Ich bin Ottilie

Ich verstehe es nicht. Es geht nicht weiter mit den Lebenslinien von Meta und mir. Meta verweigert sich dem Thema „Nation“, einschließlich und besonders offenbar der Liebe zur eigenen Nation. Wenn das typisch für die Linke in Deutschland insgesamt sein sollte, dann sehe ich schwarz für ihre Zukunft. Vor allem ist es ein schlimmes Zeichen für die Sprachlosigkeit zwischen Linken und „Rechten“ hier. So werden die Gräben im Land zwischen den politischen Lagern in Deutschland immer weiter vertieft. Das ist kein gutes Omen für die Zukunft unserer Enkel, liebe Meta.     

Ich lese als Anhänger und Verehrer von Johann Wolfgang Goethe und Thomas Mann gerade „Lotte in Weimar“ von Letzterem. Da habe ich beide, das lang verzweigte, ausdifferenzierte Geschriebene von Thomas Mann und erfahre zugleich auch viel und Wichtiges über den „großen Alten“, wie Goethe in „Lotte“ genannt wird.

Ich hatte nicht gedacht, dass es so mühsam ist, sich in diesen Roman einzulesen. Das, was Du, liebe Meta, „ausufernd“ nennst, ist über die ganze Strecke des Textes zu überwinden. Andererseits bewundere ich, wie die gebildeten Leute um 1800 und danach im deutschen Sprachgebiet gesprochen haben, inhaltsvertiefend und zugleich Analogien über weite Strecken bewahrend und wieder aufnehmend, und dass Thomas Mann in der Lage ist, das darzustellen, dass weder ihm dabei die Puste ausgeht, noch seinen Figuren. Allein die ellenlange Monolog-Dialoge Lottes mit Goethes „Trabanten“ Dr. Riemer – dahinter verbergen sich ganze philosophische Konzepte.

Ich habe durchgehalten und wurde belohnt mit „Adeles Erzählung“ im 5. Kapitel. Im Kapitel zuvor erfährt der Leser noch, wie rührselig naiv Lotte, die platonische Geliebte des jungen Goethe, an die literarischen Kompetenzen der Generationen deutschsprachiger Jugend geglaubt hat, die nach ihr kommen werden. Sie hat im Ernst Scherenschnitte und Stickereien, die sie mit und für Goethe angefertigt hatte, sicher verwahrt, weil sie wirklich glaubte, irgendjemand der nachwachsenden Generationen könnte sich dafür interessieren und es sei deshalb ihre Pflicht, diese Stücke für ein zukünftiges Museum aufzubewahren. Da kennt sie aber ihre nachgewachsenen Deutschen schlecht, die sind ganz anders als sie: sie sind ihrer eigenen Kultur nicht treu.

Die Jugend wird von den heute und hier Etablierten nicht dazu angehalten; die deutsche Kultur hat ja auch einen schweren Mangel, sie ist überwiegend immer noch deutschsprachig. Aber das wollen sie auch noch wegkriegen, die Modernen, die Weltoffenen. Ottilie gibt mir Hoffnung, dass es ihnen doch nicht gelingen wird.

Ich hatte mich immer gefragt, wie war das mit Napoleon vor über 200 Jahren in Deutschland? Napoleon hatte das halbe Europa erobert und besetzt, ähnlich wie über 130 Jahre später Hitler. Die Partisanen und Patrioten, die gegen Hitler für die Befreiung ihrer Nationen kämpften, stehen heute in hohem Ansehen, auch in Deutschland. Wie ist es mit den mutigen Deutschen, die gegen die französische Fremdherrschaft und für die Freiheit der deutschen Nation ihr Leben gaben oder riskierten? Da weht nur ein sehr laues Lüftchen der Begeisterung für den Aufstand gegen den Imperator, der fremde Länder besetzt hatte, so wie auch Putin das heute mit Teilen der Ukraine tut. Keiner redet heute in Deutschland von Theodor Körner oder Lützows „wilder Jagd“.

Adele Schopenhauer, die Schwester des berühmten Philosophen, der damals, als Lotte als gestandene Frau Weimar besuchte, mit seiner Schwester auch dort lebte, berichtete von einer jungen Frau, ihrer Busenfreundin, von Ottilie, die um die 20 Jahre jung war: Sie tickte damals so, wie auch ich heute denke und fühle: Für die deutsche Nation. Sie litt unter der französischen Dominanz, sogar körperlich. Das ganze französische Getue, die vielen französischen Worte in der deutschen Sprache, die Selbstverständlichkeit, mit der vorausgesetzt wurde, dass die Angehörigen der „höheren Kreise“ französisch sprachen und verstanden. Das ist genauso wie das heute in Deutschland mit der englischen Sprache ist. Allerdings konnten sich die USA die Mühe sparen, Deutschland aus eigener Initiative zu erobern und zu besetzen.

Dafür hatte ihnen Hitler vor ca. 80 Jahren mit seinen Angriffskriegen einen guten Grund gegeben. So konnten sie Deutschland als moralische Sieger erobern und besetzen. Und ein großer Teil der Deutschen, besonders die Westdeutschen, bleiben noch mehr als ihre Vorfahren zu Napoleons Zeiten freiwillig gern weiter besetzt, obwohl sie 1990 mit dem 2 + 4-Vertrag ihre volle nationale Souveränität wiedererlangt hatten.

Plötzlich so allein zu Haus ist nichts für (Landes)Kinder, die kulturell noch lange nicht erwachsen sind, sondern bei aller Kritik gegenüber den eigenen Eltern, doch immer noch mental abhängig sind vom reichen und klugen Onkel aus Amerika, der sich erfolgreich durchsetzen kann in der Welt, auch mit Waffengewalt, und auch Bescheid weiß und es immer so hindrehen kann, dass die Russen, die Chinesen, der Iran und die Deutschen am moralischen Pranger stehen und nicht sie, obwohl kein Land nach dem 2. Weltkrieg so viele Kriege mit so vielen zivilen Opfern geführt hat wie sie. (Da war der achtjährige Kevin, der im Haus der Familie vergessen wurde, als es in den Urlaub ging, jedenfalls noch entschieden mutiger und selbstbestimmter, als es die erwachsenen Deutschen heute in ihrem „Haus“ sind.)

So wie Thomas Mann Goethe in seinem höheren Alter darstellt, war er Napoleon immer noch zugetan, trug z.B. stolz weiter den Orden, den er von ihm verliehen bekam, obwohl sich die Völker inzwischen von seiner Fremdherrschaft befreit hatten. Mal eben so andere Länder zu überfallen und zu erobern, wie es Napoleon mit den deutschen Ländern getan und mit Russland vergeblich versucht hatte, sollte kein Kavaliersdelikt sein. Auch und gerade aus heutiger Sicht nicht, wo sich unsere politisch-moralische Klasse darüber aufregt, dass Putin Grenzen verschieben will, dabei will er sein Herrschaftsgebiet „nur“ sichern gegen den „freien Westen“ als das neue „Brudervolk“ der Ukraine.

Würde ich Goethe in die Gegenwart verschieben, dann müsste er mit seiner von Thomas Mann so beschriebenen antinationalen Sicht und seiner Vorliebe für starke Männer anderer Nationen (Napoleon), heute Donald Trump zugetan sein.

„Explizit sprach er [Thomas Mann] ‚den Amerikanern und Engländern das Recht zu, das deutsche Volk für die Verbrechen des Hitlerregimes zehn Jahre lang zu züchtigen‘ und forderte: ‚Eine halbe Million Deutsche muss getötet werden‘, wie Brecht am 9. August 1943 notiert.“ (Aus Weltwoche Nr. 41.23, S. 61)

Thomas Mann war im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich Mann ursprünglich ein national denkender Schriftsteller. Deutschland hatte den 1. Weltkrieg verloren. Hatte er sich für die falsche Seite entschieden? Das schien ihm mit dem Verlauf des 2. Weltkrieges immer klarer zu werden. Deswegen offenbar dieser Hass auf die eigene Nation:

„Das mit Kultur versetzte Hunnen-Bashing kommt damals nicht nur in Amerika gut an. Doch es beruht auf einem blinden Fleck. Denn außer Canaris und Rommel taucht im gesamten Index von Thomas Manns tausendseitigen Tagebüchern und Briefen kein einziger dem deutschen Widerstand zuzurechnender Name auf. Kein Stülpnagel, Oster, Witzleben, Olbrecht oder Beck, kein Moltke, Stauffenberg, und Tresckow, Goerdeler, Elsner oder Bonhoeffer. Stattdessen formuliert er am gleichen 15. März 1943, an dem er das ‚Material zum Dr. Faust‘ zum ersten Mal sichtet, die ebenso prägnante wie tatsachenbildende ‚Überzeugung, dass der deutsche Generalstab schon heute den nächsten Krieg plant.'“ (Ebenda) Die Männer, die Hitler bekämpften und die bei Thomas Mann nicht vorkommen, waren zum großen Teil preußische Offiziere und – so weit sich mir das erschließt – vor allem Generalstabsoffiziere.

So viel zur Macht der Vorurteile, vor denen die Bundeszentrale für politische Bildung zurecht warnt, jedenfalls dann, wenn sie unsere ausländischen Mitbürger betreffen.

Ein Kommentar zu “Ich bin Ottilie”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert