Das Narrenschiff. Gedanken zu einem Buch.

Mein bester Freund hat mir „Das Narrenschiff“ von Christoph Hein geschenkt. Mit Ansage. Zuerst hatte er es selbst gelesen und es mir schon hoch zufrieden angekündigt. Erst als ich es in der Hand hielt, begriff ich, dass dies eine Neuerscheinung ist. Kein alter DDR-Klassiker, wie ich zuvor vermutet hatte. Ich wusste nicht einmal, dass Christoph Hein noch lebt. Tut er. Zum Glück. Ich habe mich mit einem Brief bei meinem Freund bedankt. Hier ist er. 

Lieber P.!
Vielen Dank für das Buch! Du hast mir eine Riesenfreude damit gemacht. Ich habe es den ganzen Sommer über gelesen. Ausschließlich an den Wochenenden, um die Freude und den Genuss auszudehnen. Das Buch hat viele Kindheits- und Jugenderinnerungen wieder wachgerufen, auch Erinnerungen an Erzählungen meiner Eltern und Großeltern. Nachdem ich es ausgelesen hatte, habe ich es meiner Mutter geliehen, denn sie hätte das kleine Mädchen sein können, das zu Beginn neben Wilhelm Pieck sitzt. Sie liest noch dran. Ich bin gespannt auf ihre Einschätzung.
Natürlich hat das Buch viel Vertrautes wieder aufleben lassen. Vieles wusste ich noch bzw. wurde wieder erinnert. Aber viele Details waren mir auch neu oder meine Betrachtung ist doch heute eine völlig andere. Zwei Beispiele möchte ich herausnehmen.
Die Parteischule in Ballenstedt. Die kannte ich. Die Spielfreundin meines engsten Freundes seit dem Kindergarten war mit ihrer Mutter dahingezogen. Zum Ende der 4. Klasse. Anfang der 6. Klasse – also ein Jahr später – kam sie von dort zurück und wohnte plötzlich im Nachbarhaus. Susan wurde meine erste Liebe. Bis zur 9. Klasse waren wir zusammen. Noch zwanzig Jahre später habe ich manchmal nachts von ihr geträumt. Ich wusste allerdings nicht, dass die Studenten (wurden die so genannt?) an der Parteischule kasernenartig untergebracht waren. Ausgang nur auf Antrag. Schockiert war ich über die Belegung in Doppelzimmern auch für hochrangige Funktionäre. Im fortgeschrittenen Alter. Mit Kriegsverletzung. Gruselig. Wenn mein Arbeitgeber mich heute auf einer Dienstreise im Doppelzimmer würde übernachten lassen wollen – ich würde meutern. Der Protagonist im Buch wird als Parteistrafe für ein Jahr dorthin geschickt. Vorharz statt Ministerposten. Geschnarche vom anderen Klappbett. Furchtbar! Wie haben erwachsene Leute sich das gefallen lassen können, möchte ich mich heute fragen. Dabei sollte ich es besser wissen. So waren die Zeiten. Sein Vergehen? Er hatte seine – fachlich richtige – Position der Parteiführung gegenüber zu hartnäckig vertreten. Der Rat bzw. die Erkenntnis seines Genossen und Freundes: Du machst den Fehler mit der Partei zusammen, aber du stellst dich nicht gegen die Partei. Das war für mich frappierend, denn ich habe mich dabei erwischt, dass auch ich diese Strategie heute noch an den Tag lege, obwohl ich als ganz junger Mensch nur zwei Jahre lang in der Partei war. Bis heute führe ich Arbeitsanweisungen meiner Chefs aus und mache Vorschläge nur sehr zurückhaltend und auf Nachfrage.
Dann das Hotel Lux. Das kannte ich nicht. Genauer: das Gebäude natürlich schon. Unzählige Male war ich während meiner Zeit in Moskau daran vorbei gelaufen. Aber ich wusste damals nicht, dass hier die Kommunisten aus aller Herren Länder Exil gefunden hatten. Von rauen Sitten unter den deutschen KPD-Exilanten hatte ich gehört. Aber das Ausmaß war mir neu. Im Hotel Lux ging es genauso zu wie im Haus am Moskva-Ufer, wo die Sowjet-Elite wohnte. In diesem Haus hatte ich in den Nullerjahren öfter gewohnt. Home-Sitting würde man heute sagen. Es soll 30.000 Menschen beherbergen. Jede Wohnung hat ihre Geschichte. Im Haus gibt es ein Minimuseum. Berüchtigt die nächtlichen Razzien, während derer der Hauseingang zugeschweißt wurde, um danach Wohnung für Wohnung die Kader rauszuschleifen. So also war es auch im Hotel Lux zugegangen. Furchtbar. Mehr tote KPD-Führungspersönlichkeiten durch Stalin als durch Hitler. Das war wirklich neu für mich. Verwundert oder gar geschockt hat mich die Erkenntnis indes nicht. Sondern mir lediglich ein weiteres Mal klar gemacht, wie verbrecherisch diese kommunistische Ideologie – der ich als Jugentlicher und junger Erwachsener so sehr nachhing – wie verbrecherisch und verdorben sie von Anfang an war.
Lieber P.,
vielleicht können dir diese wenigen Zeilen ein Einblick gewähren in das Gedankenkarusell, das die Lektüre von „Das Narrenschiff“ bei mir ausgelöst hat. Das Buch endet mit dem Niedergang, der Auflösung der DDR. Ungute Parallelen zu unserer gegenwärtigen Situation drängen sich mir auf bei der Erinnerung an den Herbst 1989. Der Wechsel von Scholz zu Merz ist für mich wie der Wechsel von Honecker zu Krenz. Ein letzter Versuch, das Alte du halten. Aber dann kommt was Neues.

5 Kommentare zu “Das Narrenschiff. Gedanken zu einem Buch.”

  1. Karl sagt:

    Lieber Junker Martin,
    ich freue mich über Deinen Beittrag. Der Bezug zur Sowjetunion ist interessant, aber was hat denn Christoph Hein, zum Beispiel, so Denkanregendes geschrieben?

  2. Junker Martin sagt:

    Oh je, Karl, dein Kommentar bringt mich etwas in Verlegenheit. Hatte ich denn „Denkanregendes“ angekündigt? Für mich war es eher ein Schwelgen in Erinnerungen. Mit etwas Anregung zur Reflexion. Das hatte ich teilen wollen. Mehr nicht.

    1. Karl sagt:

      Nein, aber alles, was uns beeindruckt, hat uns zum Denken oder Fühlen angeregt (denke ich jedenfalls). Da hätte ich gern gewusst, welche Deiner Gedanken oder Gefühle das, zum Beispiel, waren.

      Aber man kann viel wollen wollen. Auch einer, den man fragt, kann was wollen, nämlich nicht darauf zu antworten. Das akzeptiere ich.

      1. Junker Martin sagt:

        Aber genau die hatte ich doch beschrieben – meine Gedanken und Gefühle. Daher siehst du mich etwas verwundert. Außerdem ist der Sommer ja auch schon eine Weile her. Und die Zeit so schnellläufig. Nichts für ungut. Schönen Feiertag!

        1. Karl sagt:

          Entschuldige, manchmal bin ich wirklich schwer von Begriff. (Ich hatte meine Erwartungen selbst zu sehr gesteigert.)
          Ich wünsche Dir auch einen schönen Nationalfeiertag, allerdings garantiert ohne Schwarz-Rot-Gold, das mehr als versteckt irgendwo flattert, schon gar nicht aus den Wohnungen von Bürgern wie damals in der DDR, dafür aber immerhin mit offenen Moscheen.

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