Deutschland und die Welt (2)

Vergleiche hinken, sagt man. Ich benutze trotzdem einen: Das Bedürfnis, Teil einer übergeordneten Struktur zu sein, ähnelt dem Bedürfnis eines Schafes, das sich in der Herde sicher, geborgen und stark fühlt.

Es muss viel passieren, um sich so einer Struktur, sei es die Familie, die Sippe, der Stamm, die Nation, zu entfremden. Noch Friedrich Schiller dichtete: „Ans Vaterland, ans teure, schließ‘ dich an. Das halte fest mit deinem ganzen Herzen. Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft.“ Bei Heinrich Heine machen sich schon Symptome der Entfremdung bemerkbar, wenn er in der „Harzreise“ schreibt, in seinem Studienort Göttingen habe „jeder deutsche Stamm“ zur Zeit der Völkerwanderung „ein ungebundenes Exemplar seiner Mitglieder zurückgelassen und davon stammten alle die Vandalen, Friesen, Schwaben, Teutonen, Sachsen, Thüringer u.s.w.“ ab. Die wohl schwerste Entfremdungswelle der Deutschen hat nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt. Es war der zweite Krieg dieses Ausmaßes, den Deutschland vom Zaun gebrochen hat, wobei die Großmächte auf den Schlachtfeldern ihre eigenen Süppchen kochten – da gebe ich Karl bis zu einem gewissen Grade recht. Aber Karl, deine Behauptung, Hitler konnte nur wegen des ungerechten „Diktatfriedens von Versaille“ an die Macht kommen, grenzt dann doch an Geschichtsklitterung. Von einem Raufbold auf dem Schulhof wird man hinterher auch nicht sagen können, er musste sich prügeln, weil er sich ungerecht behandelt fühlte, und überhaupt habe er nur deshalb angefangen, weil falsche Freunde ihn ermuntert hätten.

Was kann man tun, wenn das Gefühl der Geborgenheit in seiner Herkunftsfamilie, das Wir-Gefühl, auf Dauer erschüttert ist? Man kann das Schlimme verdrängen und auf die Kraft des Vergessens und Verklärens setzen, man kann sich in einer Art Hassliebe weiterhin leidvoll verbunden fühlen, man kann sich ab jetzt nur noch auf sich selbst verlassen wollen und sein Ich-Bewusstsein zum Maßstab aller Entscheidungen machen, man kann sich eine neue Familie suchen und mit der alten nichts mehr zu tun haben wollen, man kann sich in die Hände der nächsthöheren Struktureinheit begeben und hoffen, dass die es gut mit einem meint. Mein Weg ist die Hassliebe, verbunden mit einem starken Ich-Gefühl, das aber der Pervertierung zu grenzenlosem Egoismus einigermaßen trotzen konnte. Die Deutschen haben in ihrer Mehrheit den Weg der Akzeptanz einer höheren irdischen Instanz eingeschlagen, ob nun aus Überzeugung, Pragmatismus oder gezwungenermaßen – sie haben sich jedenfalls den Siegermächten unterworfen und sind damit lange einigermaßen bis sehr gut zurecht gekommen. Wobei die Westdeutschen scheinbar die potentere Großmacht erwischt hatten als die Ostdeutschen, was allerdings auch zu einem weitgehenden Verzicht auf Abgrenzung von und kritische Distanz zu ihrem Vormund geführt hat. Gegenwärtig zeigt sich die große Abhängigkeit der Deutschen von den Amis – ich verwende hier mal bewusst die jargoneske Attitüde des Alle-in-einen-Topf-Werfens, die ja wieder salonfähig zu werden scheint. Mein Opa sprach noch vom Franzmann, Iwan, Pollacken, Japs und natürlich Ami, während er selbst zu den Krauts gehörte. Da war noch kein Femininum in Sicht und die Diskussion über die Aufteilung der Welt wurde den Jungs und ihren Planspielen in den militärischen Sandkästen dieser Welt überlassen.

Dass ihnen jetzt ein Flintenweib wie Frau Baerbock nacheifert, ihres Zeichens deutsche Außenministerin, wäre schreiend komisch, wenn es nicht so brandgefährlich wäre. Obendrein stammt die übereifrige Annalena aus Ostdeutschland und sollte eigentlich einen untrüglichen Instinkt für jegliche Art von Fremdbestimmung haben. Statt dessen tritt sie mit dem Wortschatz eines Vorschulkindes vor ihre Wähler und ergeht sich in unterkomplexen Botschaften. Eine Nation, die sich das gefallen lässt, hat nichts anderes verdient als den absteigenden Ast.

Dabei sind Otto und Ottilie Normalverbraucher keineswegs so leichtgläubig, wie sich das unsere Regierenden offenbar vorstellen. „Die verarschen uns doch alle!“ und „Denen ist das Schicksal ihrer Wähler doch scheißegal“ gehört zu den Sätzen, die man derzeit besonders häufig hört.

Beispiel Ukrainekrieg: Man muss nicht einmal politisch besonders interessiert sein, um auf die Ungereimtheiten aufmerksam zu werden, die ich hier, zugegebenermaßen aus einer recht russlandfreundlichen Perspektive, nennen will: Begannen die USA nicht kurz nach der Jahrtausendwende mit der Kündigung fast aller internationalen Abrüstungsverträge? Rückte nicht gleichzeitig die NATO immer näher an Russland heran und gibt es nicht bereits seit einem Vierteljahrhundert die NATO-Ukraine-Charta, die inzwischen zu einer de-facto-Mitgliedschaft der Ukraine geführt hat? Warum finden seit etwa zwei Jahren zahllose NATO-Manöver gerade in Osteuropa und der Ukraine statt? Warum problematisieren weder die USA noch die NATO, dass nach wie vor ukrainische Nationalisten und Faschisten dort wichtige Posten innehaben? Warum treten im Januar 2022 fast auf den Tag genau gleichzeitig zwei pro-ukrainische Gesetze in Kraft, die Tatsachen schaffen: ein Sprachgesetz, das die „Ukrainisierung“ der russischsprachigen und anderssprachigen Bevölkerung erzwingt, und ein Land-Lease Gesetz der USA, das der Ukraine für den Kriegsfall verbindliche Finanzierungszusagen macht? Wie ist es möglich, dass Annalena Baerbock bereits einen Tag nach Beginn dieses Krieges den Wirtschaftskrieg gegen Russland erklärt? Das alles sind letztlich rhetorische Fragen, die ich als Indizienbeweise für ein abgekartetes Spiel verstehe. In diesem Spiel geht es um Machtinteressen und Rollenzuweisungen: Wer darf den Weltgendarmen spielen, wer qualifiziert sich als Steigbügelhalter, wer stellt die Bauernopfer?

Alles andere als ein rhetorischer Trick, dafür aber ein Ausdruck meiner – und ganz sicher nicht nur meiner – Ratlosigkeit sind die folgenden Fragen: Wie kann es sein, dass unsere Regierung sich in puncto internationale Solidarität ausgerechnet auf ein schillerndes, von der Noch-Großmacht USA und ihren Vasallen bevorzugtes Land kapriziert, ohne dass für sie dabei ein erkennbarer Nutzen herausspringt? Der Schaden allerdings liegt schon jetzt auf der Hand: Den hat die russische, ukrainische und deutsche Bevölkerung. Warum wehrt sich letztere nicht heftiger gegen die Ignoranz ihrer gewählten Volksvertreter, denen alles andere wichtiger zu sein scheint als die Erfüllung ihres Amtseides, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden? Wann hat ein Großteil unserer Medien den Pfad der Tugend verlassen, pfeift auf seine Verantwortung als „vierte Gewalt“ und planscht fremdbestimmt im seichten Meinungsstrom? Ist die mehrheitliche Entfremdung der Deutschen von sich selbst überhaupt noch in den Griff zu kriegen? Von der ersten Strophe der westdeutschen Nationalhymne mit der auftrumpfenden Zeile „Deutschland, Deutschland über alles …“ haben wir uns zum Glück und völlig zu Recht vor längerer Zeit verabschiedet, aber mittlerweile würde sogar ein „Deutschland, Deutschland bei sich selber…“ peinlich klingen.

3 Kommentare zu “Deutschland und die Welt (2)”

  1. Karl sagt:

    Liebe Meta, auf einen konkreten Punkt, den du anführst und mich auch namentlich dabei nennst, möchte ich noch eingehen: Natürlich konnte Hitler auf legale, sozusagen demokratische Weise nur deshalb an die Macht kommen, weil die deutsche Bevölkerung durch den „Versailler Diktatfrieden“ total unter Druck stand. Die auferlegten Reparationen waren dermaßen hoch, dass die deutsche Wirtschaft sie beim besten Willen nicht leisten konnte. Das Ruhrgebiet musste zum Beispiel über 50 Züge mit Steinkohle liefern – täglich! Die Reichsbank druckte immer mehr Geld, damit auch noch die Arbeitskräfte aus Deutschland ihren Lohn erhalten konnten. Das führte dann zur Hyperinflation. Diese vernichtete Existenzen und stürzte Menschen ins Elend. Nur aus dieser gesellschaftlichen Situation heraus konnte die NSDAP von Wahl zu Wahl bis 1933 mehr Stimmen bekommen.

    Als Napoleon seine Kriege verloren hatte, saß die französische Delegation beim Wiener Kongress mit am Tisch und konnte selbst mit über die Reparationen verhandeln, die dem damaligen Aggressor auferlegt wurden, der versucht hatte, ganz Europa unter seine Herrschaft zu bekommen. Sie waren im Gegensatz zu dem, was Deutschland nach den 1. Weltkrieg von den Siegermächten diktiert wurde – es durfte an keiner Verhandlung teilnehmen -, bezahlbar.

    Ich bin überzeugt, dass die Nazis vor 1933 nur deshalb in Deutschland Wahlen gewonnen haben, weil ein Großteil der deutschen Bevölkerung den Versailler Vertrag als schreiend ungerecht empfand, auch hinsichtlich der Behauptung von der deutschen Alleinschuld: „Mittlerweile lautet aber die vorherrschende Meinung unter internationalen Historikern: Alle Kriegsparteien, die von Anfang an dabei waren, tragen eine Teilschuld. Alle hätten sich dem Kriegsausbruch entgegenstellen können, ja ihn sogar verhindern. Dass sie es nicht taten, dass sie einen Krieg in Kauf nahmen, machte folglich alle mitschuldig.“ (Planet-Wissen.de)

    Mit einem Wort: Die Nazis waren auch ohne den Versailler „Dikatfrieden“ große Menschheitsverbrecher. Es waren also nicht die „bösen Nachbarn“ schuld daran, quasi der „schlechte Umgang“, von dem du sprichst, Meta. Aber dass ein großer Teil des deutschen Volkes die NSDAP gewählt und Hitler so zur Macht verholfen hat, wäre ohne den Versailler „Schandfrieden“ nicht möglich gewesen (denke ich jedenfalls).

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