Bilden und Erziehen: Wenn die Profession zur Obsession wird (1)

Wir Lehrer sind schon ein spezielles Völkchen.  Ich kenne Exemplare dieser Spezies, die gehen derart in ihrer Lehrerrolle auf, dass sie diese nicht mehr als Rolle begreifen. Das Belehren und Erziehen ist zu ihrer zweiten Natur geworden, die sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit ausleben.  Für ihre Umwelt sind solche Mehr-als-Vollblut-Pädagogen schwer genießbar.

Ich habe sozusagen am eigenen Leibe erlebt, dass man einer lehrertypischen  „Déformation professionnelle“ (wie der Begriff „Berufskrankheit“ auf Französisch treffender heißt) kaum entgehen kann; man kann sie höchstens in Schach halten. Zum Glück wusste meine Familie ihre Rolle als Korrektiv gut auszufüllen.  Meine Einser-Bildungsabschlüsse wurden als Selbstverständlichkeit zur Kenntnis genommen. Wenn ich, zu welchem Thema auch immer, ins Dozieren verfiel, entschärfte mich ihr respektloses Grinsen oder  ihr demonstratives Desinteresse. Zum Glück hielten sich Eltern und Geschwister an den Spruch, dass die Prophetin im eigenen Lande nichts gilt. Das schützte mich vor Selbstüberhebung und motivierte mich zu einer Übung, die mir im Laufe der Jahre in Fleisch und Blut übergegangen ist: Ich stelle mich neben mich selbst und beobachte mein Tun und Treiben mit sozusagen fremden Augen.

In meinen ersten Berufsjahren als Lehrerin an einer polytechnischen Oberschule auf dem Dorf blieb freilich kaum Zeit zur Selbstreflexion. Die Schule war einzügig, hatte also keine Parallelklassen, in denen man seine Unterrichtsvorbereitungen ein zweites Mal nutzen konnte. Die wenigen Lehrer mussten auch Unterricht in Fächern erteilen, für die sie nicht ausgebildet  waren (ich z.B. gab auch Englisch-, Musik- und Erdkundeunterricht). Die Lehrer waren fest in das Dorfleben eingebunden; mehrere Ehrenämter zu bekleiden galt als Selbstverständlichkeit. Die Sehnsucht nach Muße, um Abstand gewinnen zu können von einem Tagewerk ohne Atempausen, wurde mein ständiger Begleiter. Zunehmend belastete mich das Gefühl, nur noch auf oberflächliche Weise Herrin der Prozesse zu sein, für die ich verantwortlich war. Das verschwieg ich auch meinen Schülern nicht und stellte damit meine Rolle als über jeden Zweifel erhabene Lehrperson und Autorität in Frage. Damit konnten nicht alle Schüler gut umgehen, sie reagierten mit kleinen Respektlosigkeiten. Sie waren zum Glück in der Minderheit und wurden ohne mein Zutun von der Mehrheit unter Kontrolle gebracht. Im Vergleich zur gegenwärtigen Schülergeneration war das die reinste Idylle.

Später, an der Uni, diskutierte ich mit den Studis gern die Vorteile eines bewussten Rollenwechsels. Als Dozentin bediente ich  die Rolle der kompetenten Fachfrau. Als Betreuerin eines studentischen Forschungsprojektes war ich die fleischgewordene Verachtung hierarchischer Strukturen und bestand auf Augenhöhe. Als Weiterzubildende in puncto elektronische Medien musste ich mich kein bisschen verstellen, um in der Rolle der begriffsstutzigen, aber lernwilligen alten Paukerin zu überzeugen. Als Vorsitzende einer Gewerkschaftsgruppe, in der Angehörige aller Status vom Studenten bis zur Professorin vertreten waren, praktizierte ich ein Rollenverständnis, das die Vorzüge basisdemokratischer Prinzipien mit denen einer durchsetzungsstarken Führerschaft verband; Studenten, die ich im Unterricht prinzipiell siezte, wurden in diesem Rahmen mit dem kollegialen Du bedacht.

Es ließen sich weitere Rollen aufzählen, nicht zuletzt meine Mutterrolle. Wenn man mir nachgesagt hätte, ich würde ganz in meiner Mutterrolle aufgehen, hätte ich das nicht als Kompliment betrachtet. Außerdem muss ich zugeben, dass ich nach einem langen Schul- bzw. Hochschultag keine Lust mehr auf Fortsetzung der pädagogischen Attitüde in den eigenen vier Wänden hatte und gern mal meine eigene Rolle sabotierte. Dann dachte ich an die alte Volksweisheit: „Lehrers Kinder, Pastors Vieh / gedeihen selten oder nie.“ und fand, dass da etwas dran war. Wenn ich heute manchmal gefragt werde, wie ich das hingekriegt hätte, dass meine beiden Söhne so gut geraten sind, antworte ich meistens: „Sie sind nicht wegen meiner Erziehungsversuche so gut geraten, sondern trotz  dieser Versuche.“ Und das meine ich zu – sagen wir – 70% ganz ernst.

Ich wollte auch in einer meiner anderen Rollen nie ganz aufgehen, ich wollte sie alle möglichst authentisch leben, dabei aber ihre Spielregeln mit einem gewissen Abstand zur Kenntnis nehmen. Der Spielbegriff, den Schiller einmal mit dem schönen Satz kommentierte: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, ist mir an dieser Stelle sehr wichtig. Der Satz besagt ja auch, dass man sich in seinen Reaktionen auf Ereignisse und Gedanken nicht gleich bierernst festlegen, sondern Optionen durchspielen sollte. Ein falsches Rollenverständnis ist eines der Ursachen  für Obsessionen.

In der Literaturwissenschaft bin ich immer mal wieder Kollegen begegnet, die in dem Irrtum befangen waren, eigentlich verkappte  Autoren des Schöngeistigen zu sein. Sie könnten sich zwar vielleicht nicht ganz so kreativ und wortgewandt ausdrücken wie die Dichter, an denen sie sich abarbeiteten, dafür würden sie ihnen aber in der Analyseschärfe überlegen sein. Manche lebten auch in der Illusion, an ihnen sei ein Schauspieler verloren gegangen. Ich bin, obwohl mir als Mitglied  eines Laienspielzirkels und später der Studentenbühne  interessante Rollen zugetraut wurden, nie auf den Gedanken gekommen,  daraus einen Beruf zu machen. Und wenn ich in der Vorlesung ein Gedicht vortrug, dann immer mit einem Augenzwinkern und angezogener Handbbremse: Achtung, das ist eigentlich nicht meine Rolle.

So mancher Gymnasiallehrer hält seine Tätigkeit für anspruchsvoller als die der Primarstufenlehrerin und begründet das mit den anspruchsvolleren Stoffen, die er zu vermitteln habe. Er übersieht dabei, dass ein guter Unterricht für die unteren Klassen deutlich höhere Ansprüche an die Vermittlungskompetenz der Lehrer stellt. Der Irrtum setzt sich bei nicht wenigen Hochschullehrern dergestalt fort, dass sie ihre Aufgabe ausschließlich darin sehen, ihr Wissen an den Mann oder die Frau zu bringen. Als Universalmethode kennen sie nur dieses „Friss, Vogel, oder stirb! “ und halten weitere fachdidaktische Überlegungen für überflüssig.

 

 

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