Alten nur die Seele.
Hoffentlich komme ich mit dem Kleinen von unten ins Gespräch. Ich halte Sie auf dem Laufenden.
Die Kreise schließen sich.
Ein Kommentar zu “Da beißt sich die Lebenskatze in den Schwanz”