„Isch geh Schulhof“ (4)

Das Folgende auf S. 55 des Buches hatte ich noch übersehen. Ich füge es als 5. Punkt nach den vier bereits genannten in den ersten drei Beiträgen von „Isch geh Schulhof“ an:

5. „Nach ein paar Wochen als Lehrer habe ich mich an das Schlimmste gewöhnt: Schüler, die verspätet oder gar nicht in den Unterricht kommen…“ Nicht der Rede wert, sondern vollkommen normal in Deutschlands Schulen. „…Gewaltätige Ausbrüche von kleinen Paschas im Unterricht…“ Hoppla, was ist denn das? Die kleinen „Paschas“ gibt es doch gar nicht. Für diese rassistische Diskriminierung sollte sich Herr Merz doch entschuldigen. Wie ich ihn und die CDU kenne, hat er es auch getan. Ein linksliberaler Schulpraktiker jedenfalls beschreibt so die Realität. Herr Merz hat sich ja auch geflissentlich für die Unterstellung entschuldigt, dass es Ukrainer gibt, die nur zum Abholen der ihnen zustehenden Sozialleistungen, einschließlich des Kindergeldes, nach Deutschland kommen und ansonsten in ihrer ukrainischen Heimat leben. Er nannte das „Sozialtourismus“, was er hinterher schwerstens bereut hatte. Die den Ukrainern zugewiesenen Sozialwohnungen stehen zum Teil immer wieder für längere Zeit leer, wie ich es von Leuten höre, die in Hausverwaltungen arbeiten. Und auch der eigene Augenschein spricht dafür: Unter mir wohnt eine nette Ukrainerin mit ihrem Sohn. Ich wollte schon öfter mit ihm mit den Bausteinen meines Enkels spielen, die ich ihm geschenkt hatte. Er ist aber kaum da. Ich mache der Ukrainerin keinen Vorwurf. Ich könnte einem solchen unmoralischen Angebot eines jovialen Onkel Deutschland auch nicht widerstehen. Er ist so servil geworden, dass er nicht merkt, dass seine Wirtschaftskraft nicht einmal mehr für die dringendsten Bedürfnisse der eigenen angestammten Bevölkerung reicht. („Deutschland zählt nicht mehr zu den 20 wettbewerbsfähigsten Ländern der Welt… Deutschland ist nicht mehr unter den ersten zehn Ländern Europas beim Bruttosozialeinkommen pro Kopf.“ Hoffentlich zahlt China uns dann auch Entwicklungshilfe, wenn es mit dem grün-roten Abbau der deutschen Industrie so weitergeht. Bis jetzt ist es noch umgedreht.) Ich hatte schon immer Verständnis für gewitzte Neffen und Nichten, die Leute, die sich für ihren „Onkel“ halten, ausnutzen. Onkel Dagobert ist das älteste Beispiel dafür, aber der ist im Gegensatz zu Deutschland wirklich reich. Die Ukrainer haben eben noch Familiensinn und Sehnsucht nach ihrem Vaterland. Sie sind nicht so individualistisch vereinzelt und entwurzelt, sowohl familiär als auch national, wie die Westen-Deutschen (nicht das Kleidungsstück, sondern die Himmelsrichtung), zu denen inzwischen auch ein Teil der DDR-Bürger geworden ist. (Das Problem mit den blockierten Sozialwohnungen durch Ukrainer, die sich größtenteils gar nicht in Deutschland aufhalten, ist inzwischen gelöst: Es darf nicht mehr darüber geredet werden. [Sonst: gesichert rechtsextrem])

Wieder zurück nach Berlin-Kreuzberg im Jahr 2012:

6. „Viele der Schüler sind regelrecht verwahrlost, einige werden ganz offensichtlich misshandelt. Und ich kann nichts dagegen tun… Ein Mädchen aus der zweiten Klasse hat ihrer Klassenlehrerin einen Brief geschrieben, in dem steht, dass sie ihre Mutter und ihren Stiefvater an Stellen küssen muss, die ihr nicht lieb sind“, sagt Herr Möller seinem Schulleiter. Dieser „sieht einen Moment lang betreten aus dem Fenster. ‚Das Jugendamt ist in dem Fall informiert worden, wie ich gehört habe‘ … Die Antwort des Jugendamtes scheint er auch schon zu kennen: Keine Zeit, wir haben schlimmere Fälle auf dem Tisch und sind personell vollkommen überlastet.“ (S. 69f.) Wenn solch ein Brief von einen Kind aus dem Reichsbürgermilieu käme, da wäre aber was los. Ruckzuck würde das Kind aus der Familie herausgenommen werden, und die Eltern wären ihr Sorgerecht los. Das denke ich, das glaube ich. Ich habe mich übrigens beim Jugendamt beworben. Ich würde gern noch ein paar Stunden als Familienhelfer arbeiten. Ich bin pädagogisch-psychologisch qualifiziert, aber schon zu DDR-Zeiten, und das ist natürlich vollkommen überholt, schließlich waren die Kinder in der DDR viel schlechter in der Schule, als sie es heute sind. Nein, in Wirklichkeit waren sie viel besser. Aber Wachsamkeit ist trotzdem angesagt. Der Klassenfeind lauert überall, wusste schon Stalin. Heute ist aus dem „Klassenfeind“ der „Westfeind“ geworden. Wie hieß es in einem zu Sowjetzeiten verbotenen Stalinfilm: Seit wachsam Genossen! Von drei angeblich harmlosen Bürgern sind mindestens vier feindliche Agenten! Oder sie haben doch noch herausgefunden, dass mein Großvater Mitglied der NSDAP war. Jedenfalls hatte ich bisher keine Chance: Sie nehmen mich nicht.

7. Geht doch, wenn Struktur und guter Wille da sind: Es gibt auch „liebe“ Klassen, zum Beispiel die 5b. „Draußen ist richtig schönes Frühlingswetter, also schlage ich der Klasse vor, den Unterricht auf dem Hof abzuhalten. Die Begeisterung der Kids zaubert mir ein kleines Lächeln ins Gesicht… Auf dem Hof angekommen, machen es sich die Kids im Halbkreis auf dem leicht erwärmten Tartanboden bequem… Ich hole mir einen Stuhl… und beginne aus dem Buch [Die Abenteuer des Tom Sawyer] vorzulesen. Die Maisonne wärmt uns so angenehm, dass einige Kinder ihre Jacken zu Kissen umfunktionieren und alle viere von sich strecken. Sie liegen mit geschlossenen Augen da, haben die Arme hinter dem Kopf verschränkt und lauschen aufmerksam der Geschichte. Andere sitzen Rücken an Rücken, haben die Hinterköpfe aneinander gelehnt und lassen den Blick in den blauen Himmel schweifen. In den Pausen, die beim Vorlesen entstehen, ist nichts zu hören außer dem Gezwitscher der Vögel und dem sanften Rauschen der Bäume. Als das erste Kapitel zu Ende ist, halte ich einen kurzen Moment inne, spüre die Anwesenheit der zufriedenen Kinder und horche in mich hinein. Und nach all dem Stress der letzten Tage bemerke ich etwas absolut Unerwartetes. Ich bin glücklich. Einfach nur glücklich.“ (S. 71f.) So war es auch, als Schüler der Problemklasse 4e einen Brief mit vielen Fehlern geschrieben und sich dafür entschuldigt haben, dass sie Raik nicht stoppen konnten, sondern sich zum Teil sogar noch an seinen Ausrastern beteiligt hatten. Sie wollen ihren Lehrer, Herrn Mülla, der Möller heißt, behalten. Sie sind nicht böse, sondern einfach nur unerzogen und zum Teil sozial verwahrlost. (S. 76) Und sie wissen es zu schätzen, wenn jemand um sie kämpft, sogar wenn er dabei ein Lineal dermaßen auf den Tisch haut, dass es zersplittert und diese Splitter einen Schüler schmerzhaft treffen. Die Fähigkeit „trotz alledem“ weiter an das Gute zu glauben, das oft besonders in den „schlichteren“ Gemütern lebt, gehört unbedingt zum Lehrer-Beruf. Jetzt müsste noch ein Pädagogen-Kollegium hinzukommen, das sich in den wichtigsten Fragen einig ist, gemeinsam ein gutes Verhalten durch praktische Umgangsformen einübt und sich dabei und beim Unterrichten gegenseitig hilft. (Ich habe versucht, das zu beschreiben.)

8. Philipp Möller erzählt seinem Vater, einem Konzertmusiker, von seinem Leid und Glück als Lehrer. Dieser antwortet: „‚Seit einigen Jahren… beobachte ich immer wieder Menschen, die nicht aussehen wie Penner, aber in jedem Mülleimer nach Flaschen suchen… Als ich in deinem Alter war‘, fährt er dann fort und skizziert die katastrophale Lage der aktuellen Sozialpolitik, deren Auswirkungen an unserer Schule ungefiltert ankommen, mit einem einzigen Satz, ‚hätten wir uns dafür geschämt, dass ein so großer Teil unserer Bevölkerung in Armut lebt.'“

Und das schreibt Philipp Möller schon 2012. Die Probleme von damals haben sich inzwischen potenziert. „16 Jahre Kanzlerschaft von Angela Merkel waren selbst für ein so starkes Land wie Deutschland zu viel. In der Ära Merkel gab es nicht eine einzige Strukturreform, die das Land leistungsfähiger gemacht hätte.“ Und wahrscheinlich war die Versuchung damals noch nicht so hoch, für gar nicht zu arbeiten immer noch mehr Geld zu bekommen als fürs Arbeiten in schlecht bezahlten Berufen. Immer mehr Gaststätten, zum Beispiel, stehen leer, obwohl immer mehr Leute keine Arbeit haben. Ich weiß nicht, wie lange und wie weit dieser Spagat noch gehen soll.

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