Praktische Folgen führen weiter als ewiges Gerede/Gemeckere (Teil 7.2 vom „Weg ins Leben“)

Teil 2 der Diskussion meines /1/ pädagogischen Konzepts in der erweiterten Schulleitung

„Wie soll das gehen?“, fragt der Internatsleiter: „Die Eltern von Schülern, die auf dem Zeugnis in ‚Rücksicht‘ eine Fünf oder Sechs haben, müssen eine zusätzliche Erziehungsaufwandsgebühr bezahlen? Oftmals können sich ja gerade die Kinder nicht benehmen, deren Eltern wenig Geld haben.“

Ich: „Dann müssen sie sich eben erst recht zusammenreißen. Das müssen sie für ihr Leben lernen, und zwar rechtzeitig. Bei Seminaren in der Probezeit für Fahranfänger ist das zum Beispiel auch so: Wer einen Punkt bekommen hat, muss das Seminar besuchen und bezahlen. Es kostet mehrere Hundert Euro. Ich hoffe sehr, dass kein Sozialamt diese Kosten übernimmt, traue es aber Deutschland zu, das wäre dann aber die ganz und gar falsche Lebenslogik.

Menschen müssen lernen, für die Folgen ihres eigenen Verhaltens aufzukommen. Das fängt bei der Gesundheit an. Ein falsches, schädliches Leben tut erst einmal nicht weh. Leider. Ich zum Beispiel habe als junger Mensch viel zu viel Süßes gegessen. … Ich hoffe, ich erzähle jetzt nicht zu viel über mich.

Und ich verletze selbst die „Telefonzellen-Regeln“, die hier ausliegen. Ich betrachte diese Antwort noch als Fortsetzung meines Vortrags. Bitte stoppen Sie mich, wenn sie zu lang wird. Aber es ist ja vielleicht sowieso hilfreich, etwas über die persönlichen Lebenshintergründe des Mannes zu erfahren, der sich hier bei Ihnen um die Position des Schulleiters bewirbt.

Also: Ich aß zu viel Süßes, nicht als Kind in der Obhut meiner Eltern, sondern als Student, als ich volljährig war und mich damit über mein Heimweh hinwegtröstete. Als ich mich mit meiner ersten Frau, der Mutter meiner Kinder, verbunden hatte und mit ihr zu ihren Eltern nach Zwickau fuhr, erlebte ich eine Art Gemütlichkeit, die ich vorher gar nicht kannte: Ihr netter Vater, ein Arzt in leitender Funktion, brachte zum Schachspielen eine Flasche Wein aus dem Keller hoch. Es war ein süßer rumänischer Weißwein – ich habe ihn gerade gegoogelt: ein „Muscat Ottonell“, glaube ich – und von da an verlief mein sündhaft süßes Leben auf einem weiteren Gleis.

Jahrelang. Ich kaufte mir von meinem Leistungsstipendium im „Delikatladen“ österreichische Vollmilchschokolade und süßen bulgarischen Rotwein. Andere gingen in die Disko, ich blieb allein bei meiner Wirtin in meinem Zimmer zu Hause und versüßte mir meine Träume über meine zukünftigen großen Erfolge im Leben. Da hatte mich mein introvertiertes Grundwesen noch voll im Griff. Das ist 30 Jahre her. Inzwischen habe ich mich aus ihm herausgearbeitet. Jetzt wird es Zeit, die großen Träume endlich in der Realität umzusetzen, … an Ihrer Schule.

Ich hatte mir damals mein Diabetes „einverlebt“. Die falsche Lebensart, die zu ihm führte, hatte erst einmal nur angenehme Folgen. Als kleiner unwissender Mensch, der den Sinn des Ganzen nicht durchschaut, scheint es mir, dass Gott heimtückisch ist, falls es ihn geben sollte. Er hat mich so geschaffen, dass mir ein falsches Leben erst einmal nur Freude bereitet. Das dicke Ende kommt hinterher, wenn es womöglich zu spät oder nur mit großem Aufwand eine Korrektur möglich ist.

Hätte „er“ es nicht so einrichten können, dass mehr als eine halbe Tafel Schokolade zu essen, von vornherein weh tut? Das Gleiche mit dem Wein: Warum ist unser Körper so, dass wir uns immer noch pudelwohl fühlen, wenn wir längst zu viel getrunken haben? Warum kommt sein eindeutiges Stoppsignal nicht früher? Um dann umso erbarmungsloser zuzuschlagen, wenn das Maß des Guten längst überschritten ist.

Mir war dann oft genug so speiübel (und ich musste dann wirklich ’speien‘, bis längst nichts mehr kam), dass ich mir in diesen schweren Momenten, die ich glaubte, kaum überleben zu können, geschworen hatte, nie wieder Alkohol zu trinken. (Aber wie vergesslich sind wir Menschen, vor allem dann, wenn wir mit etwas beginnen, das uns Spaß machte und wieder macht? Und wie hochmütig sind wir? Wir bilden uns doch tatsächlich ein, das Spiel mit dem Gefährlichen diesmal im Griff zu haben.)

Entschuldige Gott, aber ich frage mich in meiner begrenzten Sicht auf das Ganze: Wie kann ein „Erziehungsberechtigter“ – Du als Vater aller Menschenkinder – nur so verlogen freundlich und inkonsequent sein, dass er dem falschen ‚Spiel‘ seiner Kinder in aller Seelenruhe zusieht und erst eingreift, wenn es – fast – zu spät ist, auf jeden Fall dann extrem unangenehm wird? Wäre eine sanfte „Schelle“ vorher nicht viel humaner bzw. göttlicher?

Ich kenne die Antwort überzeugter Christen: Gott erzieht sozusagen ‚antiautoritär‘. Er will seine Menschenkinder zu nichts zwingen, er will uns unsere Freiheit lassen. Wir sollen uns aus unserem eigenen freien Willen heraus selbst für das Richtige entscheiden. Vielleicht haut dieser Gedanke noch für Gottes Erziehung der Menschheit hin, was ich auch nicht glaube. Ganz und gar falsch wird er bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Sie brauchen Führung. Eltern und Lehrer können nicht warten, bis in ihnen der freie Wille gewachsen ist, das Richtige zu tun.

Dieser freie Wille entsteht nicht durch kluge Moralpredigten, sondern dadurch, dass das richtige Handeln Sitte und Brauch wird, und das müssen die Erziehenden durchsetzen, vor allem mit der konsequenten und zeitnahen Verbindung zwischen fehlerhaften Handlungen und ihren erzieherisch logischen Folgen. Gutes Handeln wird belohnt mit mehr Freiraum, selbst zu entscheiden, was ein Kind tun will, sowohl beim Spielen als auch beim Lernen. Falsches Handeln wird bestraft: Jetzt darfst du erst recht nicht machen, was du gerade unerlaubter Weise tun wolltest, sondern musst erst Pflichten gut und richtig erledigt haben, zum Beispiel ordentlich etwas abschreiben.

Was ich sagen will: Wir müssen es besser machen als Gott. Wir müssen unsere Schützlinge – und ihre Eltern – rechtzeitig stoppen, wenn sie auf dem falschen Weg sind. Und gerade dazu ist – neben dem ‚Besinnungsraum‘ und einfachen Strafarbeiten wie Abschreibübungen – auch diese Erziehungsaufwandsentschädigung da, die die Eltern zahlen müssen, deren Kinder in ‚Rücksicht‘ eine Fünf oder Sechs haben. Sie hat auch eine reinigende Funktion.

Danach sind Schule und die Schüler mit ihren Eltern wieder „quitt“. Kein Pädagoge darf dann noch beleidigt sein und vorwurfsvoll alte Verfehlungen benennen. Sie sind geahndet und damit ist es gut, wenn es zu keinen Wiederholungen der gleichen Fehler kommt.

Um konkret auf Ihren Einwand zu antworten, lieber Herr Fritsche (Internatsleiter): Ich wäre noch einverstanden damit, dass Eltern, die wenig Geld haben, zusammen mit ihren Kindern Arbeitsstunden als Geldersatz in der Schule oder im Städtchen ableisten. Wichtig ist, dass sie konkret praktisch erleben und spüren: Rücksichtslosigkeit lohnt sich nicht. Das nächste Mal beachte ich als Schüler lieber die wiederholte Ermahnung meiner Lehrer bzw. die Eltern achten in der Zeit, in der sie mit ihren Kindern zusammen sind, mehr und besser auf ihre Erziehung zum rücksichtsvollen Verhalten. Wer oder was sollte sie daran hindern, wenn nicht die Folgenlosigkeit des ‚westlichen‘ Lebens in Deutschland?“

Damit war die Zeit vorüber, und wir mussten uns vertagen. Eins haben wir noch beschlossen: Ich wurde beauftragt, für das Ende des laufenden Schuljahres eine Konzeption für den „Ersten pädagogischen Kongress – Waldberg 2010“ zu entwerfen. Dazu sollen alle Pädagogen eingeladen werden, die schon an unserer Schule arbeiten, und alle, die sich dafür interessieren, das in Zukunft zu tun. Das Gleiche gilt für die Eltern. Außerdem sollte dieser Kongress gegen die Entrichtung einer Gebühr für alle offen sein, die von unserem Schulprojekt gehört und Interesse daran hatten.

Ich halte ein Hauptreferat und andere Pädagogen referieren über Teilfragen wie

  • Der Sport als Mittel der Gemeinschaftsbildung zwischen Lehrern, Schülern und Eltern
  • Was kann unser Internat von den Thomanern lernen?
  • Welche Schulfirmen können wie zur Gemeinschaftsbildung und zur Charaktererziehung beitragen? (Erläutert am Beispiel des Schulcafes und des „Waldberger Boten“, einer Zeitung, die wöchentlich erscheint und nicht nur über das Schulleben, sondern das Leben des Ortes berichtet)
  • Das Waldberger Schüler-Theater, eine Bühne von Waldbergern für Waldberger
  • Das Biographie-Projekt: Schüler 10., 11. und 12. Klassen befragen die Bewohner der Waldberger Senioren- bzw. Pflegeheime zu ihrem Leben: „Können Sie Ihren Frieden machen und was fehlt, ihn machen zu können? Was davon lässt sich jetzt vielleicht noch nachholen, auch unter Vermittlung und mit Hilfe der Schüler?“ Sollten zum Beispiel Beziehungen zu den Kindern abgerissen sein, ist es vielleicht hilfreich, dass ein neutraler Dritter, und zwar ein junger, der von Haus aus nicht belehrend auftritt, sie wieder neu zu knüpfen versucht. Die Schüler fertigen für jeden Bewohner, der daran Interesse hat und bereit ist, für die Kosten aufzukommen, ein persönliches Buch oder einen persönlichen Film an, das/der an seine Nachkommen weitergegeben werden kann, wenn gewünscht, auch wieder mit ihrer Hilfe.

Am Ende wird er Kongressband mit den gehaltenen (Diskussions)Beiträgen veröffentlicht, der von allen käuflich erworben werden kann, die Interesse daran haben.

 

Fußnoten

/1/ Ich war versucht zu schreiben, „unser“ pädagogisches Konzept. Aber wenn ich ehrlich bin, ist es vorläufig erst einmal nur meins. Ich hoffe, es wird ein „unsriges“. Ich hatte auch Berthold gebeten, etwas dazu beizutragen. Aber wir hatten (schon) damals eine Krise in unserer Freundschaft: Er hüllte sich in Schweigen.

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