Lasst uns einen Aufsatz-Pakt schließen

Eltern und Lehrer, Ihr könnt Euch das Leben gegenseitig erleichtern und für Eure Kinder im Schulalter ab ca. der 5. Klasse bzw. Eure Schüler die Chancen, im Leben Erfolg zu haben, deutlich erhöhen, und zwar durch eine einfache pädagogische „Breitband“-Maßnahme, die allen nutzt. Ich stelle sie mir als Ritual vor, denn Rituale entlasten. Wenn etwas Sitte und Brauch ist, erzieht das durch seinen alltäglichen Vollzug von allein viel mehr, als an jedem Tag immer wieder neu Motivationsgespräche zu führen, wie hilfreich es wäre, etwas für die Schule zu tun.

Wie soll dieses Aufsatz-Ritual aussehen: An Unterrichtstagen, die nicht besonders lang sind und an denen im Hausaufgabenheft weit und breit keine Hausaufgabe steht, schreiben die Schüler von der 5. bis zur 10. Klasse einen Kurzaufsatz in ein großes Schreibheft (DIN A 4), je nach Leistungsvermögen und Alter angefangen von einer halben Seite bis zu einer ganzen, wobei der Text gut und gern durch Zeichnungen ergänzt werden kann, durchaus auch unbeholfene: Das Bemühen zählt.

Die Kleinen ab der 3. Klasse oder ältere, ganz Rechtschreibschwache, können eventuell ein kleines Schreibheft (DIN A 5) benutzen und etwas ihrer Wahl dort hinein abschreiben, entweder aus einem Lieblingsbuch oder aus Schulbüchern. Die Eltern vereinbaren mit ihnen ein Ziel, wie viele Fehler sie höchstens haben dürfen, wenn sie Pluspunkte für eine vereinbarte Belohnung ansparen wollen. Die Älteren dürfen und sollen dabei ausdrücklich den Duden benutzen und nicht das Smartphone! Alle Fehler sollen hinterher berichtigt werden. Bei gutem Bemühen und trotzdem vielen Fehlern reicht es vielleicht auch aus, dass die Schüler eine bestimmte Anzahl Fehler, vielleicht 10, die sie selbst heraussuchen, berichtigen.

Wissen Sie, liebe Leser, was da kurioser Weise passieren wird? Schüler werden sich am Ende der Stunde melden und ihrem Lehrer sagen: „Bitte vergessen Sie die Hausaufgaben nicht, ich möchte nicht wieder diesen blöden Aufsatz schreiben!“ So kommen erziehungsverantwortliche Erwachsene in die Offensive, sie sind nicht mehr der pädagogische Hase, der dem gewitzten Schülerigel erfolglos hinterherhetzt, sondern jetzt sind sie es, die mal sagen können: „Ich bin schon da!“

Bleiben die Schüler unter der vereinbarten Fehlergrenze und gelingt ihnen das vielleicht drei, fünf oder zehn Mal hintereinander, werden sie mit etwas belohnt, das sie vorher mit den Eltern gemeinsam vereinbart haben, sei es ein Kino- oder Schwimmbadbesuch, ein gemeinsamer Spieleabend, vielleicht sogar mit dem Computer, oder auch der Kauf eines begehrten „Teils“ oder Kleidungsstücks.

Entscheidend dabei ist Folgendes: der Duden. Die Schüler sollen sich darin üben, das Eigene mit der Norm zu vergleichen, ein ganz wichtiger Vorgang im Leben. Es befähigt Menschen, sich auf die Welt um sie herum auszurichten und nicht bei sich selbst „hängen zu bleiben“. Jedes Gespräch mit einem Lebenspartner, wie es uns in unserer Beziehung geht, wie weit unsere aktuellen Gefühle abgedriftet sind von dem, was wir erwartet und erhofft hatten, ist so ein Abgleich der innerseelischen Maßstäbe, ob nun aufgeschrieben oder nicht, mit der Realität.

Im letzten Fall geht es mehr darum, die Wirklichkeit dem Inneren anzupassen. Für Kinder und Jugendliche ist der umgedrehte Weg primär. Immer wieder müssen Menschen ihn gehen, wenn sie lern- und lebensfähig sein wollen, sei es beim Autofahren durch den Blick auf den Tachometer (wie schnell bin ich, entspreche ich noch halbwegs der Norm?), sei es beim Wiegen (wie weit habe ich mich von meinem Normalgewicht entfernt?), beim Blutdruckmessen oder bei den Blutwerten, die im Labor erhoben werden. Ich persönlich bin weit davon entfernt, solche Richtwerte allzu ernst zu nehmen und eher einer, der zu wenig misst, aber im Großen und Ganzen sollten wir schon wissen, wie es in Bezug auf die Erwartungen, die das Leben an uns stellt, um uns steht.

Also der Duden. Ich höre es schon rufen: Glauben Sie denn im Ernst, wir haben so viel Zeit, uns in der Woche ein-, zweimal damit abzuplagen, unseren Kindern den Gebrauch des Dudens beizubringen? Wozu ist denn die Schule da und außerdem gibt es doch heute Rechtschreibkontrollprogramme in jedem Smartphone! Je alltäglicher eine Fähigkeit ist, so wie das Gehen, Schwimmen oder Fahrradfahren, desto weniger reicht es, sie nur in einzelnen Unterrichtsstunden zu üben; sie muss in der Breite des Lebens von den verschiedensten Bezugspersonen der Kinder in unterschiedlichen Lebenssituationen immer wieder geübt werden, nur dann geht sie in Fleisch und Blut über.

Und die Eltern müssen den Anfang damit machen, die nötige „Anschubfinanzierung“ vorgeben. Wer sich als Eltern diese Mühe nicht macht, ist, Entschuldigung, dumm, denn dieser Einsatz rentiert sich schnell, insbesondere wenn die Eltern das aufgreifen, womit andere, vor allem die Lehrer schon begonnen haben: Das wird zu einem Selbstläufer sprachlicher und damit geistiger Aktivität.

Ganz wichtig dafür, ob Kinder Erfolg im Leben haben, ist, ob ihnen ihre Eltern und Lehrer eine Konsumhaltung – macht was, wenn ihr wollt, dass wir gut sind! – abgewöhnen können und sie lehren: Ich muss selbst etwas tun, selbst die Initiative ergreifen, wenn ich weiter kommen will. Habe ich das mit dem Duden einmal geschnallt, dann muss ich keinen mehr nerven mit der Frage: Wie wird das geschrieben, ich kann dann selbst nachschauen, und ich lerne Gründlichkeit und Ausdauer so ganz nebenbei. Denn ganz so einfach ist es nicht, nach dem Alphabet Wörter zu suchen und zu finden.

Es braucht Übung, vor allem, wenn es nicht nur um den Anfangsbuchstaben geht, sondern dann weiter auch um den zweiten und dritten. Und wenn ich das Wort immer noch nicht finde, weil ich mit meiner Vermutung, mit welchen Anfangsbuchstaben es geschrieben werden könnte, ganz daneben liege, kann ich immer noch fragen und wenn alles nichts nützt, googeln es meine Eltern gemeinsam mit mir. (Nebenbei: Ich habe diesen Text in einer Pension geschrieben. Ich hatte keine Internet-Verbindung; alles war da, nur ein Duden fehlte. Ich war mir nämlich nicht sicher, ob es „der Tachometer“ oder „das Tachometer“ heißt. Also folgender Vorschlag an die deutschen Gastronomen: Legt in Euren Zimmern nicht nur die Bibel aus, sondern auch den Duden.)

Aber was ist, wenn nicht einmal die Eltern einen Duden besitzen oder selbst nicht mit ihm umgehen können und auch keinen internetfähigen Computer haben, um ein Wort zu googeln? Da schwillt es wieder an, und zwar mächtig, das Klagen, wie benachteiligt Kinder aus den bildungsfernen Schichten bei uns seien. Wer, frage ich mich, hindert solche Eltern – oder auch bildungsnahe, die aber unter Zeitmangel leiden – daran, ihre Kinder zu vertrauenswürdigen Nachbarn zu schicken, von denen sich die meisten bestimmt freuen würden, wenn ein Kind oder Jugendlicher sie freundlich fragte: Können Sie mir vielleicht mit dem Duden helfen? Wie viele Menschen leben in unserer Zeit vereinsamt nebeneinander her? Wie glücklich wären sie, gefragt und gebraucht zu werden von netten Kindern, die sich benehmen können?

Und ein gutes Benehmen kann auch eine Analphabetin, aus welchem Grund auch immer sie es wurde bzw. blieb, ihrem Nachwuchs beibringen, wenn sie es selbst nur wollte, wenn sie nicht beleidigt ist vom Leben, und deswegen, meistens unbewusst, ihre Kinder entmutigt, sich anzustrengen, weil das ja sowieso alles nichts bringen würde, was sie ja an ihr sehen könnten: denn sei sie etwa dumm? Nein! Und trotzdem hat ihr die Schule die Chance vorenthalten, einen guten Abschluss zu erreichen. Wirklich die Schule? Ihre Kinder könnten weiterkommen, wenn sie konsequent darauf achtete, dass sie sich an solchen Projekten wie diesem Aufsatzschreiben beteiligen.

Wir brauchen keine neuen Maßnahmen vom Jugendamt oder Schulamt, um die Lese-Rechtschreibschwäche zu bekämpfen, die viel Steuergeld kosten. Wir brauchen einfach ein gesellschaftliches Einvernehmen in Erziehungsfragen. Fangen wir an mit einem solchen Aufsatzpakt. Es bleibt ein Problem: Menschen, wahrscheinlich alle (höheren) Lebewesen, wollen Energie sparen und unnötige Anstrengungen vermeiden. Diese Strategien lernen sich schnell und Kinder sind gewitzt. Und so werden sie ihren Eltern zusetzen: Ich weiß aber nicht, worüber ich schreiben soll. Einfach über das, was dir im Kopf herumgeht, können diese antworten, fang z.B. so an: „Ich sitze hier und weiß nicht, wie ich die halbe Seite voll kriegen soll…“, lausche einfach auf deine Gedanken und schreib sie auf, zum Beispiel: „Meine Mutter nervt, ich darf nicht eher an die Spielkonsole, bis ich das erledigt habe. Sie zählt sogar die Wörter nach, damit ich nicht mit zu viel Abstand zwischen ihnen Zeilen schinde. Und dann auch noch das Nachschlagen im Duden und die Berichtigung des falsch Geschriebenen.“

Das ist schon fast eine halbe Seite oder schreib darüber, wie es dir heute ergangen ist, in der Schule oder zu Hause: Hast du etwas Neues gelernt? Worüber hast du dich gefreut, worüber geärgert, was ist dir gelungen, was misslungen, wem warst du heute dankbar und auf wen bist du wütend? Du kannst, wie gesagt, auch etwas zeichnen. Schreibe dann aber wenigstens eine Bilderklärung darunter. Nimm‘ die letzten Wochen, wenn dir für heute nichts einfällt. Damit übst du zugleich, Gefühle auszudrücken, ein wichtiger Beitrag zur Psychohygiene in unserer Familie. Dann musst du auf die Frage „Wie war dein Tag (oder die Woche)?“ beim Abendbrot oder beim Sonntagsfrühstück nicht immer nur mit „schön“ antworten. („Was ist Psychohygiene?“ – eine gute Frage und Gelegenheit, über Wichtiges mit möglichst einfachen Worten zu reden. Ein differenzierter Ausdruck fällt nicht vom Himmel, er muss im Alltag geübt werden.)

Und auch für die Ordnung und Gewissenhaftigkeit trifft das zu. Deswegen sagen die Eltern beim Aufsatzschreiben: Vergiss nicht das Datum rechts oben und die Überschrift. Du kannst die Zeile oben frei lassen und sie hinschreiben, nachdem du weißt, worum es hauptsächlich in deinem Text geht. Und vergiss nicht, sie dann auch noch mit dem Lineal zu unterstreichen. Bleib‘ auf den Zeilen und beachte den Rand! Verschreiben passiert, nicht schlimm, aber streiche das falsche Wort mit dem Lineal durch. Fällt dir erst später ein Fehler auf, versehe die durchgestrichenen Worte mit einer Nummer in einem Kreis und schreibe die Verbesserung unten hinter die betreffende Zahl. Das Wenigste, was im menschlichen Charakter wertvoll ist, steckt in geheimnisvollen Genen. Nein! Es muss regelmäßig und langfristig eingeübt werden. Das lohnt sich, weil es wieder die Voraussetzung für andere gute und hohe Leistungen ist.

Du kannst deinen Kindern später das Heft zeigen, sie werden staunen, was ihr Papa/ihre Mama damals so gedacht und geschrieben hat.

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