Lebenslinien im Dialog erkennen – Meta und Karl II

Ich fühle mich irgendwie „abgespeist“ von Dir, liebe Meta, wenn ich Dein letztes Textstück vom Dialog I bedenke. Vielleicht musst Du so kaltschnäuzig „schaumgebremst“ in Deinem Denken und Nachdenken über Dich und Deine Lieben sein, weil Du sonst nicht ertragen könntest, in der „waagerechten“ Liebe mehrmals gescheitert zu sein.

Die „waagerechte“ Liebe ist, wie ich schon in Teil I schrieb, die nicht senkrecht von unseren Vorfahren her gewachsen ist, sondern die, die wir selbst neu aus eigener Kraft „gestiftet“ haben (und die dann oft genug „stiften gegangen“ ist – ich kann meinem Hang zu Kalauern, wie Du siehst, nicht entkommen).

Eine große Gefahr besteht dabei in den frühen Prägungen, in denen wir alle gefangen sind. Aber die kann man mit viel ausdauernder, nicht irritierbarer Liebe tatsächlich noch überwinden, sofern sie schädlich sind, und aufgreifen das vom Schädlichen, das dann doch weiterführt. Gerade Dich halte ich für jemanden, der so viel ursprüngliche Lebens- und Liebeskraft hat, das zu können.

Aber. Es gibt „auch frühe Prägungen“ über die eigene Generation hinaus. Denen ist dann eine einzelne konkrete Liebe nicht mehr gewachsen, wenn sich negative, angstbesessene Lebenserfahrungen des Scheiterns über die Generationen kulminiert haben, einschließlich der Verdrängungs- und Kompensationsmechanismen, wenn sich ihre tief eingegrabenen Konturen aus verschiedenen Leben doppeln und so weiter vertiefen. Das kann z.B. auch die trotzige Genugtuung eines „Dann-eben-nicht“ sein, die in vorigen Leben über tiefe Enttäuschungen hinweg half.

Du hattest mir erzählt, dass Reinhard ein seeliges Lächeln auf den Lippen hatte, als man ihn fand, nachdem er sich in einen Abgrund gestürzt hatte. Genauso war es bei meinem Großvater, der sich kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges an einem Baum erhängt hatte.

Diese sich vertiefenden Dopplungen über mehrere Generationen hinweg zu akzeptieren ist dann Ehrfurcht vor der Natur. Der Natur können wir uns alle geschlagen geben. Wir müssen uns nur ehrlich bemüht haben, das gegeben haben, das in unserem eigenen, kleinen Leben drinsteckt.

*

Habe ich tatsächlich „seeliges Lächeln“ gesagt? Das halte ich für nahezu ausgeschlossen. Zumal ich Reini nach seinem Tode nicht noch einmal gesehen habe. Ich wurde aus dem Unterricht geholt mit den Worten: „Meta, kommst du mal? Deinem Mann ist was zugestoßen.“ Vor dem Schulgebäude stand schon der Trabbi des Direktors zur Abfahrt bereit und zusammen mit dem Parteisekretär fuhren wir nach Dresden in das zuständige Polizeirevier Neustadt. Auf dem Weg dorthin wurde über den Anlass der Fahrt kein Wort verloren. Die beiden Männer sprachen in einem angestrengten Plauderton über Nichtigkeiten und beobachteten  mich dabei – wie sie wohl glaubten unauffällig –  im Rückspiegel.

Ich dachte die ganze Zeit nur einen Satz: Er soll nicht tot sein, nur schwer verletzt. Reini hatte schon seit einigen Tagen einen fahrigen Eindruck gemacht und war meinen Versuchen, über sein Befinden zu sprechen, aus dem Wege gegangen. Er lief dann manchmal ziellos durchs Dorf oder kam erst mit dem letzten Bus aus Dresden nach Hause. Diesen Zustand kannte ich schon, aber diesmal war  es wirklich beängstigend. Am Morgen hatte ich ihn aufgefordert, mir zu schwören, dass er ohne Umweg gleich in die PH gehen würde. Er nahm eine kleine Karteikarte und notierte: „Ich gehe in die Hochschule.“ Er unterschrieb mit vollem Vor- und Zunamen.

Bei der Polizei angekommen, wurden wir in einen sehr kleinen Raum geführt, wo uns ein offenbar höherrangiger Polizist lakonisch mitteilte, dass mein Mann auf dem Weg zur sächsischen Landesbibliothek  tödlich verunglückt sei. Die Brücke, die er kurz vorher passieren musste, wurde gerade runderneuert. Teile des Geländers waren bereits abmontiert und übergangsweise durch einen Holzzaun ersetzt worden. Der hatte offenbar nachgegeben, als Reini sich dagegen lehnte – oder kräftig dagegen drückte oder drübersteigen wollte? – und er war 20 Meter tief auf die dort entlangführenden Bahngleise gestürzt und auf der Stelle verstorben.

Der Beamte hatte es so formuliert, dass ein Interpretationsspielraum zwischen Unfall und Selbstmord blieb. Er hatte noch erwähnt, dass die schwere, mit Büchern gefüllte Aktentasche akkurat am Zaun abgestellt worden war und dass man den Toten mit einem entspannten, friedlichen Gesichtsausdruck vorgefunden hatte. Ich war mir sicher, dass es kein Unfall war, nahm mir aber sofort vor, diese Sicherheit für mich zu behalten.

Ich bekam eine Tüte mit persönlichen Gegenständen ausgehändigt und musste die Kenntnisnahme eines Kurzberichts mit Unterschrift bestätigen. Als Todesursache stand dort: „Zerriss lebenswichtiger Organe.“ Danach legten meine beiden Kollegen fest, dass man in Dresden gleich noch zweierlei erledigen sollte: Ein paar schwarze Klamotten kaufen und bei meinen Schwiegereltern vorbei fahren. Der Kauf eines Rollis, einer Bluse und eines langen Rockes in Schwarz kommt mir bis heute unwirklich vor und manchmal glaube ich die Stimme des Direktors zu hören: „Falls sie deine Größe nicht am Lager haben – es gibt auch Zwischengrößen.“

Dann fuhren wir nach Dresden-Stetzsch, wo meine Schwiegereltern wohnten. Ich machte mich darauf gefasst, die Überbringerin der schlimmen  Nachricht zu sein. Meine Kollegen hatten mir zwar angeboten, dass ich vorerst im Auto sitzen bleiben könnte, während sie die Klingel am Gartentor betätigten und mich ankündigten. Aber das wollte ich nicht. Ich war in einem Trancezustand und mit unheimlicher Konsequenz auf das im Augenblick Wesentliche und Notwendige fokussiert. Ich war mir sicher, die nächsten Schritte fehlerfrei absolvieren zu können.

Dieser Zustand hielt wochenlang an; ich beobachtete mich auf Schritt und Tritt und verbot mir die kleinen entspannenden Umwege über das Tränental. Als uns Reinis Eltern öffneten, sah ich sofort, dass sie schon Bescheid wussten. Seine Mutter musterte mich eine kurze Schrecksekunde lang mit beängstigender Intensität: War vielleicht doch alles ein Missverständnis, das ich gleich aufklären würde? Dann ging sie mit einem tierischen Schmerzenslaut in die Knie und meine beiden Kollegen konnten die schwere Frau gerade noch auffangen.

In den Tagen danach gab es so viele Dinge zu regeln, dass für schmerzhafte Grübeleien kaum Zeit blieb. Bei den lästigen Pflichtübungen, mit denen diverse Amtsschimmel zufrieden gestellt werden mussten, stand mir Reinis Schwester zur Seite, die aus Berlin angereist war und sich für ein paar Tage in ihrem Elternhaus einquartiert hatte. Bei der Vorbereitung der Beerdigung ließ ich mich, wie mir erst hinterher so richtig klar wurde, von der Frage leiten: Was würde Reinis Eltern den meisten Trost spenden?

Sonst hätte ich wohl nicht Professor E., Reinis Chef und Institutsleiter, als Grabredner gewonnen und auch nicht  dafür gesorgt, dass die Beerdigungsfeierlichkeiten einschließlich traditionellem „Leichenschmaus“ als Großereignis aufgezogen wurden. Professor E. hielt dann auch, wie man es von ihm erwarten konnte, eine wohlabgewogene, geradezu staatsmännische Rede. Die Auswahl der Details hatte ich ihm nahegelegt; er war extra zu mir nach Reichstädt gekommen und wir hatten einen ganzen Nachmittag lang zusammengesessen und  beraten, welche Episoden aus Reinis kurzem Leben in den Mittelpunkt gerückt werden sollten.

Es waren nicht unbedingt die Episoden, die ich für die wichtigsten hielt, aber es waren die repräsentativen Stationen, die Balsam für die Seelen von Reinis Eltern waren. Reinis Mutter wurde dann auch als die große Trauernde wahrgenommen, während mir die Rolle der assistierenden, viel zu jungen Schwiegertochter zugestanden wurde. Meine Aufgabe war es vor allem, die Gäste an die verschiedenen Orte des Geschehens zu geleiten: vom Friedhofsvorplatz zu einer Art Wandelgang, wo man am offenen Sarg Abschied von Reini nehmen konnte, weiter zur Kapelle, nach der Zeremonie wieder zum Vorplatz und von dort aus zur Gaststätte, wo eine ellenlange Tafel für uns gedeckt war.

Als ich den Wandelgang betrat, war der Sarg noch gar nicht geöffnet worden, aber die Menge drängte schon herein – und so kam es, dass ich Reini tatsächlich nicht noch einmal sah. Sein Vater beschrieb mir den Anblick hinterher so: „Gut sah er aus. Die hatten sich alle Mühe gegeben. Nur auf der rechten Wange hatten sie eine lange Schramme nicht ganz verbergen können.“ Reinis Vater war als Zeremonienmeister ganz in seinem Element. Er hatte auch die Todesanzeige für die Sächsische Zeitung verfasst, die ich dann nur noch abnicken musste.

Ich hoffe, mit dieser doch ein bisschen zu ausführlich geratenen Schilderung – Erinnerungsarbeit lässt sich nun mal schwer portionieren – den Vorwurf entkräftet zu haben, ich wolle dich nur „abspeisen“.

*

Wahrscheinlich war diese Aussage sowieso zu ruppig. Ich merke, dass mit dem Älter-Werden meine Ungeduld wächst. Habe ich nicht mehr so viel Zeit, darauf zu warten, dass sich etwas klärt? Ich finde es aber wohltuend, wie Du sachlich und möglichst genau das Vorgefallene beschreibst, obwohl Du ja persönlich tief betroffen bist. Das ist wahrscheinlich überhaupt die einzige Möglichkeit, über etwas zu schreiben, was verletzend tief eindrang in den eigenen Seelenkörper. Die Sachlichkeit nimmt dem Geschehenen seinen „Zauber“, und also auch den „bösen Zauber“ von etwas, was wie eine Katastrophe in unser Leben hereingebrochen war.

Kurz nach Reinhards Tod hättest Du bestimmt nicht so darüber berichten können. Erst wenn wir zu dieser genauen Sachlichkeit bei der Beschreibung von etwas gefährlich Verletzendem fähig sind, werden wir im Laufe der Zeit vom belasteten Opfer des Geschehens zu seinem Herren, Schritt für Schritt wenigstens im Nachhinein. (Und ich schätze, Du bist noch nicht am Ende dieses Weges angelangt.)

Ich bin kein Trauma-Therapeut, habe mich damit auch noch nicht intensiv beschäftigt. Aber ich denke, das wird der lange Weg sein, der auch hier zu gehen ist, nicht zu früh und nicht zu weit auf einmal: Ein Traumatisierter fängt an, dem nebulösen Grauen Konturen zu verleihen, indem er – mit Abständen der emotionalen „Abkühlung“ und mit Hilfe eines einfühlsamen, aber trotzdem sachlichen Therapeuten, der ihm das „Drüberstehen“ über ein verkraftbares Stück der Schrecklichkeit vormacht – im Dialog immer genauer beschreibt, was „eigentlich“ wirklich passiert war.

Wie war der genaue Werdegang, die Szenenfolge und ihre Dramaturgie sozusagen? Vor der schlimmsten Stelle wird der Traumatisierte lange und immer wieder zurückschrecken, aber wie beim Tunnelbau kann er sich ihr von zwei Seiten nähern. So ähnlich, scheint mir, handhabst Du das auch, so kommt mir jedenfalls das vor, was Du hier dazu geschrieben hast. Ich vermute, das war das Schlimmste, was Dir in Deinem Leben passiert ist. Oder?

Dazu passt, glaube ich, auch das, was Thomas Mann dazu schrieb, wie er sich vor allem in den „Buddenbrocks“ an all dem rächte, was ihm als Kind und Jugendlichen in seiner Vaterstadt Lübeck das Leben schwer machte:

„Die einzige Waffe, die der Reizbarkeit des Künstlers gegeben ist, um [sich der] Erscheinungen und Erlebnisse auf schöne Art zu erwehren, ist die Bezeichnung“, und zwar die möglichst genaue und detaillierte, füge ich hinzu. Sie ist die „sublime Rache des Künstlers an seinem Erlebnis“ (Hervorhebung von mir).

Insofern, liebe Meta, sollten wir noch möglichst genau der Frage nachgehen, was die größten und prägenden Niederlagen in unserem Leben waren und dann vielleicht auch, weil alles zwei Seiten hat: unsere größten Erfolge, und zwar nicht objektiv, sondern von unserem subjektiven Erleben her. Was kehrt in unseren Träumen und Erinnerungen immer wieder, sowohl vom Bösen als auch vom Lieben, sowohl vom als gut Erlebten als auch dem als schlecht Erlebten her, wobei das erste Gegensatzpaar – böse-lieb – für mich der Hauptkonstituent von Schlecht und Gut ist.

Zu Reinhard zurück, dem wir hier die Ehre erweisen, indem wir über ihn schreiben – ich tue das, obwohl ich ihn nie persönlich kennenlernte. Du hattest mir wahrscheinlich gesagt, dass man ihn mit einem „entspannten, friedlichen Gesichtsausdruck“ vorgefunden hatte, so wie Du es oben geschrieben hast. Diese Worte sind auf der Fläche meines „Gedankensees“ aufgetroffen und von dort in Sprüngen abgeprallt hin zum „seeligen Lächeln“, das ich vielleicht noch von dem im Kopf hatte, was mir meine Tante über meinen toten Großvater erzählte. Es läuft doch auf das Gleiche hinaus.

Reinhards lebenswichtigen Organe wurden durch den Sturz zerrissen. Offensichtlich war seine Seele schon vorher zerrissen, und er war ein Getriebener dieser Zerrissenheit. Menschen behelfen sich bei Unbegreiflichem gern, indem sie ihm den Namen einer Krankheit geben /1/, „Schizophrenie“ oder „Depression“ zum Beispiel. Wird damit etwas klarer? Nein! Die Frage bleibt, woher kommt sie, wie konnte sie entstehen? Ich glaube, mein oben stehender Lösungsansatz, dass sich stark verletzende Erlebnisse in mehreren Generationen hintereinander kulminiert haben, ist der wahrscheinlichste. Ein einzelner Liebender kommt dagegen nicht an. Es müssten sich die Liebenden mehrerer Generationen genauso verbünden können, wie sich das „Böse“, Angstmachende, Unbewältigte über mehrere Generationen überlagert und verstärkt hat.

Was sagst Du zu dem, was ich im letzten Beitrag am Ende der dortigen Fußnote 1 über den Sinn des Lebens geschrieben hatte als (schwärmerische) Vision, die dem Leben dann sozusagen „von hinten“, wenn sie uns bewusst geworden ist, einen Sinn geben kann.

*

Lieber Karl, da hast du ganz recht: Sobald man es schafft, das Unfassbare in Worte zu fassen, ist man auf dem Wege, die Oberhand zu gewinnen. Um das Unbegreifliche in den Griff zu bekommen, muss man es in Begriffe kleiden. Wie nahe man dabei dem Wesentlichen eines Erlebnisses oder einer Erscheinung kommt, ist dann aber noch mal eine ganz andere Frage. In deinem Zitat bezeichnet Thomas Mann  die Vertextung als „sublime Rache des Künstlers an seinem Erlebnis“ – und Rache ist süß, soll man wohl ergänzen. Aber Rache kann auch bitter sein, vor allem, wenn das In-Worte-Fassen dazu dient, die nicht ausgelebten Sehnsüchte zu sublimieren, die Erlebnisse, die man nicht hatte oder sich versagt hat, um drei Ecken zur Sprache zu bringen. Und darin war Thomas Mann ja ein Meister.

Er hat seine homosexuelle Neigung zu Jünglingen – das macht sie ja noch einmal extra problematisch, gerade aus heutiger Sicht – zeitlebens unterdrückt und in Kunst umgewandelt.  Vielleicht ist seine ausufernde Erzählkunst  (seine Geschwätzigkeit, wie ich sie manchmal nenne) auch ein Zeichen dafür, dass er viele Worte in die Waagschale werfen musste, um im Gleichgewicht bleiben zu können. Ich habe Bertolt Brecht immer Thomas Mann vorgezogen.

Natürlich kamen Reinis Schwierigkeiten, sich mit der Wirklichkeit zu arrangieren, nicht von Ungefähr, sondern waren das Ergebnis generationen-übergreifender Deformationsprozesse. (Übrigens dürftest du Reini doch einmal gesehen haben, denn bei unserem ersten Klassentreffen kurz nach dem Abitur war er dabei. Und du hast mir hinterher die unverschämte Frage gestellt: „Liebst du den wirklich?“ – so jedenfalls habe ich das in meiner Erinnerung abgespeichert, aber wir wissen ja, wie unzuverlässig solche Erinnerungen sein können.) Geprägt wurde Reini in früher  Kindheit vor allem von seiner  Mutter, die neben zwei älteren Brüdern als drittes Kind in einer ehrgeizigen Familie aufwuchs, deren Lebensinhalt darin bestand,  zu „was Besserem“ aufzusteigen. Reinis Großvater, Besitzer einer prosperierenden  Gärtnerei, finanzierte beiden Söhnen immerhin ein Studium – der eine wurde Lehrer, der andere Rechtsanwalt – und baute für seine Tochter ein Haus. Die hätte viel lieber studiert und sie tat später alles, damit  ihr Wunsch wenigstens bei ihren Kindern in Erfüllung ging.

Reinis Vater entstammte dagegen keiner so zielstrebigen Familie. Ich lernte einige Exemplare aus seiner  Sippschaft kennen, skurrile, geistig etwas minderbemittelte Typen, die – genau wie Reinis Verwandte mütterlicherseits – ein Leben lang nicht aus Dresden-Stetzsch herausgekommen waren und in der Siedlung  eine gewisse Berühmtheit erlangt hatten. Immerhin hatte es Reinis Vater zu einem respektablen Beruf gebracht: Drucker und Setzer, angestellt  bei der Sächsischen Zeitung und später in die Leserbriefredaktion aufgestiegen – damit konnte man sich sehen lassen. Reinis Mutter galt als gute Partie, zumal mit dem Hausbesitz und einer beachtlichen Schönheit ausgestattet, und konnte es sich leisten,  ihren Zukünftigen lange zappeln lassen; sie hätte ihren Job als tüchtige Sachbearbeiterin in der Landesbildstelle am liebsten gar nicht aufgegeben.

Dann kam der Krieg und die Männer der Familie im wehrtüchtigen Alter wurden eingezogen. Das geschah kurz nach Reinis Geburt, so dass er  in seinen ersten Lebensjahren ohne Vater aufwuchs, zusammen mit seiner Schwester, die das Ergebnis eines kurzen Fronturlaubs war. Die beiden lernten ihren Erzeuger erst kennen, als sie schon „aus dem Gröbsten raus“ waren. Ihr Vater gehörte zu den Spätheimkehrern aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft  und fand die Stelle des „Mannes im Haus“ durch seinen eigenen Sohn besetzt. Mit erzieherischer Härte und Konsequenz versuchte er diese Stelle zurück zu erobern, was ihm aber nie mehr so ganz gelang.

Als NSDAP-Mitläufer war er in den Krieg gezogen, als orthodoxer Kommunist kam er nach drakonischer Umerziehung  zurück. Die Konfliktursachen zwischen ihm und dem Rest der Familie traten als explosives Gemisch aus Eifersucht auf den eigenen Sohn, ideologischer Engstirnigkeit und humorloser Selbstgerechtigkeit zu Tage. Spätestens mit Beginn seines Geschichtsstudiums in Leipzig und der Korrespondenz mit seinem republikflüchtigen Juristen-Onkel konnte der sensible und harmoniebedürftige Reini die Auseinandersetzung mit seinem Vater nicht mehr vermeiden, zumal seine Schwester schon länger offen auf Krawall gebürstet war. „Das Tischtuch zwischen uns ist zerschnitten“, kündigte der Vater immer mal wieder an  und ging so weit, seinen Sohn nicht mehr in die Wohnung zu lassen. Reini wurde zerrieben zwischen dem Wunsch, den Ehrgeiz seiner geliebten Mutter zu befriedigen, ergo als  Mustersohn und Beststudent zu glänzen, und  zunehmendem Zweifel an der Fruchtbarkeit einer staatlich favorisierten Weltanschauung, die sich mit dem real existierenden Sozialismus immer weniger in Einklang bringen ließ …

An dieser Stelle möchte ich den Faden zu deiner Frage nach dem Sinn des Lebens noch einmal aufnehmen, die du mit meiner lakonischen Bemerkung „Der Sinn des Lebens ist das Leben“ nicht zufriedenstellend beantwortet fandest, und möchte sie mit einer weiteren Frage verknüpfen: Welche Zusammenhänge würdest du geltend machen zwischen mentalen Voraussetzungen, Weltanschauung und Erziehung einerseits und deinen individuellen – oder sind das über-individuelle? – Vorstellungen vom Sinn des Lebens andererseits?

*

Es ist die Sehnsucht nach dem Paradies, liebe Meta. Als Sohn Deines Vaters wäre ich wahrscheinlich ein gläubiger Eiferer geworden.

Welchen Sinn soll ein Leben haben, in dem man sich nicht geborgen und sicher fühlen kann, in dem die Freundlichkeit nicht die Art ist, in der Menschen miteinander umgehen? Deswegen stehen für mich als Werte die Sicherheit und die Freundlichkeit weit über der Freiheit, Neugier und Abenteuerlust.

Und das könnte so leicht sein. Was hindert uns denn daran? Selbst in der höchsten Not könnten Menschen doch noch freundlich miteinander umgehen. Nun erst recht und wenigstens das. Aber das „Raubtierwesen“ wurde bei vielen nicht gezähmt, als es noch möglich gewesen wäre, als sie noch jung und formbar waren. Ich hätte beinahe behauptet, dass ich es nie in mir hatte, dass ich zu den Menschen gehörte, die von Natur aus und von vornherein freundlich waren und sein wollten.

Aber da fällt mir gerade noch rechtzeitig eine Erinnerung aus frühester Kindheit ein. Ich war vielleicht 4 oder 5 Jahre alt. Mein Bruder und ich begleiteten ein anderes Brüderpaar, das ein paar Häuser weiter an der Straßenecke wohnte, zu sich nach Hause. Waren noch andere Kinder dabei? Ich weiß es nicht mehr. Wir waren im unteren Absatz des Treppenhauses dieses Gebäudes. Plötzlich hatte jemand den größeren Jungen des Bruderpaares umgerungen und er kniete auf allen Vieren auf dem Boden.

Ich konnte es nicht gewesen sein, ich war zu klein dafür, aber ich setzte mich mit Lust auf seinen Rücken und ein anderer Junge – mein Bruder? – tat das Gleiche und setzte sich vor mich. Der Junge, auf dem wir saßen, wehrte sich nicht und sagte vorläufig auch nichts, obwohl er, glaube ich, der Älteste und Kräftigste von uns war. Nach einer Weile stand mein Vordermann auf. Ich war enttäuscht, dass er es – schon – tat; ich wäre gern noch eine Weile auf unserem „Pferd“ sitzen geblieben. Nun musste ich mich wohl oder übel auch erheben, denn allein fühlte ich mich nicht sicher genug auf dem Rücken des Jungen.

Jetzt sagte dieser bittend: „Das macht ihr aber nicht wieder“, vielleicht fügte er sogar das Wort „bitte“ ein. Mir gefiel seine Unterwürfigkeit sehr und ich antwortete als der Kleinste im Brustton der Überzeugung: „Doch, das machen wir wieder!“ Es ergab sich dann aber keine Gelegenheit mehr und das wiederholte sich zu meinem großen Bedauern nicht, wenn ich nicht dazuzählen will, dass ich fünf oder noch mehr Jahre später als vielleicht 10-Jähriger zu meinem fassungslosen, glücklichen Erstaunen am Strand eines Badesees aufgefordert wurde, mich von ihm beim Reiterkampf im flachen Wasser huckepack nehmen zu lassen. Was für ein Glück: Gerade er, der in Lederhosen und auch in den Turnhosen, die er am Strand trug, eine gute Figur machte.

Ich hatte Angst, dass er oder die anderen Kinder mir meine Lust, sein „Reiter“ zu sein, anmerken könnten und verzichtete vorsorglich auf jeden Ausdruck der Dominanz, was ich andererseits zugleich wieder bereute. (Man kann eben wohl wirklich nicht alles haben. Vielleicht hätte er es sich sogar – gern – gefallen lassen. Wenn ich ihn heute treffe, könnte ich ihn das fragen, was mir damals vor Peinlichkeit nie über die Lippen gekommen wäre.)

Dass ich von Natur aus und von vornherein freundlich war, kann ich also nicht so stehen lassen. Aber ich hasste laute und rabiate Unfreundlichkeiten. Das eher verhaltene Nutzen von Gelegenheiten zur Machtergreifung kam mir aber sehr zupass. Allerdings hätte es dem niedergerungenen Jungen auch nichts genutzt, wenn er uns vorher freundlich gebeten hätte, von seinem Rücken abzusteigen. Jedenfalls, wenn es nach mir gegangen wäre.

Also doch eher naturböse als naturlieb? Aber schließlich war es ja eine halbwegs moderate Form der Machtergreifung. Wir schlugen und wir traten ihn nicht, wir taten nichts, als auf seinem Rücken zu sitzen. Woher kommt eine solche Machtlust? Ich war bis dahin in meiner kurzen Kindheit nicht damit konfrontiert, so weit ich es weiß und erspüre, jedenfalls. Sie kann nur von meinen Vorfahren kommen oder sie ist sogar generell dem Menschengeschlecht, vielleicht gar den Säugetieren insgesamt eingegeben. Dem einen Individuum mehr als dem anderen, und sie muss sich nicht mit lauter Grobheit mischen, erst recht nicht bei den höchstentwickelten Säugetieren, den Menschen, sondern kann auch eine Allianz mit leiser Feinsinnigkeit eingehen, ohne dass sich die Machtlust dadurch in ihrem Kern mindert; vielleicht streckt und dehnt sie sich dadurch sogar eher, weil sie sich nicht laut und explosiv auf einmal abreagiert.

Also eine Sehnsucht nach Freundlichkeit und Kultiviertheit, die die Lust am Leben und an der Macht, was beides zusammengehört, glättet und erträglich macht – so wird die Freundlichkeit zum dritten Wert im Bunde. Dieser Dreierbund macht für mich den Sinn des Lebens aus. Deswegen war ich auch so von Gorkis „Nachtasyl“ und „Kinder der Sonne“ fasziniert.

*

Deine Vorstellungen vom Sinn des Lebens unterscheiden sich gar nicht so sehr von meinen. Es ist schon bezeichnend, dass sich in unserer Sprache so viele Begriffe auf das Kernwort Sinn beziehen. Unsere fünf bis sieben Sinne brauchen wir, um uns lebendig zu fühlen, um das Leben zu riechen, zu schmecken, zu ertasten, um es hörend und sehend zu erfassen. Zusammen macht das einen großen Teil unserer  Sinnlichkeit aus.

Und die weist individuelle Unterschiede auf. Nehmen wir mal uns beide. Gemeinsam ist uns, glaube ich, dass wir ausgesprochene Augenmenschen sind. Wir sind sehr empfänglich für die Schönheiten der Natur. Menschliche Schönheit macht uns an, ebenso die Schönheit von Menschen geschaffener Werke. Mindestens zwei Unterschiede fallen dabei aber ins Auge: Ich bin eine Tetrachomatin, das heißt, ich gehöre zu der relativ kleinen Minderheit, die vier Farbrezeptoren besitzt und damit besonders viele Farbnuancen von einander unterscheiden kann. (Das Gegenteil sind Monochromaten; die nehmen die Welt nur in Grautönen wahr; im Volksmund spricht man von Rot-Grün-Blindheit.) Du liegst irgendwo dazwischen und kannst dir wahrscheinlich kaum vorstellen, dass ich regelrecht körperlich leide, wenn die farbliche Harmonie von Dingen und Erscheinungen gestört ist. Außerdem nehmen wir menschliche Schönheit unterschiedlich wahr. Ich spiele dabei nicht auf die platte Feststellung an, dass der Männerblick auf Frauen und der Frauenblick auf Männer von unterschiedlichen Impulsen und Maßstäben gelenkt wird. Es geht mir um die Nuancen. Ich kann die Schönheit meiner Geschlechtsgenossinnen  mit großem Wohlgefallen (und übrigens weitgehend neidlos) zur Kenntnis nehmen, ohne jemals auch nur die Spur eines erotischen oder gar sexuellen  Angetan-Seins zu empfinden. Dein Blick auf deine Geschlechtsgenossen ist anders konditioniert.

Ich könnte jetzt auch unseren unterschiedlich ausgeprägten Sinn für Geräusche, Rhythmen, Töne und Melodien auseinander nehmen und dich für deine Unmusikalität bedauern, die die Sinnlichkeit deiner Hörerlebnisse  einschränkt , nicht aber ihre Sinnhaftigkeit. Ich könnte beschreiben, welche Verrichtungen uns ein besonderes sinnliches Vergnügen bereiten und wäre mir bei den Themen Essen, Spielen, Spinnen (Sinnieren) und Albern-Sein ziemlich sicher, dass wir als Genussmenschen sehr ähnlich ticken. „Der Sinn des Lebens ist das Leben selbst“ – ich bleibe dabei, ergänze aber: Es geht vor allem um solche Lebensäußerungen, die der Mensch im Laufe seiner Entwicklung zu einem kulturellen und sozialen Wesen kultiviert hat. Es geht um seine menschliche Gesinnung, um Selbstvergewisserung durch Besinnlichkeit, um Versinnbildlichung und Sinngebung.

Mein Lieber, ich plädiere für mindestens noch einen dritten Teil dieses Dialogs. Da würde ich gern das Thema frühe Prägungen noch einmal aufgreifen und Bezüge zu den Stichworten Machtausübung und Dominanz herstellen. Von dort aus würde ich dann auf unsere persönlichen Siege und Niederlagen kommen wollen.

 

Fußnoten

/1/ Das ist nach meiner Meinung ein generelles Phänomen der Neuzeit, dass schnell etwas Medizinisches, „Fachliches“ auf besondere Verhaltensauffälligkeiten „geklebt“ wird. Im Moment grassieren die Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und die Aufmerksamkeitsstörungen, verbunden mit Hyperaktivität (AD[H]S). Damit sind diese Auffälligkeiten schon einmal gebannt: Gib dem Unerklärlichen einen Namen, einen möglichst wissenschaftlich-medizinischen, dann sind sie nur noch halb so schlimm; dagegen wird sich doch irgendeine Medizin finden lassen. Vor allem erscheinen sie dann als naturgegeben. Die Art, wie wir alltäglich alle miteinander umgehen, hat nichts mehr damit zu tun, sondern etwas Geheimnisvoll-Mystisches wabert um sie herum. Sie werden in den Sonderbereich „Medizinisches Fachproblem“ entsorgt, und die liebe Elternseele hat ihre Ruhe. Muss es bei der Art, wie wir heute miteinander leben, nicht zwangsläufig zu diesen Störungen kommen? Bei der Reizüberflutung können doch Kinder gar nicht mehr lernen, etwas in Ruhe zu Ende zu machen. Wenn schon Kindergartenkinder ein Smartphone in die Hand gedrückt bekommen, damit sich ihre Eltern ungestört mit ihren eigenen Smartphones beschäftigen können, dann lebt jeder nebeneinander her. Vor kurzem habe ich im Deutschlandfunk eine Sendung gehört, wo eine Kindergartenleiterin stolz erklärte, dass bei ihr jedes Kind macht, was es selbst will. Das betrifft auch das Essen. Jeder geht dann in die Kindergarten-Gaststätte, wann er es will, vielleicht isst er dann auch etwas aus Langeweile und er geht wieder, wann er es will, und kommt nach 5 Minuten wieder. Diese Kinder lernen, nur auf sich selbst zu achten, ihren eigenen Launen und Stimmungen entsprechend zu handeln: Habe ich noch Hunger? Besser gesagt, Lust darauf, etwas zu essen? Das ist es, was sie lernen, nicht zu warten, bis alle da sind, bis ein „guter Appetit“ gewünscht oder ein Gebet gesprochen wurde, sondern es zählt nur, was ein Kind in dem Moment selbst will. Mit anderen und für andere etwas zu tun, zum Beispiel den Tisch mit zu decken, ist nicht angesagt. Ich halte das für ein Autismus-Trainingsprogramm. Der „Autismus“ wird aus dem alltäglichen Handeln heraus regelrecht gezüchtet, um danach aufwändig nach allen Regeln der medizinischen und heilpädagogischen Kunst wieder behandelt zu werden. Diese fortwährend gesammelten Erfahrungen prägen gerade junge, noch wachsende Hirne und so schlagen sie sich in den Erbanlagen nieder und der „Autismus“ wird tatsächlich immer biologischer und medizinischer. Wenigstens und jedenfalls ist das ein gutes Arbeitsbeschaffungsprogramm für Sonder- und Heilpädagogen. Ich lasse es an dieser Stelle zu diesem Thema, ich habe es ausführlich an anderer Stelle bearbeitet. Auch ganz aktuell lassen sich Bestätigungen für meine pädagogische Sicht finden, die ich seit Jahrzehnten vertrete.

 

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