„Wir sind doch dafür da, den Kindern das Leben schön zu machen… (Teil 7.3 von „Mein Weg ins Leben“)

… und nicht, sie von vorn bis hinten zu reglementieren.“ So Frau Fritsche, die stellvertretende Internatsleiterin bei der Fortsetzung der Beratung meiner pädagogischen Konzeption vor der erweiterten Schulleitung eine Woche später. Und weiter: „Mir geht Ihre ganze Erziehungsrichtung sowieso gegen den Strich. Ich will unsere Schülerinnen und Schüler mehr begleiten als sie zu erziehen.“ Kaum hatten wir begonnen und schon war eine lange Pause da. Es war ganz still im Zimmer. Allen war klar, dass es jetzt um eine grundsätzliche Weichenstellung für die Entwicklung der Schule ging.

„Liebe Frau Fritsche, dafür, den Kindern das Leben schön zu machen, sind wir bestimmt nicht da“, antwortete ich. „Sie sollen ein erfülltes Leben haben, eins, in dem sie sich entwickeln können, aber keins, was immer schön ist.“

„Aber so weit es in unserer Macht steht, sollten wir ihnen ein schönes Leben bereiten. Der Ernst des Lebens kommt doch noch früh genug. Das sind Kinder und Jugendliche, die wollen nach dem anstrengenden Lernen ihren Spaß haben, sich ausruhen können und Sie, Herr Karl, wollen, wie ich Sie verstehe, eine Art militärisches Regime mit einem ‚Chef-vom-Dienst-System‘. Was soll denn das? Dafür stehe ich jedenfalls nicht zur Verfügung.“

„Es ist sehr gut und sehr wichtig, dass wir uns austauschen, Frau Fritsche, denn eine Schule wird nur Erfolg haben können, wenn das Pädagogenkollegium von einer gemeinsamen Erziehungsphilosophie geleitet wird. Ich behaupte, es gibt Spaß der Sorte A und der Sorte B. Wenn Menschen an einem gemeinsamen großen Ziel arbeiten, mit Tiefpunkten und Problemen, die sie zusammen überwinden, haben sie letztendlich mehr Spaß, eine Art Tiefenspaß sozusagen (Sorte A), als wenn sie in einer Halbröhre mit Rollbrettern umherfahren oder am Computer ‚zocken‘, wie die Jugendlichen das nennen. Das kann auch sein, das gehört aber zu einem Spaß minderer Qualität, sozusagen der Sorte B. …“

„Ja, entschuldigen Sie, das nervt mich auch“, warf Frau Fritsche ein, „Ihre Deutschtümelei. Kein Mensch außer Ihnen sagt ‚Halbröhre‘ und ‚Rollbrett’… Sie müssen die Sprache der Jugendlichen sprechen, wenn Sie bei Ihnen ankommen wollen, und die sagen nun mal ‚Halfpipe‘ und ‚Skatebord‘ …“

Jetzt mischte sich Herr Karius ein: „Ich schlage vor, wir bleiben vorläufig bei unseren pädagogischen Meinungsverschiedenheiten. Da haben wir genug zu tun.“ – „Einverstanden“, sagte ich und dann doch noch: „Obwohl: Die ‚Deutschtümelei‘ berührt auch ein pädagogisches Problem: Bieten wir den Kindern und Jugendlichen unser eigenes erwachsenes Profil an, an dem sie sich reiben können, mit dem sie nicht bei dem hängen bleiben, was bei ihnen sowieso gerade Mode ist, sondern auf andere, prinzipiell neue Lebensgedanken kommen. Dann hätten die Jungen wenigstens recht, wenn sie uns ‚Alter‘ nennen. (Sich selbst bezeichnen sie ja übrigens auch so. Daran sehen Sie, dass das mehr ein Kompliment als eine Beleidigung ist.)

Aber im Ernst: Deutschland ist total unpatriotisch. Es ist das Land in Europa, vielleicht sogar der Welt, das seiner Jugend keinerlei Nationalbewusstsein vermittelt. Ich persönlich glaube nicht an die EU, sie wird in spätestens 10 Jahren obsolet sein. Aber setzen wir sogar einmal den Fall voraus, dass sie eine Zukunft hat. Dann ist sie wie ein Kollektiv von Nationen. Und ein Kollektiv ist nur so gut, wie sich jedes Mitglied seiner Eigenheiten bewusst ist und sie entfaltet und für die Gemeinschaft zur Geltung bringt. Da ist das Deutschland, wie es heute tickt, ein schlechtes Kollektivmitglied: Vollkommen unselbstbewusst und damit auch nicht hilfreich für die Gemeinschaft. Mit anderen Worten: Wenn ich für die Stärkung des Bewusstseins der nationalen Eigenarten (Nationalbewusstsein) auch in Deutschland eintrete, setze ich mich für eine höhere Qualität der europäischen Gemeinschaft ein.

Und so wie ich für die Stärkung des Nationalbewusstseins bin, will ich das auch für unsere Schule, also ein Schulbewusstsein stärken, und eins für die Stadt Waldberg. Im Schulkontext ist in Deutschland nur ein ‚Klassenbewusstsein‘ üblich, das Gemeinschaftsgefühl einer Schulklasse. Das passt zur Individualisierung als obersten deutschen Wert. Wir brauchen aber viel mehr ein Schulbewusstsein und die anderen übergreifenden (Stadt, Region, Nation), erst daraus kann sich eine gute individuelle Identität bilden…“

Herr Karius wurde unruhig. Deswegen fuhr ich begütigend fort: „Erlauben Sie mir jetzt bitte nur noch ein Wort zur Nation als größter Gemeinschaft von Menschen, die eine Sprache, Kultur und Mentalität verbindet: Wenn ich hier Schulleiter werde, wird auf dem Dach der Schule die schwarz-rot-goldene Fahne flattern, neben der von Waldberg und der Flagge der Schule. Ich möchte, dass alle, die in unsere Schule gehen, Schüler, Lehrer, Pädagogen und andere schulische Mitarbeiter, ein Zu-Hause-Gefühl auf mehreren Ebenen haben können, auf der Ebene ihrer Familien, ihrer Klassen, ihrer Schule, ihres Ortes (Waldberg) und ihrer Nation.“

Frau Fritsche: „Und auf der europäischen Ebene…“ – „Nein, diese Ebene ist viel zu abstrakt und zu weit gestreckt. Da gibt es Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und Ländern wie Serbien und Moldau. Auch die Ukraine will möglichst schnell dazu gehören. Die nationalen Mentalitäten dieser Länder und auch welcher, die schon Mitglieder sind wie Bulgarien und Rumänien, sind viel zu unterschiedlich. Passen und gehören nicht zusammen.“ – „Das geht nun wirklich zu weit“, fiel Herr Karius, der Schulleiter, der noch in Amt und Würden war, wieder ein. „Wir haben genug konkrete pädagogische Probleme. Da können wir nicht auch noch die Welt retten. … Eins ist Fakt: Wir müssen uns für eine grundsätzliche Erziehungsphilosophie, wie sie Herr Karl nennt, entscheiden. Die angesagte in Deutschland ist eine ‚vom Kinde aus‘, eine schülerorientierte sozusagen. Wie würden Sie Ihre denn zusammenfassen, Herr Karl?“ 

„Ich würde sie eine beziehungsorientierte nennen, eine, die weder auf die Kinder, noch auf die Lehrer ausgerichtet ist, sondern auf die Schulgemeinschaft im umfassenden Sinn. Wir müssen alles auf dem Hintergrund seiner Zeit sehen: Um 1900, zur Zeit der Reformpädagogik, wurden Kinder mit dem Nachnamen angeredet, und es herrschte der Befehlston in den Klassenstuben, dem wirkungsvoll, jedenfalls in den Volksschulen, mit dem Rohrstock Nachdruck verliehen wurde. Vor diesem Hintergrund fiel ein Lehrer auf, der Kinder als Menschen akzeptierte, der sich in ihre Ängste und Bedürfnisse einfühlte, sie mit dem Vornamen anredete und ihnen zum Beispiel beruhigend die Hand auf die Schultern legte, wenn sie vorne an der Tafel oder beim Gedichtaufsagen blockiert waren. Für diese Einfühlsamkeit hatten die Lehrer damals Dankbarkeit geerntet, allein dafür, dass sie sich von der großen Mehrheit der anderen Lehrer und auch Eltern abhoben, die überwiegend autoritär erzogen. 

Heute erziehen die meisten „partnerschaftlich“ und „auf einer Augenhöhe“, viele auch noch antiautoritär. Da lässt sich mit immer noch mehr Einfühlung und Partnerschaftlichkeit kein Staat bzw. keine Schule mehr machen. Versuchen Sie heute mal, einen Schüler einfühlsam zu trösten. Die Mehrheit der Schüler in einer Sekundarschule wird sagen: ‚Nehmen Sie gefälligst Ihre Pfoten weg!‘ Immer noch mehr Kindorientierung führt nicht mehr weiter. In unserer Zeit ist dran, dass sich die Erziehenden, v.a. die Lehrer und Eltern, erst einmal wieder gegenseitig stärken, bevor sie ernstgenommene und ernstnehmende Partner ihrer Kinder sein können. Ich könnte auch sagen: Heute ist Struktur dran, Ordnung und Deutlichkeit und das allerdings, ganz wichtig, als Grundlage von Einfühlsamkeit und Lockerheit, die so erst richtig gewertschätzt werden können. …

In gewisser Beziehung stimmt ‚vom Kind aus‘ sogar doch noch: Kinder und auch Jugendliche sind Menschen, die neben der Einfühlung auch noch der Führung bedürfen, die ein Recht auf die freundliche Macht ihrer Erziehungsberechtigten und -Verpflichteten, also ihrer Eltern und Lehrer, haben. Eine freundliche Macht ist eine, die erstens weiß, dass Regeln auf die Dauer nur dann eingehalten werden können, wenn Ausnahmen dazu gehören und die zweitens die Kraft und den Mut hat, sie einerseits zuzulassen und andererseits zu verhindern, dass die Ausnahmen selbst zur – neuen – Regel werden.“

„Sie können ganz gut reden, Herr Karl, aber ich habe das ziemlich sichere Gefühl, dass das nichts für mich ist.“ – „Gisela, nun warte doch erst einmal ab, lass‘ das erst mal sacken“, versuchte Herr Fritsche seine Frau zu beruhigen. „Ich glaube, Herr Karl, ‚liebt‘ die Kinder ganz genauso wie du und ich. Möglicherweise ist seine ‚Liebe‘ die, die auf die heutigen Kinder besser passt…“

„Ja, schon wieder ist die Zeit um“, stellte Herr Karius fest. „Wir werden noch ein, zwei Sitzungen brauchen. Herr Karl, erzählen Sie uns doch in der nächsten Woche, wie das mit dem Spaß der höheren Ordnung (Sorte A) konkret funktionieren soll.“ Ich verständigte mich kurz mit Cornelia und schlug dann vor: „Was halten Sie davon, wenn wir uns schon in dieser Woche am Freitag um 18 Uhr bei uns treffen und das Weitere beim Bier und einem guten Essen besprechen?“ Alle waren einverstanden.   

 

2 Kommentare zu “„Wir sind doch dafür da, den Kindern das Leben schön zu machen… (Teil 7.3 von „Mein Weg ins Leben“)”

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert