Das erste, was in jedem Krieg auf der Strecke bleibt, ist die Wahrheit

In den Debatten, an denen ich mich derzeit als Mitglied zweier überparteilicher, bürgerbewegter, basisdemokratischer Organisationen beteilige, sind etwa die Hälfte der Menschen ost- und die andere Hälfte west-sozialisiert. Ich habe noch kaum eine Situation erlebt, in der die Bewertung aktueller Ereignisse dermaßen davon abhing, auf welcher Seite des Eisernen Vorhangs jemand geboren war bzw. auf welche Seite er sich – aus welchen Gründen auch immer – in seiner Kindheit und Jugend geschlagen hat. Da existieren nach wie vor zwei fast unvereinbare Narrative nebeneinander, von denen sich die jeweilige Seite nicht so recht zu distanzieren vermag. Meine westdeutschen Freunde können die Mär vom guten Amerikaner nicht über Bord werfen, der nie aufgehört hat, die Welt mit dem Geist von Unabhängigkeit und Demokratie zu beglücken, immer nach dem Grundsatz, dass der Zweck die Mittel heilige. Meine ostdeutschen Freunde können sich vom Bild des seelenvollen  Russen nicht trennen, der um  die Früchte seines opferreichen Sieges im Großen Vaterländischen Krieg gebracht wird und nun zu Recht um sich schlägt. An beiden Großerzählungen ist viel Wahres und viel brutal Zurechtgebogenes. Da gelten noch immer die „Zehn Grundsätze der Kriegspropaganda“, die Lord Arthur Ponsonby nach dem 1. Weltkrieg so formuliert hat: 1) Wir wollen den Krieg nicht. 2) Das gegnerische Lager trägt die Verantwortung. 3) Der Führer des Gegners ist ein Teufel. 4) Wir kämpfen für eine gute Sache. 5) Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen. 6) Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich. 7) Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm. 8) Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache. 9) Unsere Mission ist heilig. 10) Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter. Eine Konsequenz aus der Erkenntnis, dass die Lüge ein zwingend notwendiger Bestandteil jeder Kriegsberichterstattung ist, könnte in der Umsetzung des berühmten Satzes bestehen: „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Aber allein, wenn man mal registriert, wer diesen Satz von  Carl Sandburg (1878 – 1967) zitiert hat und gegenwärtig für sich in Anspruch nimmt, kann man an der Durchsetzungskraft  von offensichtlichen Wahrheiten zweifeln.

Mir ist durchaus bewusst, dass ich selbst natürlich auch nicht von meinen im Osten Deutschlands geprägten Vorstellungen völlig absehen kann  und nicht wenige Erlebnisse oder auch Erzählungen der Eltern meine Sicht der Dinge stützen. Mir fällt der Kommunist Maxe Herm ein, der den 2. Weltkrieg in Gefängnissen verbrachte und als kranker Mann, schwer gezeichnet von den Misshandlungen, das Amt eines Oberbürgermeisters meiner Stadt übernahm. Mit dem Rückenwind des zuständigen russischen Kulturoffiziers bestand eine seiner ersten Amtshandlungen darin, die Wiedereröffnung des Theaters in einer provisorischen Spielstätte, aber mit anspruchsvollem Programm zu veranlassen. Im Gegenzug schwärmen meine westdeutschen Freunde dann von den „Rosinenbombern“ der Amis und dem wunderbaren Kaugummi, der ihnen zuteil wurde.

Die Definitionsmacht darüber, was die richtige Sicht auf Ereignisse und Phänomene ist, haben schon immer die Sieger an sich gerissen. Aber wer sind gegenwärtig diejenigen mit den größeren Siegesaussichten? Und ist damit schon gesagt, dass sie Recht haben? Das Problem ist ja, dass  die alte uni-polare Weltordnung derzeit in Auflösung begriffen ist, dass eine „De-Westifizierung“ stattfindet, was es immer schwieriger macht, die Dinge angemessen zu beurteilen und einzuordnen. Die Gefahr, dass es am Ende nur Verlierer gibt, nimmt zu. So viel kann man aber wohl mit einiger Sicherheit  festhalten: Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist ein «Stellvertreterkrieg», der v.a. den Interessen der USA dient. Die übrigens wieder einmal weit genug weg vom Schuss sind, um das Opferbringen ihren Verbündeten zu überlassen. Die deutsche Politik hat sich diesen Interessen weitgehend untergeordnet. Hätte sie denn wirklich nicht die Chance gehabt, auch einen anderen Weg zu gehen?

 

Ein Kommentar zu “Das erste, was in jedem Krieg auf der Strecke bleibt, ist die Wahrheit”

  1. Karl sagt:

    Der letzte Absatz deines Beitrages, liebe Meta, lässt mich hoffen. Schön das Wort von der „De-Westifizierung“. Deutschland ist ein „Land der Mitte“ (Bismarck) wie China. Wir sind die Mitte in Europa, China war die „Mitte der Welt“ und ist auf dem Weg, sie wieder zu werden. Ich glaube nicht, dass Deutschland sich entweder zum Westen oder zum Osten bekennen muss und dass sein Fehler vor Ausbruch der Weltkriege war, sich nicht eindeutig genug an den „Westen“ gebunden zu haben. Nein, aber es hätte seine Mitte-Position durch Bündnisse mit neutralen Ländern, mit denen es in seiner Geschichte schon immer verbunden war, festigen müssen. Zusätzlich dazu eine Achse der Mitte-Mächte China und Deutschland zu bilden, war damals noch nicht möglich, weil sich China noch im Dornröschenschlaf befand. Aber heute könnte das auf der Basis der gleichberechtigten Selbständigkeit in Frage kommen, jedenfalls eher, als Juniorpartner der USA zu bleiben.
    Ich gebe zu, diese Gedanken folgen eher meinen persönlichen Wünschen als der Realität, aber Gedanken sind es trotzdem; sie wollen wenigstens mal formuliert worden sein, wenn sie schon nicht zur geschichtlichen Wirklichkeit werden (wahrscheinlich, weil stärkere Mächte, auch und gerade im eigenen Land, das zu verhindern wissen).

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