So traurig steht er da, der Einkaufswagen. Gestohlen und verloren. Für mich ist das ein Symptom unserer Zeit. Achtlos ist er stehengelassen worden, so wie ein übersättigtes, verwöhntes Kind sein Spielzeug fallen und liegen lässt. Es kriegt schon bald ein neues. Keiner fragt danach, wo das alte geblieben ist.
LVZ vom 12.04.24, S. 15
Dieses Bild ist ein Symptom unserer Zeit in Deutschland. Gerade sind Freunde von einem Besuch in Japan zurückgekommen. Sie konnten es gar nicht fassen, wie ordentlich es auf japanischen Straßen aussieht. So etwas wie der in Deutschland einfach auf dem Bürgersteig stehengelassene Einkaufswagen wäre völlig undenkbar, und Japan ist auch eine hochentwickelte Industriegesellschaft.
Etwas, was höher entwickelt ist wie etwa auch eine Großstadt gegenüber einem Dorf, muss also nicht zwangsläufig verlottern. Auch in Großstädten kann Ordnung herrschen, wenn eine nationale Mentalität das hergibt. Apropos diese: Was führte denn dazu, dass Deutschland nach zwei verlorenen Weltkriegen mit einem Verlust von ca. einem Drittel des Staatsgebiet wieder zur führenden Wirtschaftsmacht in Europa aufgestiegen ist, weit vor Frankreich, Großbritannien und Russland? An den – nicht vorhandenen – Bodenschätzen lag es jedenfalls nicht.
Woran dann? An der deutschen Mentalität, am deutschen „Wesen“, das mit Ordnungsliebe, Genauigkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Fleiß und Pflichtbewusstein beschrieben werden kann, unter anderem, neben anderen Eigenarten. Dieses mentale Wesen lässt immer mehr nach, zieht sich aus dem öffentlichen Raum ins Private, in die eigene Wohnung oder den eigenen Garten zurück.
Noch arbeiten viele ältere Frauen und Männer in deutschen Betrieben, die eine solche Mentalität verinnerlicht haben. Sie schaffen das deutsche Bruttosozialprodukt, das vierthöchste in der Welt. Länder mit einer ähnlichen Mentalität wie Japan, ebenfalls ein Kriegsverlierer, sind wirtschaftlich auch erfolgreich wie Deutschland. Dort werden diese Tugenden aber immer noch gelebt und an die Jugend weitergegeben. In Deutschland ist das nicht – mehr – der Fall.
Früher galt: „Erst die Pflicht und dann – durchaus auch – das Vergnügen“, heute gilt für die Jugend in Deutschland: „Erst der Spaß und dann das Vergnügen und danach noch mehr davon.“ Das Wichtigste für die heutige West-Pädagogik ist, ob das, was die Jungen lernen sollen, ihnen auch ja genug Spaß macht, ob sie noch Lust darauf haben oder nicht. Kein Wunder, dass die Jugend so geworden ist, wie sie ist, wie sie (v)erzogen wurde. Sie hat ja keine Wahl, sie muss das verarbeiten, was ihr die Erwachsenen anbieten. Aus dem Nichts heraus kann sich kein junger Mensch entwickeln; er muss nehmen, was er kriegen kann.
Drohend verkünden Umweltschützer (dem Sinne nach): Wenn dann keine unbeschädigte Natur mehr da ist, werden die Menschen merken, dass sie Geld nicht essen können. Genauso wird es uns mit einer unerzogenen Jugend gehen, die darauf „trainiert“ wurde, zuerst auf den eigenen Spaß zu achten. Mit einer solchen Mentalität lassen sich keine wettbewerbsfähigen Produkte mehr herstellen.
Damit wird dem Wohlstand in Deutschland die Grundlage entzogen: Eine Gesellschaft, deren oberster Wert das individuelle Vergnügen jedes einzelnen Ichs ist, die durch kein Band der Gemeinschaftlichkeit, das die Liebe zur eigenen Nation sein könnte, zusammengehalten wird, muss scheitern, und zwar im Marxschen Sinne: Vor dem Ideellen kommt das Materielle, vor der Moral das Fressen. Nur die Reichen sind überall zu Hause auf der Welt. Normalverdiener brauchen ihren nationalen Staat als Sicherheit.
In Leipzig werden pro Jahr, entsprechend dem oben zitierten LVZ-Bericht über 6000 Einkaufswagen entwendet. Sie kosten im Durchschnitt 130 Euro. Das ist Jahr für Jahr ein immenser wirtschaftlicher Verlust, aber er ist „normal“, eingepreist in das gegenwärtige deutsche Lebensgefühl. Wagen werden zum Grill umfunktioniert, als private Handwagen benutzt, oder sie enden als Straßenkunst. Das passt genau in die neue deutsche Lebensmentalität, die ich meine.
Zu dieser Lebensart gehören auch neue Gebäude, die nach kurzer Zeit über und über beschmiert sind, einschließlich der Schulen: Persönlicher Spaß über alles! Weit auf jeden Fall über eine „verspießerte“ Leistungsbereitschaft, wie sie noch vor historisch kurzer Zeit für Deutschland typisch war.
Wir werden sehen, wo uns das hinführt. Vielleicht dahin, dass Deutschland als Garant einer erfolgreichen EU flachfällt und auch als Garant „Flüchtender“. Womöglich werden ihre angestammten Ureinwohner dann selbst zu solchen.
Vielleicht kann ein neuer Aufbruch nur gelingen nach einem neuen nationalen Absturz. Die Einzelnen jedenfalls, die sich „deutsche Tugenden“ bewahrt haben, kommen damit überall zurecht auf der Welt. Vielleicht können Sie wenigstens dort hilfreich wirken, wenn schon nicht im eigenen Land.