Dem „weißen Ritter“ der dekadenten Westpädagogik, meinem (ehemaligen) Weggefährten Berthold gewidmet
Es würde klappen, aber ich darf es nicht. Ich darf ein Kind nicht aktiv führen, um mit ihm ein angemessenes Verhalten zu trainieren, so lange, bis es „sitzt“. Ich darf das Kind nicht führen, sondern soll es, wenn überhaupt, passiv begleiten, ihm hinterherlaufen, nur das mit ihm machen, was es selber will und solange es das will. Keine Sekunde länger und keinen Deut neben der Spur des kindlichen Willens. Das ist ein Dilemma. Ich kann damit inzwischen umgehen. Ein Dilemma und jammerschade bleibt es trotzdem.
Ich kenne diese Familie gut. Woher, ist jetzt egal. Sie steht exemplarisch für den modernen Zeitgeist bezüglich Erziehung in Deutschland: Der Wille des Kindes ist heilig, er geschehe. Darüber kommt nichts. Wenn es nicht geimpft werden will, dann wird es eben nicht geimpft. Wenn es nicht auf den Zahnarztstuhl will, dann bleibt ihm dieser erspart, bis die Zahnschmerzen überhand nehmen. Und dann muss es aber unbedingt eine vollkommen schmerzlose Behandlung unter Vollnarkose sein. Die Eltern gehen von Zahnarzt zu Zahnarzt, bis das möglich ist. Und sie schaffen das – in Deutschland.
Aber ist das Leben so? Kann das Leben vollkommen schmerzlos sein? Und wann, ab welchem Alter muss ein Kind lernen, zu akzeptieren, dass es nicht so ist?
Die Eltern haben eine General-Begründung, warum das, was alle Kinder im Laufe ihres Lebens lernen müssen – es geht nicht nach ihrem Kopf, es gibt Notwendigkeiten, denen sich alle Menschen unterordnen müssen – bei ihrem Kind nicht funktionieren kann: Es „hat“ Autismus und ADHS.
Bebend vor Angst betrachten die Eltern ihr Kind. Bahnt sich etwa wieder eine neue Welle der Empörung an, der Wut über etwas, das ihm nicht passt? Schnell werden dem dicklichen Kind Leckereien hingehalten. Wenn es Hunger hätte, müsste es ja wütend werden müssen, ganz zurecht. Davon sind die Eltern überzeugt. Sie wissen ganz genau, wer „schuld“ ist, ihr Kind selbst jedenfalls nicht; das ist schon einmal 100prozentig sicher.
Oder ist das Kind empört, weil es dunkel wird, ohne dass der Himmel eine Aufforderung dazu von ihm bekam bzw. es zumindest seine Zustimmung dafür gegeben hätte. Der Vater ist überzeugt, dass diese Verrücktheit nur dem Autismus entspringen könne. Dabei hatte Jirina Prekop, die 2020 verstorbene deutsch-tschechische Kinderpsychologin, das in ihrem Bestseller „Der kleine Tyrann“ als typisches Beispiel für gelerntes ego-zentrisches, herrschsüchtiges Verhalten beschrieben.
Ein Kind wird so extrem falsch erzogen, dass das, was dabei herauskommt, einfach nicht menschengemacht, elterngemacht sein kann, sondern unbedingt biologischer Natur – krankhaft, entwicklungsgestört – sein muss. Dabei ist das immer eine Mischung, immer überlappen sich Biologisches und Soziales gegenseitig. Schlimm wird es, wenn die eine Welle die andere noch verstärkt, anstatt ausgleichend zu wirken. Es kann biologisch tatsächlich schwierig sein. Zugegeben: Dieser Junge – nennen wir ihn Ben – hat tatsächlich autistische Züge in seinem Wesen und in seinem Verhalten und das nicht nur ein bisschen, sondern schon stark ausgeprägt.
Die Eltern ziehen den falschestmöglichen Schluss: Keiner darf sein Verhalten kritisieren, es ist durch die Diagnose sakrosankt und muss und wird genauso bleiben bis an sein Lebensende. Das Kind ruht wie ein König in der Mitte seiner Welt und alle anderen rotieren um ihn herum, um Konflikte zu vermeiden, um es ihm recht zu machen. Dann ist er auch zufrieden und lieb wie ein frisch gesäugtes Baby. Aber wehe, die Eltern haben es verpasst, heraufziehendes Unbehagen zu erkennen und schnell das zu tun, was der Riesenbaby-König will.
Darin sind sie echt gut. Sie wehren sich zwar vehement gegen jedes Training, gegen jedes konsequente Einüben von Verhalten. Aber für sie selbst gilt das nicht. Sie trainieren mit höchstem Einsatz, zwar nur sich selbst, auf keinen Fall ihr Kind. Aber immerhin, ein Anfang ist gemacht. Sie legen die Latte hoch, kaum eine andere Bezugsperson ist so hochtrainiert, so abgestimmt auf Ben, wie sie es sind. Ein Lehrer zum Beispiel kann nicht, beim besten Willen nicht, nur auf ein einzelnes Kind fokussiert sein und es ihm recht machen, damit es nicht wütend werden „müsse“, weil seine „Bedürfnisse“, die der königlichen Majestät Kind, nicht rechtzeitig erkannt und schnell genug befriedigt wurden.
Da es aber an jedem Tag bei seinen Eltern genau in dieser Erwartung, in dieser Anspruchshaltung, dass es ein „Menschenrecht“ darauf habe, bestärkt wurde, entstehen wieder schnell Enttäuschung, Stress und Frust, so stark, dass das unbedingt einen besonderen, geheimnisvollen Grund – Autismus, ADHS – braucht. Da beißt sich die Mieze in den Schwanz. Und schon wieder sind die Eltern bestärkt: so krank, so schwer behindert ist unser Kind. Und die Lehrer und Sozial- und Sonderpädagogen sind alle nicht auf der Höhe der Zeit, sie sind nicht genug spezialgebildet, sonst hätten sie unserem armen Kind vorher gegeben, was es braucht. Man muss also das Erziehen nur schlimm genug falsch machen, schon kann es nicht mehr an einem selbst liegen, sondern äußere Umstände, die Natur, die Biologie sind schuld.
Ben braucht aber etwas anderes, als die Eltern denken. Neben einer wohlgesonnenen Zuwendung und Optimismus („Liebe“), die immer die Grundvoraussetzung jeder gelingenden Erziehung (und auch Beziehung) sind – da sind sich, sozusagen in der Präambel, noch alle einig -, braucht es Struktur und die Konsequenz, dem Kind zu helfen, sich an diese anzupassen, anstatt ständig und immer nur umgedreht.
Das wäre eine professionelle Fokussierung auf das, was das Kind braucht. Die Eltern sehen es vor lauter blinder Liebe anders: Es braucht immer nur das, was ihm selbst gefällt und was es haben will. In allen offiziellen Ratgebern steht das: Das Kind unbedingt nur positiv beeinflussen. Keine Kritik, sondern nur Bestärkung, Lob und Belohnung. Benimmt sich das Kind nicht katastrophal schlecht, sondern nur schlecht: Lob: „Das machst du (aber) gut“, benimmt es sich tatsächlich gut, dann gerät das Loben und Bestärken außer Rand und Band: Die Eltern sind wie verrückt, sie tanzen wie Rumpelstilzchen im Kreis, klatschen in die Hand, wischen sich schnell den Schaum vom Mund und kriegen sich wieder nicht ein: Das hast du sooo guuut gemacht. Das ist die „weiße Pädagogik“, die in Deutschland herrscht, abgeleitet vom allgemeinen Gutmenschentum und in Verbindung mit ihm.
Damit sorgen die Eltern selbst für den Misserfolg in der Zukunft, denn eine Steigerung ihrer Bestärkung ist nicht mehr möglich. Die Maßstäbe verrutschen vollständig. Es kommt ein Prozess in Gang wie bei einem Drogensüchtigen: Er will immer mehr von dem, was ihm gefällt, was ihn „high“ macht. Wirkliche Liebe wäre, ihm zu helfen, die Schmerzen des Entzugs durchzustehen. Schmerzen und Königs-Kind – das schließt sich aber in den Augen der Eltern von vornherein vollkommen aus (siehe oben: Impfung, Zahnarzt). Dann sollen lieber alle anderen, auch andere Kinder leiden, die den plötzlichen Attacken eines missgelaunten Königs ausgeliefert sind. Es wäre einmal interessant zu erfahren, wie die Eltern von Ben reagieren, wenn ihr Liebling von einem anderen, stärkeren Kind mit Autismus und ADHS attackiert wird und dessen Eltern sagen, dass sie da leider nichts machen können, denn ihr Kind wäre schwerbehindert. Sie hätten es schriftlich vom Amt.
So ist es in einer Welt der Sonderrechte und Sonderpädagogen. Ich stelle mir vor, wie das im Straßenverkehr wäre: Immer mehr Autos mit Sondersignalen, Sirene und Blaulicht. Was passiert denn nun, wenn sie aufeinander treffen ? Wer hat denn jetzt Vorfahrt? Gilt jetzt wieder rechts vor links und das, was die Ampeln zeigen, die noch an sind? Es wird wohl so werden und das wäre gut: Gleiche Rechte für alle! Die Welt streckt sich nicht mehr nach einzelnen besonderen Problemfällen aus, sondern diese werden befähigt, sich – wie alle anderen – nach der Welt auszustrecken und zu richten, in der sie leben. Welcher Unterschied bleibt zwischen „Normalen“ und „Behinderten“? Die Letzteren bekommen mehr Hilfe, sich an ihre Welt anzupassen (wie alle anderen) und sie bekommen mehr Zeit, mehr Übungseinheiten, mehr Wiederholungen dafür.
Es ist ja nicht nur so, dass die Eltern Ben das richtige Verhalten nicht antrainieren, sondern sogar so, dass sie im Gegenzug für eine intensive Einübung des falschen Verhaltens „sorgen“. Über Jahre hat Ben gelernt, zum Beispiel, dass es keinen Unterschied macht, ob er auf seinen Namen hört oder nicht. Die Eltern nehmen es so oder so hin; es hat keine Konsequenzen für ihn, wenn er es – gelassen gelangweilt – ignoriert, dass seine Eltern nach ihm rufen. Das ist hochgefährlich. Der Junge macht ein Spiel daraus, verschwindet einfach („Fang mich doch, du altes Loch!“) und weiß gar nicht, dass er sich im Straßenverkehr und auf unbekanntem Gebiet selbst gefährdet, und zwar ernsthaft.
Aber die Eltern müssen und wollen das einfach hinnehmen. Sie sind hochtrainiert, wie gesagt. Aber lange wird der ältere Vater es nicht mehr schaffen, seinem Sohn hinterherzukommen. „Da wir uns konsequent weigern, unseren Sohn zu trainieren (wie das gehen kann, gleich darunter), müssen wir dann eben die Folgen tragen und er entwischt uns, gefährdet sein Leben und seine Gesundheit“, müssten sich die Eltern ehrlicherweise sagen. Sie tun’s nicht. Sie verdrängen es. Das ist das, was in der Überschrift steht: Um dem Sohn kleine konkrete Zumutungen zu ersparen, riskieren die Eltern dann das Ganze. Das ist so wie ein „Gut-Lehrer“, der sich empört weigert, einen Jungen nachsitzen zu lassen oder ihm andere konkrete Strafen aufzuerlegen – das wäre ja schwarze Pädagogik (schüttel, schüttel) – und der dann aber mit den Schultern zuckt, wenn er „sitzenbleibt“ und ganz aus dem Bildungsgang herausfliegt.
Bei dieser doppelten und dreifachen Fehlerziehung wundere ich mich ehrlich gesagt, dass Bens Sozialverhalten nicht noch katastrophaler ist. Er muss wirklich einen guten Kern haben, da er dem hochkonzentrierten Anti-Erziehungstraining, das er bei seinen Eltern nun schon ein paar Jahre durchmachen muss, wenigstens zeitweise und zum Teil widerstehen kann. Offenbar gab es im Kindergarten und gibt es in der Schule wenigstens ein paar Pädagogen, die dran geblieben sind bzw. bleiben, ihm eine äußere Struktur als Lebenshalt zu vermitteln, und die sich nicht wie seine Eltern ihm rückgratlos anpassen: Da können wir nichts machen. Haben schon alles versucht. So ist er nun mal. Akzeptiert das endlich!
Wie geht so ein Training, auf andere zu hören und Rücksicht auf sie einzuüben?
Ich behaupte, an ein paar Nachmittagen hätte ich Ben beigebracht, auf seinen Namen zu hören. Allerdings erreiche ich das nicht mit Diskutieren, Erklären und Begründen, sondern nur mit praktischem Einüben, und ich muss mich dabei durchsetzen können, das sein dürfen, was jedes Kind braucht, nämlich ruhig-starke Bezugspersonen, die nicht schwanken im Auf und Ab der Gefühle und des Lebens, die „grundlieb“ sind und trotzdem auch „Boss“ sein können, wenn es darauf ankommt. Und das erinnert tatsächlich ein wenig an „Dressur“. Entscheidend ist, wie ich einen jungen Menschen, der noch keine bewussten Entscheidungen treffen kann, der mit Sprache noch nicht richtig zu erreichen ist, „dressiere“, mit Liebe und Geduld oder herrisch und lieblos.
Ich würde es wie ein Spiel gestalten: „Wir spielen jetzt mal Zirkus. Du gehst im Kreis, ich binde dir ein Seil um den Bauch und du bewegst dich nach Kommandos: Gehen, leichter Trab, schnelles Laufen, Schleichen, Entengang und Ähnliches.“
Er lernt, ein anderer Mensch hat mir etwas zu sagen, er geht mir nicht hinterher, wie meine Eltern das seit Jahren tun mit fragendem Blick: Was willst du jetzt, lieber das oder das? Nein! Dieser Mensch geht sozusagen voran. Er sagt klipp und klar, was er von mir will, und er diskutiert nicht, sondern setzt sich durch. Ich bin am Seil, ich komme jetzt nicht weg. Aber er lobt mich auch für das, was ich schon geschafft habe und er ermutigt mich, noch mehr zu schaffen, gerade durch das Selbstbewusstsein seiner Forderungen.
Ben spürt, ich, Karl, bin stark, und er will auch stark sein. Er spürt, dass er es durch mich werden kann, er stellt eine Beziehung zu mir her. Wir müssen uns mögen, sonst geht es nicht. Ab und zu nehme ich ihn einfach in den Arm und wir bleiben nebeneinander sitzen. Eine große Uhr steht da: Jeweils 5 Minuten und nicht länger. Insgesamt nur eine Viertelstunde aktiver Tätigkeit. Ich appelliere an seinen Stolz: Du schaffst das.
Außerdem bin ich bereit, das Spiel auch umgedreht zu spielen. Ich kriege das Seil um den Bauch, und er erteilt mir die Kommandos. Dieser Wechsel ist eine Belohnung, wenn er seine Zirkustier-Rolle gut gespielt hatte. Bockt er, muss er wissen und erfahren, dass die 5 Minuten gelten. Verzögert er, kommt er eben später zu dem, was er danach selbst machen wollte. Das ist neben der Zuneigung und dem Optimismus die wichtigste Voraussetzung gelingender Erziehung: Die Eltern/Lehrer müssen letztendlich am längeren Hebel sitzen, sie müssen sich in der strategischen Offensive befinden, nur dann können sie erziehen, wie auch nur das Auto gelenkt werden kann, das rollt.
Ben kann beim Zirkusspiel nicht wegrennen, weil er am Seil ist. Er lernt, sich an Strukturen (jeweils 5 Minuten) zu halten. Es geht gar nicht primär darum, dass ich persönlich mich durchsetze, sondern es geht um die Einhaltung dieser neutralen Strukturen, so wie er sich auch an die Unterrichtszeit halten soll: „Jetzt stehst du nicht auf! Du musst bis zur Pause warten!“ Aber auch hieraus kann noch ein Extra-Trainingsspiel gemacht werden:
Wenn du es gar nicht mehr aushältst, sitzen zu bleiben, fragst du mich (oder die Eltern, den Lehrer): „Darf ich aufstehen? Bevor du das gefragt hast, darfst du auf keinen Fall aufstehen! Fragst du es, darfst du am Beginn dieser Übung zur Belohnung gleich aufstehen, aber du wirst mit dem Blick auf die Uhr lernen, ein, zwei, drei … Minuten zu warten.“ Da wäre schon mal zwischen dem motorischen Impuls „Ich will aufstehen“ und seinem Vollzug ein verbales Innehalten („Darf ich aufstehen?“) gesetzt, das sich immer weiter verlängert. Wenn Ben einfach aufsteht, ohne zu fragen und wegrennt, müssen die Erziehenden in der Offensive bleiben, sie müssen ihn entschlossen „maßregeln“. Er kann die Maße eines guten Lebens nicht von allein kennen. Das müssen die Erziehungsverantwortlichen mit ihm regeln. Sie müssen ihn packen und bestimmt zu seinem Stuhl zurückbringen. Rebelliert er, gibt es eine Auszeit, zum Beispiel auf der „stillen Treppe“ und natürlich ohne Smartphone oder Tablet.
Ein absolutes „Geht nicht!“ Das wäre ja „schwarze Pädagogik“! Lieber soll Ben bei Intelligenztests aufstehen und sie abbrechen. Dann hat er eben nur einen IQ von 70, Hauptsache wir hatten ihn vorher nicht dazu „dressiert“, sitzen bleiben zu müssen und es dann auch zu wollen und zu können, bis er eine Aufgabe erledigt hat. Dann ändert sich eben sein ganzer Bildungsweg, und er wird als geistig stark beeinträchtigt eingestuft. Das ist das, was in der Überschrift steht: Um kleine Zumutungen zu vermeiden, wird das ganze große Leben kaputtgemacht, und Ben kann leider keinen Schulabschluss erreichen, weil es verboten war, ihm das dazu nötige Verhalten anzutrainieren.
Die Eltern wollen aus dummer, blinder, zumindest kurzsichtiger Liebe lieber Hubschrauber- oder Protheseneltern bleiben. Sie wollen unbedingt eine unentbehrliche Prothese für ihr Kind bleiben. Sie können und wollen nicht loslassen, sondern unersetzlich für ihn bleiben. Manche Menschen können kein Blut sehen, Bens Eltern können keine Tränen sehen, jedenfalls die ihres eigenen Kindes nicht. Deswegen schaffen sie ihm eine Scheinwelt, in der sie ihm alles recht machen. Würden sie Ben erziehen, konsequent erziehen, würden sie sich überflüssig machen. Er würde lernen, sich den Notwendigkeiten des Lebens anzupassen, ganz ohne ihre Hilfe. Dieser Gedanke muss für sie unerträglich sein.
Ben ist in Wirklichkeit geistig sogar überdurchschnittlich fit. Ich wette, ich könnte ihm auch in relativ kurzer Zeit Schach beibringen, wenn ich mich nur durchsetzen dürfte, wenn ich nur dafür sorgen dürfte, dass er jeweils immer eine Weile sitzen bleibt, bevor er dann auch aufstehen und sich bewegen darf. (Jede Selbstbeherrschungsleistung muss nicht nur „erzwungen“, sondern auch belohnt werden.) Ben durfte nie das Verhalten, insbesondere Ausdauer und Selbstbeherrschung, lernen müssen, das nötig ist, seine hohe Intelligenz zur Geltung zu bringen. Es ist so einfach: Selbstliebe entsteht nur, wenn andere Menschen, die mir nahe sind, mich lieben. Und Selbstbeherrschung? Entsteht auch nur, wen Menschen, die mir nahe sind und denen ich vertrauen kann, mich vorher beherrscht haben. Schrecklich! Schon wieder ist sie da, die schwarze Pädagogik! Schnell her mit dem Weihwasser der weißen, damit ich die schwarze so lange damit bespritzen kann, bis es durchdringend nach „Gut-Pädagoge“ duftet.
Die spielerische Einübung, die die „Mutter der Erziehung“ ist (nicht der „Eltern- oder Lehrervortrag“) so wie die Wiederholung, hat noch mehr Dimensionen: Zum Beispiel den Wettbewerb: Wie viele Sekunden brauchst du beim Schnellrennen, wie viele beim Schleichen? Disziplin und Spaß müssen sich keinesfalls ausschließen, aber der Spaß ist jedenfalls nicht die entscheidende Größe.
Erst jetzt kommt das Wichtigste beim „Zirkusspiel“:
„Wenn ich ‚Ben‘ rufe, bleibst du sofort stehen, siehst mich an und hörst genau auf das, was ich dir sage. Das wiederholst du mir dann. Zum Beispiel: ‚Ben kann hören‘. Wenn das 10mal hintereinander klappt, können wir schon eher mit dem Zirkusspiel aufhören bzw. wechseln und du bist dran und der Chef. Außerdem diktierst du mir, wie ein Wort aus dem Satz, das du dir aussuchen kannst, geschrieben wird, zum Beispiel „b-e-n“ oder „h-ö-r-e-n“ aus dem Satz.“ Ben geht immerhin schon in die 2. Klasse. Das muss ausprobiert werden, vielleicht klappt es auch nicht, vielleicht aber auch doch, wenn ich als der Starke, Verantwortliche, der führen muss, die Geduld nicht verliere,
In den folgenden Tagen kommt immer wieder die Probe aufs Exempel: Schaffst du es immer noch, stehen zu bleiben, mich anzugucken und dir zu merken, was ich sage, wenn ich deinen Namen rufe? Klappt das auch bei der Oma, den Eltern und den Lehrern? Wenn ja, müssen wir die Zirkus-Übung nicht mehr durchführen, können es aber, wenn du Spaß daran hast und es willst, immer noch tun. Wenn nein, müssen wir sie wiederholen, bis du dieses Verhalten sicher und stabil verinnerlichst hast. Das wäre auch kein Beinbruch, sondern die logische Folge, die dann unaufgeregt, sozusagen naturgesetzlich in Kraft tritt.
Das, was die Eltern so mit ihrem Kind einüben, überträgt sich natürlich auch auf die Lehrer und die Schule. Die Eltern hatten Ben ein so hohes Maß an Anspruchsdenken angewöhnt, dass die Lehrer zwangsläufig scheitern mussten, wenn sie es wagten, nicht der Spur seines Denkens und Wollen zu folgen, sondern Forderungen zu stellen, die in eine andere, neue Richtung führten. Jetzt geht es andersherum. Jetzt erfolgt eine „Schubumkehr“ des Denkens und Verhaltens. Eine so dringend nötige, nicht nur für Ben, sondern für das Erziehungs- und Bildungswesen in ganz Deutschland, wenn wir nicht untergehen wollen.
Die „weiße“ dekadente Pädagogik des Westens ist also: Nichts machen, was ein Kind in dem Augenblick nicht selbst will oder es gar bestrafen mit Stubenarrest, Nachsitzen oder Strafarbeiten. Um Gottes Willen, das wäre ja die „schwarze Pädagogik“, die es nur in Diktaturen oder bei Autokraten gibt. (Und wir wissen ja, wo sie hinführt, direkt in den Faschismus.)
Die weiße Westpädagogik macht es besser: Sie lässt die Menschen, denen sie Erziehung, wenn nötig, auch konsequente, vorenthalten hat, als das in ihrer Kindheit und Jugend noch möglich gewesen wäre, gnadenlos fallen, wenn sie sich nun als junge Erwachsene als nicht lebensfähig erweisen.
„Tausendmal ist es passiert“, tausendmal konnte ich zu spät kommen und auch alkoholisiert sein. Und nichts ist passiert, in der Schule nicht und auch nicht in der Familie. Der Junge/das Mädchen kommt in der Pubertät. Er/sie braucht immer wieder neu unser volles Verständnis. Das ist auch richtig. Er/sie braucht immer wieder die volle Einfühlung. Der Fehler liegt darin, empathischen Optimismus bzw. umgedreht gegen Strenge und Konsequenz auszuspielen. Das ist kein Gegensatz, sondern einfühlendes Verstehen ist die Grundlage und Voraussetzung einer konstruktiven Konsequenz.
Ist sie nicht rechtzeitig da, noch in der Kindheit, wird ein junger Mensch den wilden und gefährlichen Strudeln des Lebens in einer „freien“ und „weltoffenen“ Gesellschaft psychisch geschwächt ausgeliefert. Er durfte nicht im sicheren Bassin trainieren, musste dort nicht schwimmen lernen, auch wenn er keine „Lust hatte“, sondern war verschwunden ohne Konsequenzen. Hat draußen außerhalb der Schwimmhalle seinen Spaß gesucht und gehabt. „Wir waren doch alle mal jung, der Ernst des Lebens kommt noch früh genug.“ Das ist die weiße Pädagogik in Reinkultur.
Maxim ist ein junger Mann, der auf diese Weise gnadenlos scheitern musste. Schauen Sie sich diese MDR-Reportage an. Nachsitzen und jede Form der konsequenten Erziehung war verpönt, so lange sie noch möglich gewesen wäre. Die alleinerziehende Mutter wurde allein gelassen. Rauchen und Drogen auf dem Schulhof waren normal: „Wir wollen doch nicht restriktiv und von oben herab eingreifen in das Leben junger Menschen, sondern ihnen die Chance geben, selbst herauszufinden, was gut für sie ist“.
Aber dann plötzlich, als Maxim harte Drogen nimmt, ist „Schluss mit lustig“. Verpasst er es, alle Unterlagen rechtzeitig einzuholen, hat sich die Langzeittherapie erledigt. Jetzt plötzlich muss er die volle Verantwortung für sein Verhalten übernehmen, nachdem ihm diese Gesellschaft der weißen Pädagogik jahrelang beigebracht hat, dass sein Verhalten keine praktischen, konkreten Folgen für ihn hat.
Aber jetzt geht es plötzlich um Leben und Tod. Maxim bezahlt die Konsequenzlosigkeit der Gesellschaft, in der er aufgewachsen ist, mit der Gefährdung seines Leben. Strafarbeiten sind schrecklich und verboten – schwarze Pädagogik! -, aber die „Todesstrafe“ für Jugendliche, die sich lange genug falsch entwickeln dürfen mussten, ist es nicht.
Das ist es, ein Credo meines gesamten pädagogischen Denkens. Veröffentlicht am 30. Oktober 2024.