1991: „Wessis gucken“

Bei manchen Erinnerungen fällt es mir leichter, von mir in der 3. Person zu schreiben, vielleicht, weil ich eine gewisse Distanz für angebracht halte. So auch bei der folgenden Geschichte:

1991 beschlossen Meta und ihr älterer Sohn Arne, eine zweiwöchige Fahrradtour in den Westen zu unternehmen. Klein-Berti, den Nachkömmling, konnte man schon mal für ein paar Tage in die Obhut der Verwandtschaft geben; wochentags war er ja sowieso in der Kiko (Kinderkombination, heute Kita), zufälligerweise sogar in derselben wie seine Cousine Lisa, und musste nur zusammen mit ihr dort hin gebracht und abgeholt werden; am Wochenende teilten sich Metas Geschwister die Betreuung. Der Ausflug wurde „Wessis gucken“ genannt; keine Ahnung, ob Meta oder Arne den Begriff aufgebracht hatten. Die Tour sollte quer durch die Lüneburger Heide gehn, ein Stück Holland mitnehmen und dann bis hoch an die Nord- und Ostseeküste führen. Meta hatte sich Anfang des Jahres in „Radlers Übernachtungsverzeichnis“ eintragen lassen, eine vom „Allgemeinen Deutschen Fahrradclub“ (ADFC) ins Leben gerufene Einrichtung, die auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhte: Man gab durchreisenden Radlern, die ihrerseits im Übernachtungsverzeichnis standen, ein kostenloses Quartier und konnte selbst ein Angebot aus dem Verzeichnis in Anspruch nehmen. Auch die Holländer hatten ein solches Adressbuch für Radler, „Het Groene Boekje“ genannt, das man sich als eingetragener Quartiergeber zuschicken lassen konnte. Bestimmt war in den ersten Jahren die Zahl der Übernachtungen von Ostdeutschen im Westen viel größer als umgekehrt, ja viele ostdeutsche Radler werden sich überhaupt nur registrieren lassen haben, um Hotelkosten zu sparen, und werden davon ausgegangen sein, dass sich die Neugier der westdeutschen Radler auf den Osten in Grenzen hielt und die Wahrscheinlichkeit gering war, als Quartiergeber ausgerechnet wegen einer, sagen wir mal, engen Neubauwohnung am Rande von Guben nachgefragt zu werden. Meta kann für sich in Anspruch nehmen, nicht als einseitige Nutznießerin des Arrangements dazustehn, sondern mehrfach als Gastgeberin in Aktion getreten zu sein. Es mag an dem Namen ihrer Stadt gelegen haben, vielleicht auch an ihrem Doktortitel, dass sich hin und wieder ein westdeutscher Radler ihre Adresse herauspickte. Brandenburg, die Stadt, die dem Bundesland und dem berühmtesten Tor von Berlin seinen Namen gab, weckte gelegentlich Interesse; auch von der Regattastrecke am Beetzsee hatte mancher Sportschau-Konsument schon gehört.
Natürlich spielte bei der unorthodoxen Übernachtungsidee auch für Meta der Gedanke eine Rolle, dass die Reise auf diese Weise sehr kostengünstig war. Die Währungsunion war kaum ein Jahr alt, man war ans Westgeld-Ausgeben noch nicht gewöhnt und Metas schmaler Geldbeutel – sie schrieb damals gerade an ihrer Habilarbeit und bekam nur ein Stipendium – tat sein Übriges. Aber mindestens genauso stark war ihr Motiv, sich anderen Lebensweisen auf die höchstpersönliche Tour zu nähern.
Die Erlebnisse von Meta und Arne mit den Quartiergebern waren denn auch wie ein Crashkurs in bundesdeutscher bzw. holländischer Mentalität, aber in der Regel durchaus angenehm. Als Übernachtungsplätze wurden Bodenkammern, ausgebaute Kellerräume, Wohnwagen, Gästezimmer und momentan freie WG-Betten angeboten, meist auch ein Abendbrot und ein Frühstück. Die Leute waren Sozialarbeiter, Lehrer, Handwerker mit Familienbetrieb, agile Rentner, frühpensionierte Beamte, Hausfrauen oder Studenten; auch ein Kommissar und ein Tierarzt waren dabei; allesamt leidenschaftliche, kontaktfreudige Pedalritter. Ausgesprochene Krösusse gehörten nicht dazu, die Schlafplatz-Anbieter kamen eher aus der links-grün-alternativen Ecke – bis auf eine Familie, und die macht Meta in der Erinnerung noch immer zu schaffen.
Meta und Arne waren mittlerweile bis Lübeck gekommen und die angesteuerte Adresse gehörte dem regionalen Vorsitzenden des ADFC, gleichzeitig Kreisvorsitzenden der CDU – mit diesen Informationen empfing der Mann seine Gäste. Es folgte die Frage, ob sie Lust auf einen Spaziergang durch die Lübecker Innenstadt hätten. Hatten sie natürlich, und diese persönliche Stadtführung, die auch ortskundige Schleichwege und Geheimtipps enthielt und mit regionalgeschichtlichen Erläuterungen gespickt war, die ihr Gastgeber offenbar nicht zum ersten Mal vortrug, ließ wirklich keine Wünsche offen. Der Mann summte die ganze Zeit gut gelaunt vor sich hin, überwiegend klassische Melodien, sein Repertoire war reichhaltig und zeugte von einer hohen Musikalität. „Darf ich fragen, ob Sie beruflich mit Musik zu tun haben?“, erkundigte sich Meta. „Leider nein“, erwiderte der Mann, „ich bin Abteilungsleiter bei Villeroy und Boch, ich habe mit schöner Sanitärkeramik zu tun. Aber meine beiden Söhne studieren hier in Lübeck an der Musikhochschule, der eine Klarinette, der andere Gesang.“ Meta freute sich auf interessante Gespräche zum Abendbrot, das ihnen gleich bei der Ankunft in Aussicht gestellt worden war. Der Tisch bog sich dann auch unter den leckeren Speisen (das Wort „lecker“ übrigens begegnete ihr erst seit kurzem, bei den Holländern klang es harmlos und putzig, bei den Westdeutschen klang es ein bisschen eklig, als käme da eine verquere, verdruckste Sinnlichkeit zur Sprache). Die Hausfrau betrat die Szene, begrüßte aufgeräumt ihre Gäste und waltete mit bedeutungsvoller Miene ihres Amtes. „Na, sind Sie nicht froh, endlich im Westen zu sein?“, eröffnete sie das Gespräch. Die Frage lasse sich mit einem einfachen Ja nicht beantworten, gab Meta zurück. „Wieso nicht?“, reagierte die Frau überrascht und eine Spur aggressiv. Meta formulierte vorsichtig, dass man so kurz nach der Wende noch keine belastbaren Aussagen über Gewinne und Verluste treffen könne, aber es zeichne sich doch ab, dass Ostdeutschland auf eine wirtschaftliche Talfahrt sondergleichen zusteuere; wer weiß, wann die zu Ende war und wie viele Menschen nach unten gerissen würden. „Dafür haben Sie jetzt die Freiheit und alles andere wird sich ziemlich schnell finden“, sagte der Hausherr mit Nachdruck. Meta reagierte ausweichend: Ach, Freiheit, das sei ein so großes, schillerndes Wort, und so vielfältig interpretierbar. „Für mich ist die Sache ganz einfach“, meinte der Hausherr, „Freiheit ist, wenn einen niemand daran hindert, seines eigenen Glückes Schmied zu sein.“ – „Nur dass manche schon in eine Familie von Goldschmieden hineingeboren werden und für andere nur der Schrott bleibt“, gab Meta zurück und bedauerte im selben Moment ihren Ton. Sie konnte hier nicht Gastfreundschaft genießen und zum Dank dafür ihre Gastgeber aufbringen. Sie wechselte das Thema, was zunächst ganz leicht war, denn der Sänger-Sohn hatte sich gerade zu ihnen an den Tisch gesetzt (der Klarinettist steckte nur kurz den Kopf durch die Tür). Meta wollte Einzelheiten über das Gesangsstudium wissen. Der junge Mann hatte doch tatsächlich das Ziel, Countertenor zu werden. „Da kennen Sie ja vielleicht den besten DDR-Counter Jochen Kowalski“, fragte Meta. „Sie werden lachen, der ist mein Lehrer, der hat schon seit Jahren in Lübeck einen Lehrauftrag“, sagte der Sohn, sichtlich davon angetan, ein gemeinsames Thema gefunden zu haben, das ihm obendrein am Herzen lag. Meta schob weitere Fragen nach: Wie der Kowalski denn als Lehrer so sei? Wie er das organisatorisch hinkriege als festes Ensemblemitglied der Ostberliner „Komischen Oper“ und gleichzeitig Lehrer in Lübeck? Welche Sonderkonditionen der Kowalski zu Mauerzeiten gehabt habe? „Ach, diese verdammte Mauer!“, seufzte die Hausfrau und sorgte damit für einen abrupten Themenwechsel. „Wir haben ja einen Onkel in Ostberlin. Und der sagt: ’Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie man sich mit dieser Mauer gefühlt hat. Wie im KZ, wirklich, wie im KZ!“ – „Ihr Onkel war im KZ?“, fragte Meta scheinheilig. „Das nicht, aber er fühlte sich wie im KZ“, entgegnete die Frau. „Woher kann er denn wissen, wie man sich im KZ gefühlt hat?“, setzte Meta noch eins drauf. Arne forderte seine Mutter mit Blicken auf „Lass es!“ und streute betont harmlos die Information ein, auf der Volksmusikschule Schlagzeug zu lernen, aber nicht mit beruflichen Absichten, sondern nur so für den Eigenbedarf. „Ich freu mich schon drauf, wenn mein kleiner Bruder zum ersten Mal die Trommel traktiert“, fügte er hinzu. Arnes Auskünfte wurden zumindest von der Hausfrau nicht als so harmlos aufgenommen, wie sie gemeint waren. Das zeigten ihre Nachfragen: Wer denn den kleinen Bruder jetzt betreue, oder ob er nicht bei ihnen aufwachse? Ob sie sich denn sicher sei, dass der Kleine in der Krippe optimal gefördert werde? Wie Meta als Berufstätige Arnes tägliche Übungsstunde am Instrument überwachen könne? Welche Instrumente, außer Schlagzeug, diese Volksmusikschule denn anbiete? Wie die Qualität der Abschlüsse so einer Volksmusikschule einzuschätzen sei? Meta war drauf und dran, das Bildungs- und Erziehungssystem der vergangenen DDR in hohen Tönen zu loben und ihre Vorstellung von einem selbstbestimmten Leben mit zwei Kindern, die ihr nichts schuldig waren, in suggestiven Farben auszumalen, aber dann tat ihr die Frau mit ihrer unfrohen Stichelei doch leid genug, um für den Rest des Abends einen freundlich-unverbindlichen Ton anzuschlagen.
Am nächsten Morgen stand ein opulentes Frühstück auf dem Tisch. Der Hausherr war schon zur Arbeit, die Söhne blieben unsichtbar; vielleicht schliefen sie noch. Kaum dass die Tafel aufgehoben war, trug die Frau des Hauses mehrere Fotoalben und ein Gästebuch herbei. Die Fotoalben zeigten wechselnde Radlergruppen, angeführt von den Gastgebern, aber das Ausflugsziel war offenbar immer dasselbe: die DDR-Grenzanlagen unweit von Lübeck, die tief in den Ostseesand hinein gerammt worden waren. Mittlerweile waren die Fotos aus den ersten Alben als historische Dokumente zu betrachten, denn von den Grenzanlagen war nicht mehr viel übrig. Die Alben waren offenbar auf Initiative der Frau entstanden, zumindest hatte sie in Schönschrift mit weißem Stift auf dunkelgrauem Grund die Kommentare unter die Fotos geschrieben. „Eine hässliche Mauer verschandelt den schönen Strand!“ „Achtung, es wird scharf geschossen.“ „Ein kleines Wunder, dieses Guckloch im Beton! Wir gehen näher heran – und was sehen wir durch die Öffnung? Eine zweite Mauer!“ „Strandhafer vor Stacheldraht.“ „Was mag wohl im Kopf dieses Grenzsoldaten vorgehn?“ In diesem Stil ging es Seite um Seite weiter. Meta rang sich ein paar lahme Kommentare ab: „Schon verrückt, einen Strand so mittendrin zu teilen.“ „Diese Betonmassen hätte man wirklich sinnvoller verbauen können.“ „Wenn sich die Wachtürme wenigstens als Ausguck für die Rettungsschwimmer nachnutzen ließen.“ Aber sie wollte und konnte weder mit einem schlechten Gewissen dienen noch mit einem euphorischen Gefühl der Befreiung. Andere ostdeutsche Quartiernehmer hatten, wie ein Blick in das Gästebuch zeigte, der Hausfrau diesen Gefallen getan. Metas erster Impuls war, ein Bibelzitat in das Gästebuch zu schreiben: „Aber was siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, doch den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?“. Schön wäre auch gewesen, sie hätte ein paar Fotos von den Bettlern hinzufügen können, die an Lübecks Straßenecken hockten, die ersten Bettler übrigens, die sie in ihrem Leben mit eigenen Augen gesehen hatte – aber natürlich hatte sie keine Fotos gemacht. Dann quälte sie sich doch einen schriftlichen Dank für die wunderbare Bewirtung ab und fügte hinzu, dass man sich ja vielleicht in zehn Jahren noch einmal treffen könne, diesmal bei ihr im Märkischen, um zu sehen, was die Einheit den beiden Seiten Deutschlands gebracht hatte. Das Brandenburger Stahl- und Walzwerk jedenfalls würde dann nicht mehr in Betrieb sein, da sei sie sich sicher, in Westdeutschland würde schließlich genug Stahl produziert. So schrieb sie, oder so ähnlich.
Als Meta, tatsächlich 10 Jahre später, in Lübeck zu einem Gewerkschaftskongress war, hatte sie den spontanen Impuls, der Familie einen Besuch abzustatten. Aber sie wusste den Namen nicht mehr und fand auch das Haus nicht wieder; sie wollte es vielleicht auch gar nicht finden. Weitere 8 Jahre später kamen Meta ihre Gastgeber erneut in den Sinn, als die Schließung des Lübecker Villeroy und Boch-Werkes durch die Medien ging. Und manchmal, wenn sie einen deutschen Countertenor hört, denkt sie: Ob das vielleicht der damalige Lübecker Student ist?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert