Wie ich dem Demokratieverständnis Ungarns einen Bärendienst erwies

Verschiedene Ereignisse sind die Ursache, dass mir in diesen Tagen eine Erinnerung an meine erste Dienstreise nach Ungarn mit immer mehr vergessen geglaubten Einzelheiten in den Kopf kommt. Das Ungarn von Damals ist mit dem Ungarn von Heute kaum noch zu vergleichen, wie die aktuellen Ereignisse rund um die Präsidentschaftswahl wieder einmal belegen. Im Forum Demokratie von „Aufstehen“ läuft gerade, sozusagen als Begleitmusik, ein spannender Diskurs über die Vorzüge und Risiken basisdemokratischer Entscheidungswege, der mich an die Diskussionen im damaligen Ungarn erinnern.

Mit meiner zweiten Arbeitsstelle wechselte ich vor gut 40 Jahren in den Bereich der Erwachsenenbildung für Deutsch als Fremdsprache. Damit gehörte ich theoretisch zum Kreis der Lehrkräfte, die auf einen Einsatz in den beliebten Sommerferien-Kursen für ausländische Deutschlehrer aus dem Ostblock hoffen durften. Die Chancen, tatsächlich eingesetzt zu werden, waren allerdings gering, denn für die Nominierung geeigneter Dozenten konnte die zuständige Abteilung des Volksbildungsministeriums der DDR aus dem Vollen schöpfen. In Frage kamen praktisch alle Lehrkräfte mit halbwegs germanistischem Profil aus allen pädagogischen Hochschulen und Instituten der Republik.
Aus Kostengründen, die vor allem mit der Frage zusammenhingen, wie viele Personen reisen und untergebracht werden mussten, fanden die meisten Kurse in den Heimatländern der Kursteilnehmer statt und aus ideologischen Gründen wurden die für einen Einsatz vorgesehenen Dozenten besonders sorgfältig ausgewählt. Schließlich konnte nur der Besitzer eines Klassenstandpunktes, der über jeden Zweifel erhaben war, den Versuchungen widerstehen, die von einigen sozialistischen Bruderländern ausgingen. Deren Brüderlichkeit war durch zu häufiges Schielen in Richtung Westen brüchig geworden. Um jeder falschen Verbrüderung vorzubeugen, wurden die meist vier- bis sechsköpfigen Delegationen nach kaum durchschaubaren Kriterien zusammengewürfelt, in der Regel kannten sich die Kollegen vorher nicht persönlich. Die Entscheidung, ob man überhaupt und wenn ja, mit wem und wann und in welches Land geschickt wurde, hätte auch von einem Zufallsgenerator stammen können.
Ich fiel aus allen Wolken, als ich schon im zweiten Jahr nach dem Wechsel meiner Arbeitsstelle einer Delegation zugeteilt wurde, die in eines meiner Wunschländer fahren durfte: nach Ungarn. (Später erfuhr ich, dass meine Nominierung das Ergebnis eines mehrstufigen Verschiebemanövers war, um für die Ungarn-Delegation eine Schwangerschaftsvertretung mit fachdidaktischem Profil zur Verfügung zu haben.)

Meine Vorfreude wurde durch keine Vorahnung getrübt, aber dann kam es ganz dicke. Ausgerechnet am Abflugtag entgleiste zwischen Groß Kreuz und Werder ein Güterzug, der schwer mit Gefahrgut beladen war. Die Unfallstelle musste weiträumig und komplett abgeriegelt werden. Wir Fahrgäste des folgenden, überfüllten Zuges Richtung Flughafen Berlin Schönefeld, der zum Glück kurz vor Groß Kreuz zum Stehen gebracht werden konnte, mussten uns auf eine stundenlange Wartezeit in einem bewachten Areal einrichten. Ich war nicht die Einzige, die ihren Flug verpassen würde und nun nach einer Möglichkeit suchte, wenigstens jemanden darüber informieren zu können. Zu meinem Glück arbeitete ein entfernter Verwandter bei der Bahn und bewohnte eines der Häuschen auf dem Groß Kreuzer Bahnhofsgelände. Ich war allerdings nicht die einzige, die „Onkel Jupp“ kannte und auch nicht die erste mit der Idee, ihn um ein Telefonat zu bitten. Gerade noch rechtzeitig kam eine Verbindung zum Service-Bereich des Flughafens zustande. Ich ließ meinen Delegationsleiter ausrufen und schilderte ihm kurz die Lage. Ich würde auf jeden Fall mit dem nächsten verfügbaren Flugzeug nachkommen, versprach ich. Er möge mir nur meine Unterlagen bitte an dem zuständigen Info-Schalter hinterlegen.
Tatsächlich war es Stunden später gar nicht so schwer, den Flug umzubuchen, denn die Flughafenmitarbeiter hatten sich inzwischen auf Hunderte solcher Umbuchungswünsche eingestellt. Was mir mehr Kopfzerbrechen bereitete, war die Tatsache, dass Dr. Hadel, der Delegationsleiter, nur meinen Dienstpass und das Flugticket dagelassen hatte, nicht aber weitere Hinweise und auch kein Geld. Zwar galt für alle Sommerkurse, dass die Kosten für Übernachtung, Verpflegung und weiteren Service von den beteiligten Institutionen übernommen wurden, aber das nützte mir jetzt gar nichts. Auch das bescheidene Tagegeld, das den Delegationsmitgliedern vor Ort in der Landeswährung ausgezahlt wurde, war noch nicht geflossen. Blieb der Sicherheitsbetrag, den der Delegationsleiter mit sich führte, um in Notfällen wie dem meinen darauf zurückgreifen zu können. Aber auf die Idee war er wohl nicht gekommen. Und die zusätzliche Mitnahme von privatem Geld war nur in engen Grenzen gestattet. Entsprechend bescheiden fiel nach Besuch der Wechselstube mein Vorrat an Ungarischen Forint aus.
Dass die Dienstpässe erst am Abflugtag ausgehändigt und finanzielle Eskapaden unterbunden wurden, hatte ebenso Methode wie der Informationsvorsprung des Delegationsleiters und die Herausforderung, blitzschnell mit Anforderungen zurecht zu kommen, auf die man nicht gefasst war. Das kurze Vorbereitungstreffen im Frühjahr mit den Mitgliedern meiner Delegation reichte kaum für ein flüchtiges Beschnuppern, mein erster Eindruck von Dr. Hadel schien sich aber heute zu bestätigen: Er war ein Meister aller grammatischen Kategorien, jedoch ein Dilettant in praktischer Lebensbewältigung. Sei’s drum, ich würde mich schon nach – wie hieß die Stadt doch gleich? Ach ja, Miskolc! – durchschlagen. Hadel hatte zum Glück die wichtigste Information, nämlich den Ort des Geschehens, nicht für sich behalten und alles andere würde sich finden. In Budapest gelandet, wurde mir freundlich Auskunft erteilt, wie ich dieses Miskolc am einfachsten erreichen konnte. Na prima, es gab eine Direktverbindung per Bahn, die im Zwei-Stunden-Takt bedient wurde. Zum Abendessen würde ich hoffentlich schon in Miskolc sein. Dass ich allerdings in der drittgrößten (heute viertgrößten) Stadt Ungarns an einem Freitag kurz vorm Zapfenstreich mal eben auf meine Delegation treffen würde, war mehr als unwahrscheinlich. Mir war zwar inzwischen noch eingefallen, dass der Kurs wohl in den über die Sommerferien leerstehenden Räumen eines Miskolcer Gymnasiums stattfinden sollte, aber danach zu suchen, musste dem kommenden Tag vorbehalten bleiben.

Ich nahm mir also ein preiswertes Hotelzimmer in Bahnhofsnähe und sah mich nach einem Angestellten mit dem Habitus professioneller Hilfsbereitschaft um. Mein Blick fiel auf das Namensschild eines Kellners: Felix – na, wenn das nicht ein Glückstreffer war! Das war es tatsächlich, denn Felix entpuppte sich als eine Saisonkraft aus Österreich vom Typ alte Schule. Er sei erfreut, sich kurz vor Schichtende „sprachlich noch einmal in vertrauten Gefilden herumtreiben zu dürfen“, formulierte er stilvoll und interpretierte mein Nicken als Aufforderung, sich zu mir zu setzen. Er registrierte meinen gewollt beiläufigen Blick ins fast leere Portmonee und empfahl mir ein Gericht mit den Worten: „Sie wissen doch, das Beste steht meist gar nicht auf der Speisekarte.“ Als er von meinem Plan für den nächsten Tag hörte, alle Hotels und Gymnasien der Stadt auf der Suche nach meiner Delegation abzuklappern, machte er mir spontan den Vorschlag: „Wissen Sie was? Ich habe morgen nur den kurzen Vormittagsdienst. Wenn Sie einverstanden sind und bis dahin Ihre Leute noch nicht gefunden haben, nehmen wir am Nachmittag mein Auto und suchen weiter. Meine Ortskenntnis ist zwar nicht über jeden Zweifel erhaben, aber doch…“ Ich war um so dankbarer für sein Angebot, als ich tags darauf nach dem ersten Erkundungsgang ahnte, wie riesig die Fläche der Stadt war, wie großzügig ihre Erbauer die zahlreichen Alleen und Prachtbauten angelegt hatten. Miskolc zählte damals um die 200.000 Einwohner, und da waren die eingemeindeten Orte Lillafüred und Tapolca noch gar nicht mitgerechnet, die der Stadt den Titel Kurbad und ein Hotel neben dem anderen eingebracht hatten.
Ich fragte in mindestens 20 Innenstadt-Hotels nach meiner Delegation und erweiterte die Suche dann auf Quartiere, die ich per Straßenbahn oder Bus erreichte. Gern nahm ich die von mehreren Hotels angebotene Hilfe in Anspruch, telefonisch Auskunft bei kleineren Pensionen oder Herbergen einzuholen, aber bis zum Mittag konnte nicht mal von einem Spürchen die Rede sein. Mein hilfreicher Kellner beruhigte mich: „Warten wir erst mal ab, was beim Besuch der Gymnasien herauskommt.“ Er steckte mir ein kleines Imbisspaket zu, das er aus der Hotelküche abgezweigt hatte. „Ich kann jetzt nichts essen“, wies ich die milde Gabe zurück, machte mich dann aber doch darüber her.
Haben Sie schon einmal versucht, an einem Sonnabendvormittag in den Sommerferien Einlass in ein Gymnasium zu bekommen? Dann wissen Sie, wie vergeblich das Klingeln und Klopfen an den verschlossenen Eingangstüren ist. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hält höchstens ein mürrischer Hausmeister die Stellung und knurrt, dass bis zum Soundsovielten hier überhaupt nichts läuft. An zwei Gymnasien war dann zwar doch richtig was los, aber es handelte sich nicht um den üblichen Pausenlärm, sondern um den von Handwerkern verursachten Lärm, die in einem leerstehenden Gebäude keine besondere Rücksichtnahme für nötig hielten. Zwei Informationen über Gymnasien, die geöffnet sein könnten, waren vielleicht wichtig: Auf dem Schulhof des Herman-Gymnasiums sollte am morgigen Sonntag ein Flohmarkt stattfinden und in einem Gymnasium, dessen Name mir entfallen ist, mussten die schuleigenen Kaninchen täglich gefüttert werden.
Kurzum, bis zum späten Abend hatten wir noch immer keinen einzigen Hinweis auf den Verbleib meiner Delegation und so langsam begann ich daran zu zweifeln, in der richtigen Stadt zu sein. Ich überlegte, die Botschaft zu kontaktieren, die Polizei um Hilfe zu bitten, beim Ministerium für Volksbildung anzurufen – aber am Sonntag? „Vor Montag beginnt der Kurs sowieso nicht“, beruhigte mich noch immer Kellner Felix und gab mir Geld, um mein Hotelzimmer für eine weitere Nacht bezahlen zu können. Sein Dienst würde bis Sonntagabend gehen, aber vorher würde er für mich etwas Essbares auftreiben. „Und wenn sich dann noch immer nichts getan hat, lade ich Sie wenigstens in ein richtig schickes Restaurant ein“, fügte er hinzu.
Leider tat sich tatsächlich nichts. Sowohl mein Gang zum Flohmarkt als auch zu den gymnasialen Kaninchenfütterern brachte keine neuen Erkenntnisse. Dann fiel mir ein, dass Miskolc ja auch eine Universität hatte, aber der kleine Hoffnungsschimmer trübte sich gleich wieder ein, als ich sah, wie schläfrig der Campus vor sich hin döste. Niemand wusste auch nur irgend etwas von einem Sommerkurs der Deutschlehrer.

Am Abend holte mich Felix zum Essen ab und ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich meine Situation für immer auswegloser hielt. Mein Gepäck luden wir in den Kofferraum seines Autos; wer weiß, wo es heute mit mir übernachten würde. Felix verkündete, nach Tapolca fahren zu wollen, dem weltberühmten Vor- und Kurort von Miskolc, dessen Attraktion ein teils unterirdisches Thermalbad mit labyrinthischen Grotten und Höhlen war. Es dämmerte schon, als wir die Parkanlagen von Tapolca erreichten. Felix zeigte auf unser gastronomisches Ziel, einen hell erleuchteten Pavillon, umgeben von würdigen alten Bäumen und kleinen Inseln aus exotischem Buschwerk. Ein Gebüsch fiel mir besonders ins Auge, weil seine Silhouette im Zwielicht die Form einer kleinen Menschengruppe hatte. Moment mal! Das war eine kleine Menschengruppe, und zwar nicht irgendeine, sondern meine Delegation! Ich hatte die Kollegen zwar bisher nur ein einziges Mal getroffen, aber dieses bizarre lebende Bild dort im Dämmerlicht war ein unverwechselbares Unikat. Das lange, hagere Mannsbild in der Mitte musste Dr. Hadel sein, dem man ansah, dass sein Sinn für Behaglichkeit unter der ihm aufgenötigten Rolle eines Leithammels auf Zeit litt. Das mollige, sehr weibliche Wesen zu seiner Linken war ohne Zweifel die kleine Sprecherzieherin aus Zwickau. Die Frau rechts neben ihm mit dem ausladenden Hut und den ebenso ausladenden Hüften war Angelika, die exzentrische Cottbuser Literaturwissenschaftlerin. Der drahtige Kerl, der auf Angelika einzureden schien, musste dann also der Dozent für Landes- und Kulturkunde aus Halle sein. Und das etwas abseits stehende, grobknochige Geschöpf, das auf den allgemein als Fehlgriff empfundenen Namen Carmen hörte, kam aus dem Fachbereich Lexikologie und Stilistik der PH Güstrow. Fehlte nur noch eine Fachdidaktikerin für Deutsch als Fremdsprache. Nein, die fehlte nicht, denn das war ja ich.
Felix zuckte erschrocken zusammen, als ich mit lautem Rufen auf mich aufmerksam machte: „Hallo! Seid ihr das?“
Sie waren es und sie fielen aus allen Wolken. Außer Angelika hatte niemand mehr mit meinem Kommen gerechnet. „Der trau ich alles zu“, soll sie gesagt und für eine flexible Kursplanung gesorgt haben, die, falls ich doch noch kam, schnell angepasst werden konnte. Wie sich nun herausstellte, wäre mein Suchen nach den Kollegen auf jeden Fall vergeblich gewesen, denn die waren auch erst vor zwei Stunden in Miskolc eingetroffen. Die ungarische Betreuerin der Delegation, Martha, hatte sie beim Empfang auf dem Budapester Flughafen mit der Mitteilung überrascht, ihnen das bevorstehende Wochenende mit einem touristischen Streifzug durch die Hauptstadt versüßen zu wollen. Und für Miskolc habe sie sich auch was Besonderes ausgedacht; sie würden nämlich in dem berühmten Vorort Tapolca wohnen (wo allerdings nur die deutschen Kollegen untergebracht waren; für die Kursteilnehmer mit Übernachtungsbedarf hatte sie Plätze in einem Jugendgästehaus reserviert). Wie sich herausstellte, war unser Hotel keine 200 Meter von der Stelle entfernt, an der ich auf meine Delegation getroffen war. Die wollte nach einem kleinen Parkspaziergang gerade zurück ins Quartier, denn in 20 Minuten erwartete man sie dort zum Abendessen. Am besten, ich käme gleich mit. Noch sei mein Zimmer nicht storniert worden.
Beinahe hätte ich Felix vergessen, der sich im Hintergrund hielt. Er winkte verlegen ab, als ich ihn als meinen Retter vorstellte. „Wir schulden Ihnen einen großen Dank“, sagte Dr. Hadel steif. „Vor allem schulden wir ihm Geld“, ergänzte ich. Hadel schluckte, als er die Summe hörte, die natürlich mit zweieinhalb normalen Tagessätzen nicht zu begleichen war. Dann ging alles sehr schnell. Felix brachte mir mein Gepäck und bekam sein Geld. Wir machten unter den misstrauischen Augen von Hadel aus, wann wir unseren geplanten Restaurantbesuch nachholen wollten. (Der Termin platzte dann aber, weil der Kurs erst spätabends von einem Ausflug aus Eger zurückkam. Zwei weitere Verabredungsversuche scheiterten an den ohne Vorwarnung veränderten Dienstplänen in Felix´Arbeitsstelle. Ich habe ihn nie wieder gesehen.)

Am nächsten Morgen, nach einem opulenten Frühstück, fragte Angelika an der Rezeption nach der Buslinie zum Herman-Gymnasium. „Ich weiß, wie man da hinkommt“, unterbrach ich die umständliche Wegbeschreibung der Rezeptionistin, „ich habe dort gestern einen Flohmarkt besucht.“ Das Gymnasium empfing seine Gäste mit Czardasklängen. Ein Streichquartett in Zigeunertracht sorgte in der Aula für Stimmung, während die Kursteilnehmer langsam eintrudelten. Martha empfing mich mit den Worten: „Wunderbar, du bist doch noch gekommen. Schade nur, dass wir wohl auf deinen Beitrag zur feierlichen Kurseröffnung verzichten müssen. Wir haben volles Verständnis, wenn du auf einen unvorbereiteten Auftritt lieber verzichtest.“ Erst jetzt erfuhr ich von der verabredeten Inszenierung einer besonderen Kennenlern-Runde. Die deutschen Gäste waren gebeten worden, den Teilnehmern möglichst anschaulich nahezubringen, was sie an ihrer Heimatstadt oder ihrer Hochschule oder an ihrer Region besonders schätzten. Meine Kollegen hatten sich dazu in den vergangenen zwei Tagen einiges überlegen können, z.B. hatten sie in Budapest den DDR-Pavillon und das Infozentrum des Goethe-Instituts besucht und sich mit geeignetem Material eingedeckt. das sie allein schon wegen der drohenden Übergepäck-Gebühren nicht einfach von Zuhause hätten mitschleppen können.
Ich fand es feige, jetzt zu kneifen, und verkündete, mir werde schon etwas einfallen. Während Martha ihre kleine Begrüßungsrede hielt und einige organisatorische Ansagen machte, überdachte ich meine Möglichkeiten. Sollte ich meine Heimatstadt vorstellen? Lieber nicht, Brandenburg hatte doch nichts zu bieten – jedenfalls damals noch nicht. Mit einem berüchtigten Gefängnis, einer Nervenheilanstalt, vielen Kasernen und der Dreckschleuder Stahl- und Walzwerk konnte man nun mal nicht punkten. Zwar gab es neuerdings auch das Institut, an dem ich arbeitete, aber das war noch damit beschäftigt, seine Daseinsberechtigung unter Beweis zu stellen, und für einen kritischen Problemaufriss eignete sich diese heitere Auftaktveranstaltung nicht. Außerdem fehlte mir jegliches Anschauungsmaterial. Blieb nur noch das dritte Thema Besonderheiten der Region, das man ja sehr weit fassen konnte….
In der kurzen Pause nach Marthas Auftritt nahm sie uns Dozenten beiseite und landete ihren eigentlichen Coup: „So, und nun werde ich euch mal zeigen, was wir Ungarn unter Demokratie verstehen. Ich spreche nicht vom sogenannten demokratischen Zentralismus, wo am Ende doch immer nur ein paar selbstherrliche Bonzen darüber entscheiden, was gut für das Volk ist. Ich spreche auch nicht von der repräsentativen Demokratie, deren Repräsentanten gern vergessen, was sie nach dem Willen ihrer Wähler repräsentieren sollen.“ Martha hatte sich auf diese Sätze offenbar gut vorbereitet. „Wir Ungarn wollen eine echte Basisdemokratie“, fuhr sie fort, „denn wir halten die Menschen für erwachsen genug, auf hierarchische Strukturen verzichten zu können und als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft für den Sieg der Vernunft zu sorgen.“ Sie hatte 6 Listen für 6 Übungsgruppen vorbereitet, die sie nun mit unseren Namen versah. Jeder von uns sollte eine Übungsgruppe leiten und jeder Kursteilnehmer hatte freie Hand, sich in die Liste seiner Wahl einzuschreiben. Unsere Vorträge würden als Entscheidungshilfe fungieren.
Die Kollegen waren nicht gerade begeistert, verkniffen sich aber skeptische Kommentare. Ich bemühte mich, den Gedanken an meinen Wettbewerbsnachteil auszublenden.

Erwartungsgemäß hatten sich meine Mitstreiter mächtig ins Zeug gelegt und auch ihre verborgenen Talente aus der Reserve gelockt. Die Vorträge des humorscheuen Dr. Hadel und der menschenscheuen Carmen hatten zwar keinen hohen Unterhaltungswert, überzeugten aber durch hohe Fachkompetenz. Die Sprecherzieherin aus Zwickau zeigte, dass sie auch singen konnte, und rührte uns mit dem Heimatlied vom „Vugelbeerbam“ zu Tränen. Angelika gab sich als Tochter eines stadtbekannten Krämerladen-Besitzers zu erkennen und verglich die Spielstätte ihrer Kindheit mit Strittmatters „Laden“, von dem gerade erst einige Leseproben veröffentlicht waren. Der quirlige Kollege aus Halle verteilte „Halloren-Kugeln“ aus dem VEB Süßwarenkombinat seiner Heimatstadt, gekauft in Budapest, und wusste Erhellendes über den Namen der Süßigkeit zu berichten.
Jetzt hieß es aber mächtig auf die Tube drücken. Ich hatte gerade mal geschafft, mir in Gedanken die ersten Sätze zurecht zu legen. Ich begann: „Meine Heimatregion, die Mark Brandenburg mit Berlin, ist für ihre unkonventionellen Verkehrswege bekannt. Für den Ausbau des Straßen- und Schienennetzes war stets die Frage ausschlaggebend: Wer muss wann warum wohin? Der Berliner Außenring zum Beispiel wurde errichtet, um den Bürgern den Weg durch die unangenehmeren Viertel der Hauptstadt zu ersparen und sie möglichst sicher zum Flughafen Schönefeld zu bringen. Leider ist die beliebte Strecke nach Schönefeld inzwischen dem Andrang kaum noch gewachsen, was unangenehme Folgen für die Reisenden haben kann. Davon handelt meine Geschichte, oder besser: Mein Erlebnisbericht über die letzten drei Tage.“ Und dann erzählte ich das, was Sie gerade in diesem Artikel gelesen haben. Das heißt, ich spielte es eher vor, skizzierte an der Tafel die Unfallstelle, ließ die Spannung vor dem unerwarteten Wiedersehen mit meiner Delegation steigen – na, was man eben so anstellt, um die Aufmerksamkeit seiner Hörer zu fesseln.
Jetzt konnte ich mir sicher sein, dass meine Liste nicht leer bleiben würde. Dass sich allerdings zwei Drittel der Kursteilnehmer bei mir einschreiben wollten, hatte ich dann doch nicht erwartet. Beim Blick in Marthas entgeistertes Gesicht konnte ich eine gewisse Schadenfreude nicht unterdrücken. Die funkelte auch in den Augen meiner Kollegen.
Martha ging mit undurchdringlicher Miene zur Schadensbegrenzung über. Sie appellierte an die Vernunft der Teilnehmer, doch bitte mit Blick auf das Große und Ganze über eine gleichmäßige und gerechte Verteilung der Interessenten auf 6 Listen nachzudenken. Ich schlug vor, wenn nötig eine Art Kriterienraster für die Gruppenbildung zu entwickeln. Zum Beispiel könnte man ja die Kursteilnehmer nach Alter, Berufserfahrung, Sprachkompetenz und Wünschen für thematische Schwerpunkte gruppieren. „Oder ganz anders“, ergänzte Angelika, „wilde Mischungen, wenn sie gekonnt zusammengestellt sind, haben schließlich auch ihren Reiz.“ Hadel gab den Väterlichen: „Schaun Sie doch mal in den Kursplan. Mehr als die Hälfte unserer Angebote sind Vorlesungen, Seminare oder Klubveranstaltungen, zu denen sich der ganze oder halbe Kurs zusammenfindet und die jeder Dozent in etwa gleicher Zahl anbietet.“
Die Füllstände der Listen bewegten sich nur langsam auf einen Mittelwert zu, mit dem man zufrieden sein konnte. „Na bitte, wird doch“, resümierte der Kollege aus Halle. Und Carmen, die dem kleinen Intermezzo scheinbar keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hatte, überraschte alle mit der Bemerkung: „Eine geschickte Nachsteuerung und gar nicht mal undemokratisch.“ Mir lag schon ein ‚Apropos Demokratie…‘ auf der Zunge, aber eine innere Stimme raunte mir ‚Billiger Triumph!‘ zu, also schluckte ich die Bemerkung herunter.

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