Wenn man von mir verlangen würde, den aktuellen Zustand der menschlichen Gesellschaft in drei Sätzen zusammenzufassen, dann würde ich schreiben:
1. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. 2. Der Weltfrieden ist akut gefährdet. 3. Die Mächtigen riskieren um ihres Machterhalts willen die Unbewohnbarkeit unseres Planeten.
Das sind doch Allgemeinplätze, würden Sie wahrscheinlich sagen. Mich reißen sie trotzdem jedesmal, wenn ich darüber nachdenke, erneut vom Hocker, denn zwischen den Zeilen übermitteln sie einen niederschmetternden Befund: Eine riesige Mehrheit – gern mit „die normalen Bürger“, „die kleinen Leute“, „das Volk“ umschrieben – ist nicht in der Lage, die maßlose Gier einer winzigen Minderheit zu stoppen; statt dessen hüllt sie sich in Fatalismus und murmelt: So lange es noch ein Fünkchen Hoffnung gibt… Hoffnung worauf? Vom großen Kuchen auch in Zukunft ein paar Krümel abzubekommen? Vielleicht sogar ein paar mehr Krümel als heute? Einer ihrer Nachbarn ist schließlich auch in die nächsthöhere Krümelklasse aufgestiegen; allerdings sind dafür zwei andere abgestiegen. Kann man die überhaupt alle in einen Topf werfen? Müsste man sie nicht angesichts der Unterschiede in puncto finanzielle Situation, Rolle, Chancen und Prestige in der Gesellschaft unterschiedlichen Gruppen zuordnen, zumal sich die Bürger selbst dieser Unterschiede meist überdeutlich bewusst sind.
Nicht umsonst haben viele Sprachen für diesen speziellen Aspekt des menschlichen Bewusstseins einen eigenen Begriff geprägt. Man spricht von „Standes-“ oder „Statusbewusstsein“ (frz. „Conscience de sa position“, engl. „Status awareness“), in vielen Sprachen komplettiert, unterschiedlich geschrieben, der Begriff der „Professionalität“ die Zusammensetzung oder Wortgruppe . Auch Wörter wie „Korpsgeist“(engl. „Esprit de corps“, russ.“Дух Корпуса“) bzw. „Kastengeist“ (engl. „Box spirit“) oder „Corporate Identity“ gehören in diese Reihe. Eine kritische Wertung des Phänomens transportieren Begriffe wie „Standesdünkel“ (frz. „Condition sociale“, russ. „Высокомерие“ = Hochmut) oder (in vielen Sprachen) „Arroganz“. Gemeinsam ist allen Bezeichnungen die Vorstellung von einer relativ abgeschlossenen Gruppe, die sich durch ihre spezifische Stellung und Funktion in der Gesellschaft und eine entsprechende Lebenshaltung von anderen Gruppen unterscheidet.
Bei Marx und Engel werden solche Gruppen Klassen genannt, z.T. weiter in Schichten untergliedert und aus ökonomischer, sozialer und psychologischer Perspektive beleuchtet. Als maßgebliche Kriterien, um die Unterschiede zwischen den Klassen (und Schichten) bestimmen zu können, nennen Marx und Engels: den Besitz oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln im Rahmen einer bestimmten Produktionsweise plus die sich daraus ergebende soziale Lage, verbunden mit einem entsprechenden Selbst- und Rollenverständnis, genannt Klassenbewusstsein. Dieses Herangehen traf und trifft nicht gerade auf ungeteilte Zustimmung; von den einen wird es als einseitig, überholt oder ideologisch kontaminiert empfunden, andere sehen in solcher Klassifizierung ein zwar gut funktionierendes, aber nicht sehr differenziertes Ordnungsprinzip, wieder andere – meist sind sie dem „linken Lager“ zuzurechnen – überzeugt die klare Begrifflichkeit, mit der der sozialökonomische Status von Menschen/ Menschengruppen erstmals nach objektiven Kriterien bestimmt werden könne.
Aber ist der Klassenbegriff für heutige gesellschaftliche Verhältnisse – zumal in den hochentwickelten Industriestaaten – wirklich noch praktikabel und wie viele Vertreter der jeweiligen Klasse denken und handeln tatsächlich so, wie sie es ihrem Status entsprechend tun „müssten“? Oder ganz konkret und auf die zahlenmäßig größte Klasse bezogen gefragt: Ist der Leidensdruck der Arbeiterklasse, die laut Marx „nichts zu verlieren hat als ihre Ketten“, groß genug, um einen gemeinsamen Willen zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse hervorzubringen? Darauf hoffen insbesondere viele linksorientierte Bürger, die durchaus nicht alle der Arbeiterklasse zuzurechnen sind.
Aber wer gehört heutzutage überhaupt noch zur Arbeiterklasse, zum Proletariat? Bis Mitte des vorigen Jahrhunderts war mehr oder weniger unstrittig, dass als harter Kern der Klasse der Proletarier die körperlich schwer schuftenden Industriearbeiter anzusehen sind. Doch von denen werden immer weniger gebraucht, der technologische Fortschritt, aktuell in Gestalt der Digitalisierung, macht sie zunehmend überflüssig. Kommt uns etwa die Arbeiterklasse abhanden? Offenbar nicht, nur die klassische Maloche nimmt ab. An ihre Stelle treten Tätigkeiten, vorzugsweise im Dienstleistungsbereich, die körperlich weniger anstrengend sind, dafür aber in vielen Fällen höhere Ansprüche an das Bildungsniveau stellen, sprich: höhere Schulabschlüsse bzw. regelmäßige Weiterbildung verlangen. Das ist doch gut, höre ich Menschen meiner Generation sagen, schließlich schützt Qualifizierung vor Deklassierung und lebenslanges Lernen erhöht die Chancen eines erfolgreichen Verlaufs der beruflichen Karriere. Unsere Kinder und Enkel sind da wesentlich skeptischer. Viele haben schon früh die Erfahrung gemacht, dass ihr Bildungserfolg weniger von ihrem Fleiß und ihren Fähigkeiten abhängt als vom sozialen Status ihrer Eltern. Als Motivationsbremse wirkt obendrein die lauter werdende Kritik an einem Bildungssystem, das seine Zukunftstauglichkeit längst verloren hat. Das Abitur erfährt eine schleichende Abwertung, indem es zum Zugangsticket für die Berufsausbildung in immer mehr Branchen erklärt wird. Fatalerweise hat das auch die Abwertung von Berufen zur Folge, die eine „Intelligenz der Hände“ voraussetzen und fördern. Damit nicht genug, erlebt die junge Generation gerade, dass inzwischen auch Qualifizierte und Hochqualifizierte in bestimmten Tätigkeitsfeldern genötigt sind, prekäre Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, wie sie bei Leiharbeit, Minijobs, Zwangs-Teilzeit, unbezahlten Praktika, Werkverträgen und studentischen Hilfskraftjobs üblich sind. (Als prekär wird ein Arbeitsplatz bezeichnet, „wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und anerkannt wird“, so Prof. Klaus Dörre, Uni Jena). Die Soziologen haben für diese Beschäftigtengruppe den Begriff „Prekariat“ geprägt.
Ist das Prekariat eine moderne Variante des Proletariats? Teilweise ja, aber nicht nur die traditionelle Arbeiterklasse ist von Prekarisierung betroffen, sondern auch die Bauernschaft, die Intelligenz, das Handwerk und weitere Schichten. Was die Intelligenz betrifft, vor allem im Bereich der Hochschulen und Forschungseinrichtungen, so sind, jedenfalls in Deutschland, prekäre Beschäftigungsverhältnisse fast schon zur Regel geworden und Festanstellungen zur Ausnahme. Was alle eint, prekäre wie regulär Beschäftigte, ist ihre Abhängigkeit von einem „Arbeitgeber“, der eigentlich „Arbeitnehmer“ heißen müsste. Sie alle bilden zusammen die große Gruppe – oder Klasse? – der Lohnabhängigen, die man sicher mehreren Schichten zuordnen könnte. (Dieser neuerdings wieder öfter gebrauchte Begriff hat seinen Ursprung in linken Theorien, ohne direkt auf einen bestimmten Autor zurückgeführt werden zu können.) Ich selbst rechne mich zur großen Klasse dieser Lohnabhängigen, wenn auch der einigermaßen gut bezahlten und hochqualifizierten. Mein Klassenbewusstsein ergibt sich aus der Einsicht, im Ernstfall mit dem Leiharbeiter und der festangestellten, aber unterbezahlten Näherin, mit dem schamlos ausgenutzten Praktikanten und der Studentin, die als Hilfskraft eine komplette Bibliothekarinnen-Stelle überflüssig macht, in einem Boot zu sitzen.
Und Sie? Zu welcher Klasse würden Sie sich zählen? Und leisten Sie sich ein entsprechendes Klassenbewusstsein?
Wenn ich die populäre Vordenkerin der Linken, Sahra Wagenknecht, richtig verstanden habe, traut sie nur Vertretern aus dem Kernbereich der traditionellen Arbeiterschaft einen waschechten Klassenstandpunkt zu, vorzugsweise, wenn dieser über Generationen vererbt wurde. Ich dagegen bin bestenfalls eine Salonlinke, die sich als „selbstgerechte“ Attitüde ein linkes Klassenbewusstsein leistet, an dem ich jederzeit die Lust verlieren kann. Wenn sie sich da mal nicht irrt.
Liebe Meta, schön, dass du wieder „auf dem Damm“ zu sein scheinst, zumindest auf dem geistigen. Dein Beitrag hat mein eigenes Denken angeregt (ich werde jetzt nicht hinterherkommen, alles aufzuschreiben, aber Folgendes zumindest):
Die 3 Punkte, mit denen du eingangs den Zustand der Welt beschreibst, treiben auch mich um. Nicht wegen mir, sondern wegen meiner Enkel. Ich staune, wie viel die gegenwärtige Bevölkerung in Deutschland hinnimmt, obwohl der „Tanz auf der Rasierklinge“ schon ganz schön rasant ist (obwohlobwohl es in Deutschland natürlich schon viel schlimmere Zeiten gab, vor allem in den großen Kriegen, die nicht nur drohten, bevorstanden, sondern tatsächlich stattfanden.)
Da gibt es zum Beispiel Kämpfe mit scharfen Waffen um ein Atomkraftwerk in der Ukraine, viel größer als Tschernobil, ohne dass die Weltgemeinschaft und ihre moralische Vorhut in Deutschland auf die Durchsetzung einer waffenfreien Zone rund um das Kraftwerk drängt. Wenn ich mir überlege, welcher Aufriss in Deutschland um die Gefährlichkeit der Atomkraft schon unter geregelten Bedingungen in Friedenszeiten gemacht wird, kann ich das nicht verstehen. Hier müssten internationale Beobachter unter UN-Mandat hin, die wirklich beurteilen können, von welcher Seite aus der Beschuss auf das Atomkraftwerk erfolgt.
Als 4. würde ich hinzufügen: Die Verführung, ohne die geringste eigene Leistungserbringung (abgesehen von der Mühe, den Bürgergeldantrag auszufüllen bzw. sich einen Verein zu besorgen, der das tut), auf einem verhältnismäßig guten Grundniveau zu leben (von dem aus sich gut schwarz dazuverdienen lässt), wird in Deutschland immer größer.
Das ist einerseits gut für die, die das Bürgergeld bekommen und tatsächlich gegen ihren Willen ohne Arbeit sind. Ich glaube aber 1. nicht, dass die Mehrheit derer, die das Bürgergeld auf Kosten der Allgemeinheit beziehen, ihr Geld nicht mit ihrer eigenen Hände Arbeit verdienen könnte, wenn sie es wirklich wollten. Ich komme mir vor wie gegen Ende der DDR: Überall lese ich Aushänge, auf denen Arbeitskräfte gesucht werden und trotzdem nimmt die Zahl der Arbeitslosen ständig zu.
2. Nehme ich denen, die lieber das Bürgergeld beziehen, ob Ureinwohner oder Eingewanderte, als zu arbeiten, das nicht übel. Ein Mensch müsste sehr dumm oder sozusagen nicht von Menschenart sein, wenn er die Angebote, die ihm eine Gesellschaft macht, auch die unmoralischen, nicht annimmt. Wenn einer Geldscheine auf die Straße legt, sollte er sich nicht wundern, wenn sie eingesammelt und nicht beim Fundbüro abgegeben werden.
Unsere Eliten haben das einfache Lebensgesetz „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ (B. Brecht) vergessen; es sind wahrscheinlich doch Christen durch und durch, und es ist zugleich ein sicheres Zeichen für Dekadenz, für das gelangweilte Übersättigtsein einer ganzen Gesellschaft. Auf die Dauer geht das natürlich nicht gut (aber ich staune, wie lange), und alles regelt sich ein auf der Grundlage eines anderen Lebensgesetzes: Es ist beim besten Willen nicht möglich, dass immer weniger, die arbeiten, immer mehr versorgen, die das nicht tun (wollen) und damit durchkommen.
Bei deinem 3. Punkt „Machterhalt“ würde ich hinzufügen, er gilt auch in dem Sinne, dass es um das pure Rechtbehalten geht (siehe „deutsche Sturheit).
Bei deiner Behauptung, der Bildungserfolg hinge heute mehr denn je vom sozialen Status der Eltern ab und immer weniger von der eigenen Leistungsbereitschaft der Kinder, komme ich nicht mit. Jeder, der die nötigen Leistungen erreicht, kann kostenlos eine Schule besuchen, die zum Abitur führt. Er braucht nur im Unterricht aufzupassen. Die Lehrer sind heute bei einer allgemeinen Verlotterung der Sitten so dankbar für jeden Schüler, der sich benehmen kann, dass sie ihm helfen werden, wenn er es tut. Aufpassen im Unterricht und gutes Benehmen – das reicht heute vollständig für Erfolg in der Schule, da müssen die Eltern nicht Akademiker sein, die ihren Kindern zu Hause helfen.
Vielleicht ist noch das Lebensvertrauen hilfreich, seine Kinder zu Nachbarn zu schicken, die, alt und allein, gern auch fachlich in Mathematik, Deutsch oder Englisch helfen. („Lasst uns einen Aufsatzpakt schließen) Und wer nach dem geschafften Abitur studiert, hat Anspruch auf BAFÖG. Was willst du denn noch, liebe Meta, damit das Gejammere über die angebliche Benachteiligung der bildungsfernen Schichten aufhört? Dadurch wird faulen Schülern, durch fortgesetzten Konsum antriebslos und überdrüssig geworden, nur das Argument geliefert, dass alle anderen an ihrem Misserfolg schuld sind, nur sie selber nicht. Dann müssen sie sich auch nicht ändern (entwickeln), sondern können charakterlich genauso unreif bleiben, wie sie es sind.
PS: Ich glaube, du missverstehst Sahra Wagenknecht gründlich. So wie ich sie verstehe, geht es ihr darum, die kostbare Energie für den Kampf um Gerechtigkeit nicht fehlzuleiten auf die Luxusprobleme gelangweilter Zeitgeistgewinnler, die zum Beispiel für das Recht kämpfen wollen, jederzeit neu das eigene Geschlecht zu ändern. Ich finde das absurd und abseitig – im direkten Sinne des Wortes.
Ein echtes und viel größeres Problem ist, dass Menschen nicht mehr von ihrer Arbeit leben können und dabei ist es völlig egal, ob sie lohnabhängig sind oder kleine Selbständige, die sich selbst oft noch mehr ausbeuten, als das irgendein Arbeitgeber könnte.
Genauso abseitig sind die Kämpfe gegen die „kulturelle Aneignung“. Ein Hauptsinn des ganzen Lebens besteht in kultureller Aneignung, dass ich etwas verinnerliche, mir kulturell „einverleiben“ kann, das mir vorher fremd war. Nur dadurch entwickle ich mich als Persönlichkeit.
Nicht gegen solche Scheinprobleme gilt es, Kämpfe zu führen, sondern gegen den Wahnsinn, dass es in dieser Gesellschaft normal ist, dass Einzelne das Hundertfache von dem verdienen, was Facharbeiter erhalten, und dass es in Deutschland eine Zwei-Klassen-Medizin gibt.
Da hat Sahra Wagenknecht vollkommen recht, und wenn sich die Linke nicht auf sie besinnt, ist sie perdü. Wenn ich mich da mal nicht irre, liebe Meta? Ich glaube nicht.