Lebenslinien im Dialog erkennen – Meta und Karl I: Die Quintessenz unseres Lebens

Ich denke gern und viel über mein eigenes Leben nach, sozusagen im Monolog, vorzugsweise bei langen Spaziergängen oder eher Wanderungen, weil ich bei dieser Art Gehen nicht schlendere, sondern straff laufe. Dabei führe ich gern Selbstgespräche zu dem, was mich beschäftigt, zum Teil das, was mich über Jahrzehnte ausmacht und zum Teil das, was aktuell anliegt. Das Gegenstück zum Monolog, das dieser braucht, wenn er fruchtbar bleiben bzw. werden will, ist der Dialog. Am liebsten führe ich ihn mit Menschen, die ich (gut) kenne, die mir nahe sind, auch wenn das mehr aus der Vergangenheit herrührt als aus der Gegenwart. So ein „Fall“ bist Du, liebe Meta.

Wir sind ja beide ungefähr in einem Alter und können auf mehr als 70 Jahre Leben zurückblicken. Was ist die oder eine Quintessenz dieser 70 Jahre für Dich? Bei mir ist es die Zugehörigkeit. Je älter ich werde, desto mehr möchte ich dazugehören, einen Platz in einer Gruppe von Menschen haben, die mir wichtig sind. Ich möchte zu ihnen gehören. In meiner eigenen „alten“ Familie ist mir das nur zum Teil gelungen. Ich wäre gern in einer Großfamilie der Großvater gewesen und hätte mit meinen Kindern und Enkeln zusammengelebt, allerdings mit einem eigenen Rückzugsbereich, Zimmer und WC.

Jetzt gehöre ich zu meiner Lebensgefährtin und habe meine eigene kleine Kernfamilie, und ich besuche zwei meiner drei Söhne und ihre Kinder regelmäßig. In einem Fall habe ich das Glück, dass er in der Nähe wohnt und dass ich meinen Enkel an einem festen Tag in der Woche von der Schule abholen und den Nachmittag bis zum Abendbrot mit ihm verbringe. Beim Abendessen ist dann auch mein Sohn dabei. Dieses regelmäßige Erleben der familiären Zusammengehörigkeit stärkt meine Seele, weil es mich sozusagen „senkrecht“ einbindet, nach unten hin in meine eigene Persönlichkeitsgeschichte und nach oben hin, weil klar ist, dass die beiden eine Zukunft nach mir haben, mit der auch ich zu tun habe, weil ich beide in der Vorgeschichte dieser Zukunft begleitet habe. Das begann schon früh, als mein Enkel vielleicht ein Jahr alt war.

Zum Glück gehört inzwischen auch wieder mein Bruder in diese Zusammengehörigkeit. Die Berührungspunkte unserer Leben sind gering und doch gibt es Wesensmerkmale aus „alten Zeiten“, die uns verbinden. Das meine ich nicht nur in Bezug auf unsere Kindheit, sondern auch bezüglich unserer gemeinsamen Vorfahren, unter denen offensichtlich welche waren, die sich zur „Melancholie“ hingezogen fühlten. Ich meine damit etwas Positives, nämlich die Weh- oder Schwermut, also einen Mut, auf nachdenkliche Weise traurig zu sein. Das gefällt uns, scheint mir, beiden.

Meine Cousine, die Tochter der Schwester meines Vaters, ragt auch noch aus diesem alten Urgrund meines Lebens hervor. Bruder und Cousine gehen auch über in eine andere, nämlich „waagerechte“ Zusammengehörigkeit, zu der auch mein „einziger Freund“ gehört und die auch der Gegenwart zuzuordnen ist.

Noch mehr „waagerecht“ gegenwärtig ist die Beziehung zu meiner Lebensgefährtin. Wir bauen uns beide ein neues Leben auf und wir können das, obwohl wir beide schon eine lange Vergangenheit ohne uns haben. Was ich vermisse, sind Freunde vor Ort, mit denen ich Sport treiben, Tischtennis und eine Art „Hilfstennis“ (mit einem Ball aus Schaumgummi) spielen und mit denen ich politisch diskutieren kann.

Schließlich habe ich auch schon immer die Zugehörigkeit als ein nationales Zuhause empfunden. Wenn alles wegbricht, wenn alles scheitert, die eigene Familie, der eigene Beruf und Freundschaften, können Franzosen, Briten, Spanier, Italiener, Türken, Polen usw. sagen: Aber meine Nation, die bleibt mir, ich bin immer noch ein stolzer Franzose, Brite…., und ich weiß, dass meine Landsleute und ich zumindest im Ausland zusammenhalten werden. Was kann ein Deutscher heute sagen: Mir bleibt immer noch die EU? Oder die Weltgemeinschaft oder das Universum?

Ich hatte mich in meinem ganzen Leben nie primär als DDR-Bürger, sondern immer schon als Deutscher gefühlt. Der Aufruf „Für unser Land“ zur Wende von Christa Wolf und anderen zur Erhaltung der DDR durch ihre revolutionäre Umwandlung erschien mir schon immer geschichtslos, genau wie heute die Bestrebungen in Hongkong und Taiwan, dort eine separate westliche „Demokratie“ gegen die Einheit und Ganzheit der chinesischen Nation erhalten zu wollen.

*

Ja, lieber Karl, nun erwartest du wohl zu Recht, dass ich auf deinen ersten Aufschlag reagiere. Das will ich gern tun, nicht zuletzt, weil ich mich dir noch immer sehr verbunden fühle, auch wenn unsere Lebensgeschichten im Laufe der Zeit merklich auseinander gedriftet sind.

Die Quintessenz aus meinem nun schon sehr langen Leben kann man vielleicht in drei Begriffe fassen, die nicht reibungslos zusammenpassen: eine nicht versiegende Neugier auf Menschen, eine kompromisslose Eigenständigkeit und die Lust auf Altruismus. Bis heute knüpfe ich gern und schnell neue Bekanntschaften, pflege innige Freundschaften, ohne über neue Freunde die alten zu vergessen, und habe ein großes Wohlwollen auch für Menschen, die von anderen gern übersehen werden. Andererseits warnt mich meine Eigenständigkeit davor, Niederlagen und Schicksalsschläge allzu offenherzig vor meinen Freunden auszubreiten – von wenigen Ausnahmen abgesehen. Und was die Schicksalsschläge betrifft, so hat mich das Leben mit einer überdurchschnittlich großen Portion bedacht. (Wer möchte, kann hier zurück blättern und meine ersten Beiträge noch einmal durchlesen.)

Ich war gezwungen, das Sprichwort „Was mich nicht umbringt, macht mich stark“ mit allen Konsequenzen zu verinnerlichen. In der Rückschau wundere ich mich zunehmend darüber, mit welcher Bravour ich immer mal wieder mit dem Kopf durch die Wand gebrettert bin: Austritt aus der Neuapostolischen Kirche mit 18, Parteiverfahren und Strafversetzung aus Anlass der Biermann-Affäre, Dissertation ohne Auftrag und Aspirantur, zweite Schwangerschaft und Verzicht auf die Angabe der Vaterschaft, um die Familie des verheirateten Erzeugers zu schützen.

Mein Altruismus hat streckenweise die Züge einer Sucht. Viel lieber tue ich meinen Mitmenschen einen Gefallen als selber einen Gefallen in Anspruch zu nehmen. Das Älteste-Schwester-Syndrom. Zu DDR-Zeiten fühlte ich mich geradezu verpflichtet – oder berufen? – , die Bedürfnisse meiner Verwandten, Freunde und Kollegen nach modischer Kleidung befriedigen zu helfen. Als recht talentierte Hobby-Schneiderin machten ich und meine „Veritas“-Nähmaschine auch vor  Jugendweihe- und Hochzeitsroben nicht Halt, ganz zu schweigen von Business- und Faschingskostümen. Wer lief nicht alles mit meinen Kreationen herum und amüsierte sich über die Frage: Hamse das aus’m Westen?  Bis heute lese ich kostenlos diverse Diplom- und Doktorarbeiten Korrektur. Noch immer fressen mehrere Ehrenämter meine kostbarer werdende Zeit auf! Letztlich brauche ich die leichte Überforderung, um mich lebendig zu fühlen.

Der Zusammenhalt in unserer Familie ist auf eine sehr lässige und selbstverständliche Weise eng, ohne dass wir uns allzu sehr auf die Pelle rücken. Gerade feierte mein Vater seinen 100-sten Geburtstag und alle, alle kamen: die 19 Urenkel, 12 Enkel, 5 Kinder, dazu die Lebenspartner. Der Patchwork-Modus greift um sich und eine gewisse Vorliebe für internationale  Verbindungen ist nicht zu übersehen. Meine Schwägerin ist eine gebürtige Polin. Der erste Ehemann einer meiner Nichten war Holländer, eine andere Nichte war mit einem Afrikaner verheiratet. Die gemeinsame Tochter, ein wunderschönes milchkaffeebraunes Mädchen, macht gerade ihren Master im Fach Internationale Kulturstudien. Die Frau meines Neffen stammt aus Brasilien und atmet in rasantem Tempo fremde Sprachen ein. Ihre gemeinsame Tochter verbreitet einen Hauch von Exotik, berlinert aber wie sonstwas. Sie ist so alt wie meine Enkelin und wenn die beiden aufeinander treffen, kommt zwischen ihnen eine Vertrautheit sondergleichen auf. Ich bin entzückt von diesen Promenadenmischungen, die jeder ungesunden Qualzüchtung überlegen sind und unserem in Degeneration begriffenen Genpool mit neuer Lebenskraft auf die Sprünge helfen.

Ich bin eine zufriedene Mutter, die ihre Söhne regelmäßig genießen kann, denn sie wohnen nur 20 bzw. 65 Bahnminuten entfernt. Ich genieße die innige Verbundenheit meiner Söhne, dieser ungleichen und dann doch wieder einander sehr ähnlichen Halbbrüder.  Ihre Ungleichheit ist nur zu einem kleinen Teil genetisch bedingt, zu einem größeren Teil ist sie das Ergebnis  ihrer  unterschiedlichen Sozialisation. Der Ältere ist ein mehr oder weniger typisches Ostprodukt, der Jüngere, ein Jahr vor dem Mauerfall geboren, ist mit einer Denke in den Kategorien von Demokratie und Rechtstaatlichkeit aufgewachsen.

Ich bin eine leidenschaftliche Oma von bisher drei Enkeln. Ich liebe die beiden Mütter meiner Enkel, mir fehlt da jegliches Schwiegermutter-Gen. Ich halte Kontakt zu den Söhnen meines verstorbenen Lebenspartners und bin auch mit ihnen herzlich verbunden.

Über Nation und Mentalität lass uns ein andermal sprechen. Da werden wir wohl kaum auf einen gemeinsamen Nenner kommen.

*

Warum nicht „Flickwerk-Modus“, liebe Meta? Warum musst Du sie unter dem beschönigenden, unscharfen „Milchglas“ eines Anglizismus („Patchwork“) verstecken? Worte sind doch dazu da, möglichst sofort und möglichst scharf zu wissen, was gemeint ist oder nicht? Dir ist das gar nicht wichtig, aber mir. Das sagt auch viel über uns. Aber zurück zum Text:

Einerseits frage ich mich: Siehst Du Deine Lebensgeschichte nicht etwas zu selbstmitleidig? Es war doch ein Riesenglückszufall, dass Deine „Strafversetzung“ in Wirklichkeit eine Beförderung in mehrfacher Hinsicht war: Vom „normalen“ Schullehrer zum Hochschullehrer mit interessanten erwachsenen Lehrer-Schülern aus aller Welt, von der sächsischen Provinz zurück in Deine Vaterstadt Brandenburg/Havel.

Andererseits: Wie konntest Du das existentielle Unglück verkraften, dass Du einem Menschen, den Du offensichtlich liebtest und der der Vater Deines ersten Sohnes war, nicht helfen und nicht retten konntest, obwohl er „nur“ etwas mit der Psyche hatte? In Deinem Alter damals hätte ich mir an Deiner Stelle noch eingebildet, das irgendwie schaffen zu können und wäre zutiefst entsetzt und enttäuscht vom Leben und von mir, wenn mir das nicht gelungen wäre. Bis heute glaube ich, dass die Seele immer durch Liebe zu heilen ist genauso wie die Welt. Und Du warst doch stark und ausdauernd in Deiner Liebe oder etwa nicht?

Liebe Meta, hast Du ein Lebensthema? Als Jugendlicher und junger Mann war ich vom Sinn des Lebens wie folgt überzeugt:

Und die Welt wird sein so schön. Ich sah durch einen Zufall im DDR-Fernsehen Gorkis „Nachtasyl“ und kurz danach „Kinder der Sonne“ (es kann auch sein, dass ich mir dieses zweite Stück als Buch besorgt hatte). Das hat bei mir den Samen für einen Glauben an das Leben und die Zukunft gelegt. Ich habe danach so ziemlich alles von Gorki gelesen, was ich bekommen konnte, auch im Allgemeinen damals unbekannte Romane, zum Beispiel „Foma Gordejew“. Ich war ein Schwärmer. In der gleichen Zeit las ich auch „Weltall, Erde, Mensch“, das alle Jugendlichen damals zur Jugendweihe bekamen. Ich war überzeugt von der unaufhaltsamen Kraft der technischen Entwicklung, wodurch bald mehr produziert werden könnte, als alle (ver)brauchen würden. /1/

Der Großmut würde ins Leben einziehen, das Geld obsolet werden, alle Grenzen würden abgeschafft werden, die zwischen den Staaten, genauso wie die zwischen den beruflichen Schichten. Daher war eine meiner größten Enttäuschungen vom „real existierenden Sozialismus“ der Vermerk in den Impressen der Zeitungen des „Arbeiter- und Bauernstaates“, dass sie „für unverlangt eingesandte Manuskripte keine Haftung“ übernehmen würden. Da war sie wieder die Teilung zwischen denen, die denken und führen konnten und durften, und den anderen, die zu lesen, zu lernen und zu gehorchen hatten.

Ich war bitter enttäuscht und trotzdem immer noch überzeugt, dass ich den „Kommunismus“ noch erleben würde, aber ich begann zunehmend zu ahnen und zu verstehen, dass die DDR-Kommunisten Marx und Engels gar nicht richtig verstanden hatten, sondern dass sie eine Art „Neandertaler Kommunismus“ anstrebten, der weit von meinen Idealen entfernt war. (So ähnlich sehe ich übrigens das Verhältnis zwischen meinem anderen „Idol“ Anton Semjonowitsch Makarenko und der real existierenden [sozialistischen] Pädagogik.)

Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich wunderte, als ich das erste Mal im Ausland war, in Tschechien oder Polen. Ich war bereit, die „rote Fahne“ weit über die Nationalflagge zu stellen und staunte, dass die Polen und Tschechen gerade umgedreht verfuhren. Da bekam mein Glauben an den kommunistischen Internationalismus einen tiefen Riss, und ich begann zu ahnen, wovon ich heute überzeugt bin: Die Nation ist die Ausgangseinheit, die die menschlichen Gesellschaften weiterbringt.

Lustig finde ich, wenn ich heute in linken Szenevierteln lese „No borders, no Nation!“ Dann frage ich mich, wo die Leute, die so etwas an die Wände sprühen und die, denke ich, meistens auf Kosten des deutschen Staates leben, also auf Kosten der deutschen Steuerzahler, ihre Finanzierung herbekommen wollten, wenn es die deutsche Nation nicht mehr gäbe. Von der EU oder den Vereinten Nationen? Pustekuchen! Die leben auch alle nur von den Nationen.

Mein Sinn des Lebens war der Glaube an die Zukunft, daran, dass alles besser werden würde und dass ich dazu beitragen könnte./1/ Worin siehst du den Sinn des Lebens, liebe Meta?

*

Bevor ich was zu den großen Brocken „Selbstmitleid“ und „Sinn des Lebens“ sage, will ich mich zu Patchwork, Home-Office und Code-Switching äußern. Für diese und jeden anderen fremdsprachigen Begriff hast du ja immer gleich einen Vorschlag, wie man es deutsch sagen könnte und sollte. Für die konkreten Beispiele schlägst du Flickwerk-Modus, Heim-Büro und Sprach(Modus)-Umschaltung vor. Einmal abgesehen davon, dass weder Büro noch Modus einen deutschen Ursprung haben (aber sie ließen sich ja zur Not durch Arbeitsplatz und (Sprech-)Art ersetzen), werden deine alternativen Ausdrücke auf der konnotativen und assoziativen Ebene der gemeinten Bedeutung nicht gerecht. Flickwerk und Patchwork sind nun mal nicht dasselbe.

Patchwork wird in erster Linie eine Textiltechnik genannt, bei der verschiedene Stoffstücke miteinander verbunden werden. Ursprünglich ging es nur darum, auf Löcher oder fadenscheinige Stellen einen Flicken aufzusetzen, später wurden kleine Stoffstücke kunstvoll aneinandergenäht und zu Kleidungsstücken, Decken, Wandbehängen usw. verarbeitet. Eine Patchwork-Decke ist heute eine kunsthandwerklich anspruchsvolle Kreation und niemand würde auf die Idee kommen, sie als Flickwerk zu bezeichnen.

Die Patchwork-Familie kann zwar im ungünstigsten Fall ein elendes Flickwerk sein, aber ich würde nicht auf die Idee kommen, jede Familie mit Herkunfts-Mix ein Flickwerk zu nennen. Bei Heim hat sich mittlerweile ein „Geschmäckle“ eingeschlichen (man mag an trautes Heim, Heimchen am Herd, deutsche Gemütlichkeit, … denken), das die Normalsprachlichkeit des Wortes bedroht.  Umschaltung finde ich – wie auch andere Wörter auf -ung nicht optimal, schöner klingt Wechsel. Was ich damit sagen will: Ich habe meistens gute Gründe, auf ein Fremdwort zurückzugreifen. Es sind die Gründe, die beim natürlichen Sprachwandel auch eine Rolle spielen. Was du möchtest, ist ein ideologisch motivierter  und verordneter Sprachwandel.

Der hat in Deutschland noch nie so recht geklappt. Es gab im Laufe der Jahrhunderte nicht wenige Sprachreformer und Sprachpflege-Vereine, die sich vor allem damit beschäftigten, die deutsche Sprache  rein zu halten und ausländische Einflüsse zurückzudrängen. Erst wurden Latein und Griechisch  problematisiert, dann das Französische, jetzt ist Englisch dran. Keiner dieser Reformversuche war gänzlich unvernünftig; albern wurde es immer erst dann, wenn man seinen sprachpflegerischen Impuls mit religiösem Eifer betrieb. So geschehen in der Zeit des Nationalsozialismus. Viktor Klemperer hat darüber ein ganzes Buch geschrieben: „LTI – die Sprache des Nationalsozialismus“.

Natürlicher Sprachwandel hat immer die gleichen Motive: Vereinfachung, Schließung von Benennungslücken, durch neue Varianten die Aufmerksamkeit steigern, einem Modetrend folgen.  Letzteres ist am problematischsten und zeigt sich in der Gegenwart durch ein Übermaß an Anglizismen. Die mag ich genauso wenig wie du, aber ich würde nicht so weit gehen, einen Anglizismus aus Prinzip auch dann zu vermeiden, wenn der deutsche Ausdruck hässlich, umständlich oder semantisch weniger  plausibel ist.

*

Ich will ,,Patchwork“ nicht durch  „Flickwerk-Modus“ ersetzen, sondern einfach nur durch „Flickwerk“. Ich hatte nur Deine Wendung, in der Du „Patchwork“ benutzt hattest, zitiert.

Viel wichtiger ist Folgendes: Du bemühst Dich meiner Meinung nach bezüglich der Anglizismen nicht wirklich – „wer strebend sich bemüht, den könn(t)en wir erlösen“ – wie die übergroße Mehrheit unserer Landsleute auch nicht. Typisch für die Deutschen war es schon immer, nur ein fragiles, zeitweilig auflammendes, aber meistens schwach schwelendes Nationalbewusstsein zu haben. (Zwei Seiten, die sich im übrigen bedingen.) Du schwimmst in der Mitte des Stroms und da schwimmt es sich immer gut.

Wir bemühen uns nur strebend um das, was wir auf irgendeine Weise lieben. Du liebst die Sprachen an und für sich. Das Deutsche kommt danach. Bei mir ist es umgedreht: Ich liebe zuerst das Deutsche und dann die Sprache an und für sich. Daraus ergibt sich alles Weitere bei unserem Streit über Anglizismen.

Auch die deutschen Textilmaschinenhersteller haben sich nicht genug bemüht; sie haben für ihr Produkt einfach einen neuen, unverbrauchten englischen Namen genommen, statt den alten deutschen durch einen neuen Gebrauch aufzuwerten, so wie es die Engländer machen. Sie stellen gebrauchte, abgenutzte Wörter in hochwertige Zusammenhänge und siehe da, die alten „Krücken“ glänzen nun wieder auf neue Weise.

Ich wette, dass die Engländer nicht zwei Worte für „Flickwerk“ haben; sie haben eins, das sie sowohl in technischer wie sonstiger Hinsicht benutzen. Das eine ist gut genug für alle Zusammenhänge. Sie brauchen nicht Abstand von sich selbst wie zum Beispiel deutsche Pubertierende, die das „Ich liebe dich“ auf Deutsch nur noch schwer über die Lippen bringen, es muss unbedingt „I love you“ heißen, genauso wie die Glückwünsche zum „Birthday“.

Oder nehmen wir „Federball“. Wir müssen, wenn wir es turniermäßig spielen, „Badminton“ dazu sagen. Haben die Engländer auch zwei Worte dafür? Nein, ihnen reicht ihr eigenes englisches „Badminton“ für alle Sorten des Federballs. Das Alte zu behalten und nicht einfach gegen Neues auszuwechseln, ist vielleicht ein bisschen so, wie wenn ein Mann seine alte Frau ermutigt, sich eine neue Frisur und/oder andere neue Merkmale zuzulegen, anstatt sich gleich eine ganz neue Frau zu nehmen.

Ich hatte schon versucht, das am Beispiel „Heimbüro“ zu verdeutlichen und davor schon mal am „Prallsack“ – anstatt des „Airbags“ -, der heute genauso üblich wäre wie der „Rucksack“, wenn nur der Wille, das Bemühen da gewesen wäre, das Eigene zu nutzen und dadurch aufzuwerten. Bei der „Lufthansa“ war es da, aber dieser Name wurde auch schon in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aus alten deutschen Wörtern neu zusammengesetzt.

Im Grunde sind also der Kern geschichtlich gewachsene deutsche Minderwerigkeitsgefühle und das in der nach dem Russischen zweitgrößten Sprachgemeinschaft Europas. Bescheidenheit ist sympathisch, aber Minderwertigkeitsgefühle sind gefährlich; sie schlagen leicht ins Gegenteil um. Die deutsche „Kleinmannsucht“, das sprachliche Abducken, der vorauseilende sprachliche Verzicht zum Beispiel in den Organen der EU sind letztendlich genauso destruktiv und „krank“ wie Herrenmenschen-Allüren und Arroganz.

Ich wäre immer noch mit meiner ersten Frau verheiratet, wenn es nach mir gegangen wäre. Die Treue zum alten Eigenen ist für mich – wahrscheinlich  – der wichtigste Wert meines Leben. Meine Ex-Frauen wollten lieber was schickes Neues, so wie es viele Deutsche auch mit den Worten ihrer Sprache halten. Sie wollen weltoffen und fortschrittlich sein; das ist ihnen wichtiger als die Treue zum alten Eigenen.

Ich habe nichts gegen Fremdwörter, die seit vielen Jahrzehnten eingebürgert sind, vor allem, wenn sie nicht englischsprachigen Ursprungs sind. Filme, in denen die Hintergrundmusik englischsprachig ist, müssen schon sehr gut sein, wenn ich sie deswegen nicht wegschalte. Mit französisch-, russisch- oder spanischsprachiger Musik habe ich aber kein Problem, denn diese Sprachen spielen sich in der Welt nicht als „Herrensprache“ auf. Wenn Du meine Beiträge, die ich in der letzten Zeit auf dieser Seite veröffentlicht habe, noch einmal liest, könntest du das aus geschichtlichen Kontexten heraus verstehen. Ich deute dort die Englisch-Tuerei als Stockholm-Syndrom.

Im übrigen ist das Thema jetzt ausgereizt, wir haben schon viele Male darüber gestritten und einen ganzen Themenkomplex dazu (ganz oben, über der waagerechten Titellinie bitte auf „Themen“ gehen und „Mutter Sprache“ anklicken; in der Smartphone-Ansicht oben bitte auf die drei kleinen waagerechten Balken links neben „Suche“ gehen). Ich bemühe mich, das, was Du jetzt noch einmal darauf antworten solltest, in diesem Beitrag dann so stehen zu lassen.

Nur noch eins: Bezüglich des „Sprachpurismus“ in der Zeit des Nationalsozialismus scheinst Du nicht voll informiert zu sein. Ich zitiere Wikipedia:

Während der NS-Zeit lebte diese Tradition [des Sprachpurismus] fort, obwohl bei der Führung Bedenken bestanden, ein zu starker Purismus könnte zur Rückständigkeit führen. Der Allgemeine Deutsche Sprachverein löste sich danach auf.

Im deutschsprachigen Raum denken manche Menschen bei dem Wort Sprachpurismus mitunter an die Sprachpolitik der Nationalsozialisten. Dabei wurde in einem Erlass vom 19. November 1940 „die künstliche Ersetzung längst ins Deutsche eingebürgerter Fremdworte“ ausdrücklich missbilligt.[12] In „Mein Kampf“[13] schreibt Hitler:

„Wenn irgend etwas unvölkisch ist, dann ist es dieses Herumwerfen mit besonders altgermanischen Ausdrücken, die weder in die heutige Zeit passen noch etwas Bestimmtes vorstellen, sondern leicht dazu führen können, die Bedeutung einer Bewegung im äußeren Sprachschatz derselben zu sehen. Das ist ein wahrer Unfug, den man aber heute unzählige Male beobachten kann.“

Victor Klemperer beschreibt in seinem Buch LTI – Notizbuch eines Philologen überdies, dass in der Zeit des Nationalsozialismus gerade Fremdwörter zur Verschleierung verwendet wurden:

„Ein schön gelehrtes Signum, wie ja das Dritte Reich von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte: ›Garant‹ klingt bedeutsamer als ›Bürge‹ und ›diffamieren‹ imposanter als ›schlechtmachen‹. (Vielleicht versteht es auch nicht jeder, und auf den wirkt es dann erst recht.)“

Ich fasse zusammen: Wir unterscheiden uns in dieser Sprachenfrage grundsätzlich: Du willst drüber stehen, Dich interessiert die Sprache, auch Deine Muttersprache, zuerst wissenschaftlich. Ich stecke drin, nicht mit mehr Kenntnissen, sondern mit emotionaler Verbundenheit. Ich liebe mein Deutsch (wie Goethe) und meine deutsche Nation (wie Claus Graf von Schenkenberg und Thälmann). Du bist darüber erhaben. Das sind einfach zwei grundsätzlich ganz verschiedene Lebenstypen. Was besser oder schlechter ist, weiß Gott und vielleicht nicht einmal der.

*

Donnerwetter, da hast du mich jetzt aber bei einer Ungenauigkeit erwischt. Die beiden Zitate (Hitler und Klemperer)  kannte ich tatsächlich nicht. Aber dass ich mit meiner Sicht auf die Sprache in der Mitte des Meinungsstroms schwimme, halte ich für einen unzutreffenden Vorwurf. Hast du den Anlass vergessen, der dazu führte, dass du nach langer Zeit den Kontakt zu mir gesucht und die Einrichtung einer gemeinsamen Web-Seite vorgeschlagen hast? Du warst auf einen Artikel in unserer Landespresse gestoßen, in dem ich die sprachliche Genderei kritisierte.

Und, lieber Karl, du hast einen großen Unterschied zwischen uns treffend erfasst. Ob der schon immer so groß war, weiß ich nicht. Aber ja, ich fühle mich am meisten bei mir selbst, wenn ich einen gewissen Abstand wahren kann. In schlimmen Zeiten kommt dieser Abstand nur zustande, indem meine Psyche die Notbremse zieht und ich die Welt nur noch wie hinter Glas wahrnehme. Das war nach Reinhards Tod der Fall. Ich habe einwandfrei funktioniert, man hat mir wenig angemerkt. Den ultimativen Heulkrampf kriegte ich erst zehn Jahre später, als sich die Notbremse lockerte.

Die Frage, ob unsere Liebe nicht stark genug war, um ihn zu retten, habe ich mir nie gestellt. Du hast vielleicht den Fall Robert Enke verfolgt, das ist der Torwart, der vor seinen Depressionen in den Selbstmord floh. Seine Witwe hat ihre Seelenlage hinterher sinngemäß  so beschrieben: Wir waren beide davon überzeugt, dass man mit Liebe alles überwinden kann. Aber im hintersten Hinterstübchen ahnte ich, dass es auch schlimm ausgehen könnte. Und ich wusste, dass ich mit diesem schlimmen Ausgang irgendwie zurecht kommen würde – genau so empfand ich es auch. Das letzte Jahr vor Reinis Tod habe ich mir immer wieder gesagt: Wenn wir dieses Jahr überstehen, dann können wir alles überstehen. Aber wir haben es nicht überstanden. Und dann galt für mich nur noch eines: Unser kleiner Sohn durfte unter diesem Schicksalsschlag nicht leiden.

Dass du mir Selbstmitleid vorwirfst, halte ich eher für einen Trick, um mich aus der Reserve zu locken. Denn wenn ich eines nicht bin, dann selbstmitleidig. Auch die Behauptung, ich hätte nach der Wende sehr viel Glück gehabt, kommt aus dieser Trickkiste. Zwar stimmt es, dass ich viel Glück hatte, aber das war meist ein „selbstverschuldetes“ Glück. Direktor Kaiser setzte meinen EOS-Besuch durch, weil er große Stücke auf mich hielt. Es kam recht häufig vor, dass er als Schulleiter aus dem Unterricht gerufen wurde. Dann drückte er mir ein Buch in die Hand und ich musste der Klasse während seiner Abwesenheit etwas vorlesen. In der 8. Klasse ging er dazu über, mich mit der Aufforderung „Meta, machst du hier mal weiter?“ als Hilfslehrerin einzusetzen.

Die Fachberaterin Deutsch für Reichstädt und Umgebung war dankbar für jede Erleichterung ihrer Reisetätigkeit von Schule zu Schule; bei mir konnte sie auf diverse Kontrollbesuche verzichten. Nachdem ich wegen  mangelhaftem Klassenstandpunkt bei  der Schulleitung in Ungnade gefallen war, empfahl sie mich an das neu gegründete Institut in Brandenburg, um mich aus der Schusslinie zu nehmen und damit auch sich selbst das Leben leichter zu machen.

Professor Marnette übernahm kurzentschlossen die Betreuung meiner fast fertigen, auf eigene Faust geschriebenen Doktorarbeit, weil er als unbequemer Rückkehrer aus China schnell einen überzeugenden Erfolg brauchte. Die zuständige Sachbearbeiterin für Qualifikationskandidaten verriet mir die klammheimliche Befristung meines Vertrags und bewahrte mich so vor der Arbeitslosigkeit. Ihre regelwidrige Aktion begründete sie damit, dass meine geplante Abschiebung ihr Gerechtigkeitsgefühl verletzt hätte: Warum sollte gerade ich, die sich im Senat für die Rettung vieler Ost-Kollegen  eingesetzt hatte, über die Klinge springen… Die Reihe ließe sich fortsetzen.

Du fragst mich nach dem Sinn des Lebens. Der Sinn des Lebens ist das Leben, nicht mehr und nicht weniger.

*

Das habe ich schon öfters gelesen, und es überzeugt mich überhaupt nicht (siehe den 2. Absatz der darunter stehenden Fußnote 1). Aber machen wir erst einmal einen Schnitt – lassen wir das bis hierhin als Teil I unseres Dialogs unserer Lebenslinien gelten. Bald danach geht es weiter (Teil II), ich habe schon Einiges zu dem Letzten, was Du geschrieben hast, auf der Zunge (bzw. in meinem einzigen Tippfinger).

 

Fußnoten

/1/ Ich verstehe bis heute nicht, warum der „Kommunismus“ nicht wenigstens in den hochentwickelten Staaten eingeführt wird, in denen das so ist, dass mehr produziert werden kann, als alle brauchen. Das ist die Marxsche Idee von den hochentwickelten Produktivkräften als Voraussetzung gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse. Der Kommunismus ist seinem Wesen nach also technik- und wissenschaftsfreundlich und verbindet das mit der Großzügigkeit, dann allen auf diese Weise vom Überfluss des Produzierten geben zu können. Wenn das so ist, will man auch nicht mehr, als man braucht, weil man ja jederzeit sowieso noch mehr bekommen könnte. Man sichert sich ja auch nicht das Wasser, das aus dem Wasserhahn kommt, so lange man sicher ist, dass es kommt. Das geht so lange nicht, so lange es ein Armutsgefälle zwischen den Nationen und den Kontinenten gibt. Alle würden ins Paradies kommen, wo alles kostenlos zu haben ist und das Begehrte in ihre Heimatländer verschicken, wo Mangel daran herrscht.

So, wie ich denke, dass in die Schule zu gehen und lernen zu dürfen, eine Ehre sein müsste, so, denke ich, ist es in der kommunistischen Überflussgesellschaft eine Ehre, zu arbeiten, obwohl man es nicht müsste, denn es gibt kostenlos von allem genug. Und die am höchsten angesehene Arbeit wird die sein, wenn sich Menschen um Menschen kümmern, sie pflegen, sie heilen und/oder erziehen. Da nur ausgeruhte, entspannte Menschen diese Arbeit tun sollen, damit gesichert ist, dass sie dabei freundlich sein und bleiben können, wird diese Arbeit, die so begehrt bei allen ist, obwohl sie nicht bezahlt wird, reichen, denn es wird lange Ruhephasen der Erholung und der Selbstreflektion zwischen den Arbeitsphasen geben, um die Nährwerte der bei der Arbeit gegebenen und erlebten Liebe vollkommen aufnehmen und verarbeiten zu können. Von so etwas war ich fasziniert. Der Gedanke, dass es so kommen wird, machte mich glücklich. Das war für mich der Sinn des Lebens, über mein Leben hinausdenken zu können, es sozusagen in die Zukunft zu verlängern, um dann „von hinten“ die Glücksseligkeit der Zukunft in meine Gegenwart zu holen. Von wegen: „Der Sinn des Lebens ist das Leben“, wie Du, liebe Meta, am Ende dieses Beitrages schreibst. Das gilt nur für noch nicht bewusstseinsfähige Kinder und Tiere. Jeder, der einen geistigen Abstand von seinem gegenwärtigen Leben schaffen kann, jeder, der reflektieren kann, seine Emotionen und Eindrücke zurückwerfen kann auf den Boden eines gedachten Systems, das über die eigene konkrete Lebenssituation in die Zukunft weist, ist zu so einem „erweiterten Sinn des Lebens“ fähig, der mehr ist als das Leben selbst.

Ein Kommentar zu “Lebenslinien im Dialog erkennen – Meta und Karl I: Die Quintessenz unseres Lebens”

  1. Thomas A. sagt:

    Interessant;
    und grossmu(e)tig, dieser Doppel-Beitrag.

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