Gewinnst du die Führung, gewinnst du alle: Die Vorentscheidung (Teil 7.1 von „Mein Weg ins Leben“)

Herr Karius, der Schulleiter des privaten Schulkomplexes in Waldberg, meinte, Cornelia und ich sollten unser pädagogisches Konzept der erweiterten Schulleitung vorstellen. Deren Mitglieder waren er selbst mit seinen zwei Stellvertretern, ein Ehepaar, dem über eine gemeinnützige GmbH der Schulkomplex gehörte, und ein älterer Herr, ein ehemaliger Intendant eines kleinen Stadttheaters, der die Schule mitgegründet und auch Anteile in die GmbH eingebracht hatte. Er hatte den gesamten Kunstunterricht in den oberen Klassen übernommen.

Außerdem waren der Internatsleiter und seine Stellvertreterin dabei. Herr Karius hatte zu meinem großen Glück schon ein hohes Alter erreicht. Er stand kurz vor seiner Pensionierung und musste nur noch ein Jahr arbeiten. Cornelia und ich hofften, dass er mich in diesem Jahr in die Schulleitung einführen könnte, sozusagen als mein Berater, der sich mit der operativen Schulleitung im Laufe des Schuljahres immer weiter zurückziehen könnte.

Wir trafen uns im Oktober an einem Sonnabend um 11 Uhr in der Schule. Ich hatte von vornherein darauf bestanden, dass wir spätestens um 13 Uhr fertig sein müssten. Es war meine generelle Devise für Versammlungen jeder Art, dass alles, was einen Anfang hat, auch von vornherein ein Ende haben muss. Wenn wir nicht in einer „erlauchten“ Runde zusammensaßen, war meine Zielgröße sogar eher nur 1 Stunde. Was in dieser nicht geschafft worden war, müsste dann eben in der nächsten Versammlung aufgegriffen werden.

Spätestens nach 2 Stunden ist die Konzentration sowieso im Eimer, und Cornelia und ich wollten es generell so halten wie beim Essen: Lieber mehrmals weniger essen, als sich auf einmal den Bauch vollzuschlagen. Obwohl: Seitdem wir im Intervall fasteten (16 : 8), aßen wir nur zweimal am Tag und dann doch eher mehr, vor allem zum späten Frühstück. Aber papperlapapp – ich komme ab, wieder mal.

Bei Beratungen im Kollegium wollte ich außerdem folgende einfache Regeln durchsetzen, ich nannte sie scherzhaft Telefonzellen-Regeln:

  1. Fasse dich kurz!
  2. Setze lieber mit Abstand zu einem neuen Diskussionsbeitrag an, als dich in einem langen zu verhaspeln.
  3. Achte genau auf die Ordnung. Bringe einen Punkt erst zu Ende, bevor du einen neuen beginnst.
  4. Lass‘ dem Kollegen Platz für seine Meinung. Wenn du dich selbst kurz gefasst hast, kannst du das auch so von ihm erwarten.
  5. Wiederhole niemals etwas, was andere schon gesagt haben, es sei denn, du willst dich auf einen Teil davon dezidiert beziehen.
  6. Achte darauf, dass der Versammlungsleiter regelmäßig zusammenfasst und festhält, was geklärt ist, am besten in einer bildlichen Darstellung, die für alle Beteiligten sichtbar ist.

Diese Regeln hatte ich vorab auf Handzetteln ausgelegt, mit der Bemerkung: „Ich weiß, dass das leicht arrogant wirken kann, wenn ich hier so etwas vorgebe. Ich bin ja nicht der Schulleiter… Aber ich will es werden.“ Da waren alle baff.

Dieser Überraschungsangriff machte sie sprachlos. In die entstandene Stille hinein sagte ich: „Entweder kann ich Sie überzeugen, und ich übernehme im Laufe des nächsten Schuljahres die Schulleitung, unterstützt von Herrn Karius als Berater, oder das gelingt mir nicht. Dann fangen wir hier erst gar nicht an.“

„Aber erpressen lassen wir uns nicht“, konterte der Inhaber der Schule, Herr Winter, ein promovierter Ökonom. „Das will ich natürlich nicht, Herr Dr. Winter. Aber in bin für klare Verhältnisse. Ich bin nun schon relativ alt geworden und bin es leid, um den heißen Brei herumzureden. Dafür fehlt mir die Lebenszeit.“

„Das gefällt mir, ehrlich gesagt, lieber Herr Karl. Lassen Sie uns Tacheles reden, dann werden wir sehen, ob und was dabei herauskommt.“ – „Also, liebe Kollegen“, hub ich an, „das Wichtigste ist, wir wollen eine Gemeinschafts- oder Beziehungsschule sein. Es gibt keine Kraft, die so sehr bildet und erzieht, nämlich die Schüler, und alle – Lehrer, Eltern und Schüler – so sehr stärkt und ermutigt wie eine Gemeinschaft, ein ‚Schwarm‘ von Menschen, die sich wohlwollend gegenüber stehen.

Dafür braucht es gegliederte und strukturierte Beziehungen. Beziehungen zu Minderjährigen zu gestalten, ist Erziehung. Gute Erziehung ist, dies einerseits so zu tun, dass sich Junge möglichst gut entwickeln können, nicht nur bezüglich ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten, sondern vor allem bezüglich ihrer Persönlichkeit.

Und andererseits diese Beziehungen so zu gestalten, dass die Erziehenden nicht ausbrennen, dass ihr Einsatz ihnen in der Summe mehr Lebensenergie gibt, als sie sie dafür verbrauchen. Erziehung muss leicht sein und Spaß machen, sonst gelingt sie nicht… Jetzt passiert etwas, was in Liebes-Fragen immer wieder geschieht. Erziehung ist letztendlich im weitesten Sinn eine Form der Liebe, nicht zu einzelnen Schülern, aber zu Menschen und zum Leben insgesamt… Ich verwickele mich in Widersprüche. Denn ich plädiere sonst ja gerade für eine sachliche Pädagogik. Von Vielem ist das Gegenteil genauso wahr wie die Ausgangsthese selbst…“

Cornelia sah mich mahnend an. Ich fing wieder an zu „philosophieren“. Aber noch hatte ich die Aufmerksamkeit der Runde.

„Entschuldigung. Ich habe einfach Angst, der Widersprüchlichkeit eines so großen Themenkomplexes wie Liebe und Erziehung auf die Schnelle nicht gerecht zu werden… Also es ist ein Widerspruch: Einerseits kann Erziehung nur gelingen, wenn sie leicht ist und Freude bereitet. Andererseits weigere ich mich entschieden gegen den Anspruch, dass der Unterricht den Schülern immer Spaß machen müsse, dass sie, wenn das nicht der Fall ist, sozusagen ein ’natürliches‘ Recht hätten, ihn zu stören und gegen den Lehrer als ‚Langweiler‘ zu opponieren.

Bei uns, liebe Kollegen, wird es so sein, dass ein Lehrer, der Probleme hat, vielleicht gesundheitlicher Art, vielleicht Liebeskummer oder Versagensängste, das seinen Schülern sagen kann und keine Angst haben muss, deswegen gemobbt zu werden, denn die ganze Kraft des Lehrerkollegiums steht hinter ihm (siehe Teil 5 dieser Reihe) und mit ihm auch die Kraft des guten Teils der Schüler und der Eltern. Er könnte es sich – in einer weiterführenden Schule (ab 5. Klassenstufe) wie wir sie sind – sogar leisten zu sagen: ‚Es ist mir peinlich. Aber ich muss euch gestehen: Ich habe es gestern Abend beim besten Willen nicht mehr geschafft, mich auf diese Stunde vorzubereiten. Jetzt müssen wir gucken, wie wir das gemeinsam hinkriegen.‘

Wäre das nicht ein tolles Vorbild für Ehrlichkeit in der Beziehung? Das was für Lehrer gilt, muss dann natürlich auch für die Schüler gelten. Es ist wie immer eine Frage der Dosis. Das geht natürlich nicht an jedem Tag. Ausnahmen sind dann gut für die Regel und stärken sie sogar, wenn sie nicht selbst zur Regel werden. Und andererseits (‚das Gegenteil ist genauso wahr‘): Selbst wenn ein Lehrer mehrere Tage hintereinander deprimiert und nicht in der Lage sein sollte, seinen Unterricht gut zu führen, werden es die Schüler an unserer Schule nicht wagen, seinen Unterricht auf eine aggressive Weise zu stören.

Sie haben dann das Recht, sich Hilfe bei anderen Lehrern oder der Schulleitung zu holen, zur Not sogar mitten im Unterricht, aber keiner hat das Recht an unserer Schule, einen anderen Menschen zu beleidigen oder zu verhöhnen. Das gilt umgedreht im Verhältnis der Lehrer zu den Schülern natürlich genauso… Ich hatte am Anfang gesagt, das Wichtigste ist die Gemeinschaftlichkeit an unserer Schule, die pädagogische Gestaltung der Beziehungen zwischen allen, die in die Schule gehen. Dazu braucht es einerseits den Mut zur Ehrlichkeit und zur menschlichen Offenheit derer, die in der Schule die Verantwortung tragen, also der Lehrer, die deswegen Vorbild sind. Und andererseits braucht es genauso auch den Mut zur Führung, zum Boss-Sein der Lehrer in der Schule.

Diese beiden Säulen gehören zusammen: Der Mut zur Offenheit einerseits, zum Sich-dem-Mitmenschen-ausliefern-Können mit dem, was einen Lehrer als Mensch und Person gerade ausmacht, und der Mut zum pädagogischen ‚Boss-Sein‘ andererseits. Das sind zwei Seiten, die sich einerseits ausschließen und die andererseits doch zusammengehören, jedenfalls in der Pädagogik, die ich vertrete und die ich hier in dieser Schule zur Geltung bringen möchte… So, diese Denkportion reicht wohl erst einmal. Jetzt braucht es den Dialog nach meinem Monolog. – Ihre Fragen. Am besten erst einmal nur Verständnis-Fragen, Nachfragen dazu, wie ich etwas gemeint habe.“

„Das ist mir alles zu allgemein“, rückte der Altintendant mit der Sprache hinaus. „Wie soll ein menschlicher Lehrer, der den Schülern ehrlich seine Schwäche gesteht, noch führen können? Er hat dann doch gar keine Autorität mehr!?!“ – „Dazu gibt es drei ‚Sachen‘ zu sagen. Erstens: Die Strukturen, die Umgangsformen, das, was Sitte und Brauch ist, führen bei uns von allein, sozusagen im Selbstlauf. Da werden wir großen Wert darauf legen. Das üben wir richtig ein.

Achtung, ein wilder Gedanke. Ich neige ja dazu, schnell und weit vom Denküblichen abzuweichen (wozu wir im Übrigen auch die Schüler erziehen wollen): Bei uns werden sie bis zur 8. Klassenstufe aufstehen, wenn sie vom Lehrer angeredet werden. Nicht mit den Händen an der Hosennaht wie im Kaiserreich, sondern mit würdevoller Gelassenheit. Sie werden lernen, sich den Anforderungen zu stellen, auch im direkten Sinn des Wortes. Das bringt schon einen Grundrespekt in das Miteinander.

Zweitens: Bei uns setzt sich, wie schon gesagt, nicht der einzelne Lehrer durch, sondern er agiert als Repräsentant seines Kollegiums. Gehen Schüler also einen einzelnen Lehrer an, nehmen sie es mit dem ganzen Kollegium auf.

Drittens: Menschen machen Fehler und benehmen sich gelegentlich auch daneben. Das gilt besonders für ungestüme, junge. Das ist nichts Besonderes und ‚von Haus aus‘ nichts Schlimmes. Aber es wird in deutschen Schulen zu einem Problem, weil keine klare pädagogische Reaktion darauf erfolgt. Bei uns aber hat es sofort eine praktische Folge, deren ‚Kosten‘ für den, der stört, höher sind, als es der Aufmerksamkeitsgewinn ist, den er damit erzielt. Wir werden einen ‚Besinnungsraum‘ einrichten (eventuell kann er auch wie bei Makarenko das Direktorenzimmer sein), der immer mit einem Pädagogen besetzt ist und in den Schüler geschickt werden, die auch noch nach der 2. Ermahnung nicht zu einem guten Verhalten zurückfinden. Darüber müssen die Schüler von allein ihre Eltern informieren. Das kontrolliert die Schule stichprobenartig durch Kontrollanrufe bzw. Mails.

Die Anzahl solcher ‚Verschickungen‘ pro Schulhalbjahr entscheidet auch über die Betragenszensur, die bei uns die wichtigste auf dem ganzen Zeugnis sein wird. Das Wichtigste im Leben sind nicht geistige oder körperliche Fähigkeiten, sondern die Bereitschaft und das eingeübte Können, auf den Mitmenschen Rücksicht zu nehmen, vor allem, wenn er schwächer ist als ein Junge, ein Mädchen oder wenn er mindestens eine Generation älter ist. Das ist ein Gesetz des Lebens: Wer zuerst da war, hat Vorrechte. Er hat das Leben für die anderen, die nach ihm kommen, bereitet. Und das ist auch für die Jungen selbst gut, denn sie haben nun einen schönen Grund, älter werden zu wollen (von wegen: ‚No future!‘). Auch schon zwischen den verschiedenen Klassenstufen in der Schule selbst gibt es unterschiedliche Rechte und Pflichten. Stufe 1: Klasse 5 – 8, Stufe 2: Klasse 9 – 10, Stufe 3: Klasse 11 – 12.“

Unser Prinzip „Alles muss seine sachlichen, unaufgeregten Folgen haben“ gilt auch bei der Betragenszensur als der zentralen Note des ganzen Zeugnisses /1/. Für eine „Eins“ zahlt die Schule eine Prämie, die aus der Aufwandsentschädigung entnommen wird, die Eltern, deren Kinder eine Fünf oder Sechs haben, zahlen müssen. Die Selbstverständlichkeit, mit der Eltern, die sich weigern, ihre Kinder zu Rücksicht gegenüber den Mitmenschen zu erziehen, davon ausgehen, dass dann die Gesellschaft für alle zusätzlichen Kosten aufkommt, die die Rücksichtslosigkeit ihrer Kinder verursacht, ärgert mich seit langem. Als Staat würde ich solchen Eltern das Kindergeld kürzen oder streichen. Deutsche Realität ist, dass zusätzlich zu den hohen Kosten, die Einrichtungen für schwierige und/oder kriminelle Jugendliche verursachen, die Eltern weiter das volle Kindergeld bekommen. Verrückt und meilenweit entfernt von jeder Logik des Lebens oder: Mittestrom-Denken („Mainstream“) der politischen Klasse in Deutschland (ich könnte auch sagen, ein Mit-dem-Strom-Denken, den sie selbst erzeugt hat).

Bei einer Zwei werden die Schüler gelobt. Bei einer Drei passiert nichts. Bei einer Vier werden sie ermahnt und verwarnt. Bei einer Fünf (oder zwei Vieren in zwei Zeugnissen hintereinander) müssen nicht nur die Eltern eine Erziehungsaufwandsentschädigung zahlen, sondern die Schüler müssen in den Ferien einen Benimm-Kurs absolvieren, je nach Lernfortschritt in unterschiedlichen Längen, dessen Kosten die Eltern ebenfalls übernehmen müssen. Bei einer Sechs muss dieser Kurs zusammen mit einem Elternteil absolviert werden.

Kein Vater, keine Mutter muss sich das antun. Sie können ihre Kinder einfach von der Schule abmelden. Aber die Wartelisten sind lang, gerade deswegen, weil sich herumgesprochen hat, dass wir im Gegensatz zum Gros deutscher Schulen in der Lage sind, eine hohe Lerndisziplin durchzusetzen und deshalb weit überdurchschnittliche Lernerfolge erreichen. ADHS-Kinder und Schüler mit einer Autismus-Spektrum-Störung werden bei uns nach kurzer Zeit auf ein Minimum zurückgehen. Dann, durch die allgemeine Erziehungs-Offensive sind die Kraft und die Zeit da, in diesen echten Fällen neuronaler Beeinträchtigung auch sonderpädagogisch und individualpsychologisch zu helfen.

 

Fußnoten

/1/ Wir sollten das Fach vielleicht lieber „Rücksicht“ nennen. „Betragen“ hört sich zu altbacken an.

 

2 Kommentare zu “Gewinnst du die Führung, gewinnst du alle: Die Vorentscheidung (Teil 7.1 von „Mein Weg ins Leben“)”

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