Werte, Traditionen, Umgangsformen – wovon reden wir? (3)

Teil 3: Was Hänschen lernt, davon kann Hans was lernen 

Lieber Karl,

die Urlaubssaison und die Schulferien unserer Enkel sind zu Ende und damit auch die Zeit, in der wir nur sporadisch Verbindung halten konnten. Ich habe diese Zeit nun schon reichlich überzogen, weil  über den Sommer  viele Arbeiten im fachlichen wie auch ehrenamtlichen Bereich liegen geblieben  sind, für die eine moralische Bringepflicht auf mir lastet. Ich habe deine Reaktion auf den 1. Teil meines Beitrags „Werte, Traditionen, Umgangsformen“ erst lesen können, nachdem ich meinen zweiten Teil schon geschrieben hatte. Der klingt aber passagenweise wie eine Antwort auf deinen Kommentar. Wir kennen uns eben doch ziemlich gut.

Vielleicht kann man den Unterschied zwischen unseren Vorstellungen von Erziehung so beschreiben: Du identifizierst dich eher mit dem „alten Meister“ aus Goethes „Zauberlehrling“, während ich mich Chamissos kindlichem Lehrling in „Der rechte Barbier“ verbunden fühle. Du kennst den Inhalt dieser schönen Ballade, die ich schon mit 10 Jahren auswendig hersagen konnte?

Ein selbstherrlicher Adliger, der sein Erscheinungsbild nur widerwillig dem neusten Modetrend, einem glattrasierten Gesicht, anzupassen bereit ist, lässt seine Wut darüber, dass er sich von seinem schönen langen Bart trennen soll, an den Barbieren der Gegend aus. Er stellt sie vor die Alternative: Wenn die Rasur gelingt, gib es 100 Batzen zur Belohnung, aber wenn auch nur „ein einz’ges Tröpflein Blut“ fließt, sticht sein tödlicher Dolch zu. Die Ballade lässt offen, wie viele Barbiere sich geweigert haben, dem „grimm’gen, schwarz behaarten Mann“ unter diesen Bedingungen zu Diensten zu sein, oder ob bereits Todesopfer zu beklagen sind. Jedenfalls beginnt die Ballade damit, dass der Noch-Bartträger bei einem weiteren Barbier einkehrt. Der delegiert die todesgefährliche Aufgabe aber gleich an seinen Gesellen, dieser wiederum gibt sie an den Lehrjungen weiter. Dem bleibt nichts anderes übrig als zu gehorchen. Er liefert ohne Zögern und mit ruhiger Hand Qualitätsarbeit und kassiert die 100 Batzen. Der gezähmte Wüterich betont abschließend, dass er auch ihn, das halbe Kind, nicht verschont hätte, wenn sein Rasiermesser abgerutscht wäre. Darauf der Junge:

»Ei, guter Herr, so stand es nicht,

ich hielt Euch an der Kehle.

Verzucktet Ihr nur das Gesicht

und ging der Schnitt mir fehle,

so ließ ich Euch dazu nicht Zeit.

Entschlossen war ich und bereit,

die Kehl Euch abzuschneiden.«

 

Hier ist der Lehrling klüger als sein Meister. Hier erteilt das Kind den Erwachsenen eine Lehre. Na gut, wirst du vielleicht sagen, in einem Kunstwerk, einem fiktionalen Text, mag das seine Berechtigung haben, aber im realen Leben? Da auch, davon bin ich überzeugt, und mir fallen gleich mehrere Beispiele ein, die meine Überzeugung stützen.

In Finnland habe ich Seminargruppen kennengelernt, deren Mitglieder aus drei Generationen stammten: Neben den „normalen“ Studis gab es „Schnellläufer“, die schon nach der 10. Klasse an der Uni aufgenommen worden waren, und „senior students“ im Rentenalter, die es noch einmal wissen wollten. Auffällig war das freundschaftliche Miteinander der drei Generationen, sogar in der Cafeteria saß man in gemischten Grüppchen zusammen. Die Alten pochten nicht auf ihre Lebenserfahrung, von der die Jungen trotzdem profitierten, und die Jungen pochten nicht auf ihr Rebellentum, das für die Alten trotzdem ansteckend war. Die Dozenten verstanden sich nicht als Schulmeister, sonder als diskrete Lernbegleiter. So stelle ich mir Lehr-Lern-Zusammenhänge auf Augenhöhe vor.

Eine selbst erlebte Episode will ich kurz erzählen, (wohl wissend, dass solche Beispiele nicht unbedingt verallgemeinerbar sind).

Oft musste ich meinen älteren Sohn zu abendlichen Dienstbesprechungen mitnehmen, weil die Kita da schon geschlossen hatte. Mit Malzeug und Bauklötzern versorgt, konnte man den Kleinen schon mal für ein halbes Stündchen im Hintergrund platzieren und sich selbst überlassen. Einmal kamen die Kollegen am Rande der Sitzung auf den Entwicklungsstand ihrer eigenen Kinder zu sprechen. Wann kriegten die Sprößlinge ihre ersten Zähnchen, in welchem Alter konnten sie sitzen, sich aufrichten, laufen? Ab wann schliefen die Rangen nachts durch? Wie groß war in welchem Alter ihr Wortschatz? Über welche besonderen Talente verfügten sie?

Ich weiß nicht, wie es dir geht, lieber Karl, bzw. Ihnen, liebe Leser, aber mich nerven solche Gespräche. Und kaum nervt mich was, macht mein Ironiezentrum mobil. „Was habt ihr nur für eine bewundernswerte Brut“, sagte ich, „da kann ich leider nicht mithalten. Ich würde meinen Sohn unter ‚guter Durchschnitt‘ einordnen, mehr aber auch nicht.“ Da machte sich der Kleine aus seiner Spielecke mit der Frage bemerkbar: „Schmerzt das eine Mutter nicht?“

Deine Argumentation, dass das höhere Alter des Erziehers die naturgegebene Voraussetzung für seine Dominanz sei, leuchtet zunächst einmal ein, ist aber nicht in jedem Falle zwingend. Mit Uli, meinem verstorbenen Lebensgefährten, hatte ich darüber so manchen Disput. Seine geschiedene Frau, die Mutter seiner drei Söhne, eine sympathische, gestandene Kindergärtnerin, hielt ihre Jungs im Dreierpack an der kurzen Leine. Uli, der die Bestimmerrolle ansonsten gern anderen überließ, übte sie bei seinen „Wochenend-Bengels“ mit Leidenschaft und Überzeugung aus. Sie gehorchten ihm aufs Wort, wobei ihm nicht so ganz klar war, dass den Boden für solchen Gehorsam seine Ex bereitet hatte.

Die Leine, an der meine beiden Söhne geführt wurden, war unvergleichlich länger. Ihr Widerspruchsgeist, ihr Drang nach Selbstständigkeit, ihr Austesten der Grenzen erschien Uli als purer Ungehorsam und er verstand nicht, warum sie seine Regeln nicht genau so widerspruchslos akzeptierten wie seine Söhne.

Allerdings kriegte er auch nicht mit, dass seine Söhne ihm die Patriarchenrolle eher aus Bequemlichkeit denn aus Überzeugung überließen und mir gegenüber aussprachen, was sie tatsächlich von dieser Rolle hielten. Jetzt, wo unsere fünf Jungs erwachsen sind, zeigen sich die erziehungsbedingten Unterschiede. Ulis Söhne führen ein redliches, aber doch ziemlich spießiges Leben in relativem Einklang mit dem Meinungsstrom und seinen Autoritäten, während meine beiden Jungs keine Routine im Sich-Unterordnen entwickelt haben und ihre eigenständigen Wege recht unbeirrbar gehen, nicht ohne eine gewisse kritische Distanz zu ihrem eigenen Tun und Treiben zu pflegen. Sind das nicht beste Voraussetzungen, um dem deutschen Untertanen-Geist seine Daseinsberechtigung streitig zu machen?

Ich komme zu Kapitel (4) meines fiktiven und ungeschrieben bleibenden Ratgebers „Das Fremde macht Angst, das Eigene betriebsblind“. Fast könnte ich es bei dieser Überschrift belassen, mit der eigentlich schon alles gesagt ist. Ich habe es fast mein gesamtes Berufsleben lang mehr mit Ausländern zu tun gehabt als mit eingeborenen Deutschen. Das hat mein kulturelles Koordinatensystem doch merklich beeinflusst und vor allem die Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit hiesiger kultureller Normen verdeutlicht, von denen schon die Rede war. Ich kann die Berichte über Massenvergewaltigungen durch außer Rand und Band geratene Migranten nicht zur Kenntnis nehmen, ohne dabei auch die Tatsache mitzudenken, dass die Vergewaltigung in der Ehe unter „Bio-Deutschen“ ein nach wie vor häufiges, aber selten geahndetes Delikt ist und dass laut Statistik jeden dritten Tag eine deutsche Frau an den Folgen häuslicher Gewalt stirbt. Ich kann die unverdiente Einwanderung der Migranten in deutsche Sozialsysteme nicht verurteilen, aber das leistungslose Einkommen einer deutschen Schmarotzerschicht durch Erbschaft, Uralt-Privilegien, Immobilienbesitz, Pachteinnahmen, Zinseszins-Kapital und Spekulationsgewinne als gegeben hinnehmen. Ich kann die bittere Armut auf dem afrikanischen Kontinent nicht von der Frage abkoppeln, wer dafür sorgt, dass ihnen der ungeheure Reichtum an Bodenschätzen so gar nicht zugute kommt. Ich kann, um ein kleines, praktisches Beispiel anzufügen, die Gepflogenheit, unsere Babys nach Stechuhr in die Heia zu schicken, nicht mehr so selbstverständlich finden, seit ich beobachten konnte, wie in den südlicheren Ländern schon die Säuglinge bis nach Mitternacht überallhin mitgenommen und zum Schlummer auf einem geschützten Plätzchen abgelegt werden.

In meinem fiktiven 5. Ratgeber-Kapitel würde ich die Frage aufwerfen: Darf man der Natur auf die Sprünge helfen? Und darauf antworten: Natürlich darf man das. Spätestens seit der erste Urmensch einen dicken Ast als Krückstock verwendete, um sein lädiertes Bein zu entlasten, gehören Optimierungen und Korrekturen der biologischen Gegebenheiten zum Menschsein dazu. Du gehst an die Frage viel konservativer heran und siehst zum Beispiel bei der Möglichkeit, dass ein queerer Mann sich seinen Kinderwunsch durch Inanspruchnahme einer Leihmutter erfüllt, eine Grenze überschritten. Ich beobachte solche Weiterungen zwar auch nicht ohne eine gewisse Skepsis, aber die Zunahme an Diversität als einen Gewinn. Warum sollen denn Menschen, die von der Mehrheitsnorm abweichen, weniger Recht auf ein glückliches und erfülltes Leben haben als Normalos?

Ein Kommentar zu “Werte, Traditionen, Umgangsformen – wovon reden wir? (3)”

  1. Karl sagt:

    Der schiefe Turm von Meta

    Liebe Meta, mit der anekdotischen Beweisführung aufgrund unseres eigenen Lebens kommen wir nicht weiter. Du unterstellst mir, ich würde „altbacken“ auf Hierarchien und Strukturen setzen und argumentierst dann dagegen.

    Ich selbst halte mich aber für einen ausgesprochenen Sowohl-als-auch-Menschen. Ich bin für Hierarchien und Strukturen, aber auch für das Gegenteil, für kreative Herumalberei, dafür, immer noch Kind zu sein, auch als Alter. Ich könnte jetzt Anekdoten anführen, wie locker und unkonventionell ich mit meinen Enkeln, sowohl biologische wie nichtbiologische, umgehe. Aber das führt nicht weiter. Fest steht: Alles zu seiner Zeit. Lebenskunst ist zu wissen, wann was dran ist, und es dann „richtig“ zu machen und offen zu bleiben für die ehrliche Erkenntnis, was weiter führt und was (gerade) nicht.

    Ich bin ein bisschen erschöpft und ratlos. Wenn selbst wir nicht „richtig“, also weiterführend, streiten können, welchen Sinn haben Diskussionen, jedenfalls politische und philosophische, dann überhaupt? Jeder bleibt doch sowieso bei dem, was er schon immer dachte. Das steht fest und die Argumente werden daraufhin „umgebogen“. So komme ich auch auf die Überschrift dieses Kommentars: Du baust einen Argumentationsturm auf, der auf falschen Voraussetzungen beruht, und belehrst mich dann mit Selbstverständlichkeiten, die ich nie bezweifelt habe, dass zum Beispiel ein Lehrjunge klüger sein kann als sein Meister oder dass das Fremde Angst macht und das Eigene betriebsblind. (Was ist im Übrigen mit fortschrittlichen Menschen wie Dich, für die das Eigene möglicherweise das Fremde ist und das Fremde das Eigene?)

    Exemplarisch für deine verbogenen Argumentationsketten will ich hier Deine Relativierung der Gruppenvergewaltigung von Mädchen/Frauen durch den Verweis darauf, dass ja auch „Bio-Deutsche“ ihre Frauen in der Ehe vergewaltigen, anführen:

    1. Auch Nicht-Bio-Deutsche vergewaltigen feste Partner in der Ehe oder Lebensgemeinschaft. Diese schon allein deswegen mehr als eingeborene Deutsche, weil sie zuweilen mehrere Partner in einer Ehe zugleich haben und das ganz offiziell.

    2. Jemand, der in einer festen Beziehung vergewaltigt wird, hatte sich diesen Täter-Partner vorher selbst ausgesucht bzw. hatte zumindest seiner „Aussuchung“ zugestimmt. Er kann diesen Täter nach einer Vergewaltigung nicht nur anzeigen, wie das auch Opfer tun können, die im Park von mehreren vergewaltigt wurden, sondern er kann auch ein konkretes Kontaktverbot erwirken, was schwierig ist, wenn man einen anonymen Täter gar nicht kennt. Er kann sich von ihm scheiden lassen.

    3. Nacheinander von verschiedenen Männern überfallen zu werden, die mit immer wieder neuer Vergewaltigungslust bzw. -Wut über ein Opfer herfallen – es kann auch ein männliches sein -, ist etwas Anderes und Schlimmeres, als vom gleichen Partner, von dem sich zu trennen, man immer noch nicht geschafft hatte, wieder vergewaltigt zu werden. Dazu kommt, dass bei einer Gruppenvergewaltigung, die anderen Täter, die noch nicht oder schon „dran“ waren, zusehen und sich bestimmt dazu auf eine triebhafte Weise äußern werden, was die Erniedrigung bodenlos macht.

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