Wenn Maschinen Gedichte übersetzen und interpretieren

Mein Gedicht „Zum neuen Jahr“ habe ich an Freunde und Verwandte geschickt. Es landete auch in einem Forschungsinstitut für künstliche Intelligenz, das sich in einem Projekt mit neuen Möglichkeiten der maschinellen Übersetzung und Interpretation von Texten beschäftigt. Eigentlich geht es dabei nicht um kreative Texte, gar Gedichte. Aber spaßeshalber hat ein Projektteilnehmer die Maschine mit meinem Neujahrswunsch gefüttert. Hier noch einmal das kleine Gedicht:

Auf ein Neues, auf ein Gutes!
Was ihr gerne tätet – tut es!
Lasst uns lieben, lasst uns streiten,
trotzen den Wahrscheinlichkeiten,
Offensichtliches bezweifeln,
Unbekanntes nicht verteufeln,
Markt und Mode nicht vergöttern,
selber denken, schneidern, pöttern.
Wer nichts wagt, kann nichts gewinnen.
Lasst uns heut damit beginnen.
Schneller als gedacht holt ein
uns der Tag St. Nimmerlein.  

Die erste Frage an die Maschine lautete: What does that poem mean? Hier die Antwort:

The poem seems to be encouraging readers to take risks and embrace new experiences, rather than simply following the status quo. It encourages independent thinking and creativity, and warns that time is fleeting and it is important to make the most of it.

Die zweite Frage: Kannst du mir deine Interpretation auf Deutsch schreiben? Die Antwort:

Gerne! Das Gedicht ermutigt die Leser dazu, Risiken einzugehen und neue Erfahrungen zu machen, anstatt einfach dem Status quo zu folgen. Es fördert den unabhängigen Denkprozess und die Kreativität und warnt davor, dass die Zeit fließt und es wichtig ist, das Beste daraus zu machen.

Die dritte Frage war deutlich schwieriger: Can you transfer the meaning of the poem to English but still make it rhyme? (Die Übersetzung ins Englische sollte die Gedichtform wahren und gereimt daherkommen.) Hier das Ergebnis:

On to new things, on to good things!

Do what you’d love to do – do it!

Let’s love, let’s fight,

defy the odds,

doubt what’s in plain sight,

don’t condemn what’s out of sight,

don’t worship market and style,

think and create all the while.

Those who risk nothing gain naught,

let’s start today, that’s the thought.

Faster than we think, Death will seize us

so let’s make the most of this process.

Die vierte Frage widmete sich der Interpretation der einzelnen Zeilen des deutschen Gedichts. Hier das Ergebnis:

„Auf ein Neues, auf ein Gutes!“: Diese Zeile ermutigt den Leser, einen neuen Anfang zu machen und positiv zu denken.

„Was ihr gerne tätet – tut es!“: Diese Zeile ermutigt den Leser, die Dinge zu tun, die er gerne tun möchte, anstatt sich von äußeren Faktoren einschränken zu lassen.

„Lasst uns lieben, lasst uns streiten“: Diese Zeile schlägt vor, dass es wichtig ist, sowohl Liebe als auch Konflikte in unserem Leben zu haben, um es vollständig zu erleben.

„trotzen den Wahrscheinlichkeiten“: Diese Zeile ermutigt den Leser, sich nicht von den Wahrscheinlichkeiten oder den Erwartungen anderer einschränken zu lassen und seinen eigenen Weg zu gehen.

„Offensichtliches bezweifeln“: Diese Zeile schlägt vor, dass es wichtig ist, offensichtliche Dinge in Frage zu stellen und nicht einfach alles zu glauben, was man hört oder sieht.

„Unbekanntes nicht verteufeln“: Diese Zeile ermutigt den Leser, neugierig zu sein und sich nicht vor dem Unbekannten zu fürchten, sondern es als Möglichkeit zu betrachten, Neues zu entdecken.

„Markt und Mode nicht vergöttern“: Diese Zeile schlägt vor, dass es wichtig ist, sich nicht von Markttrends oder Moden leiten zu lassen, sondern seine eigenen Entscheidungen zu treffen.

„selber denken, schneidern, pöttern“: Diese Zeile ermutigt den Leser, seine eigenen Ideen zu entwickeln und sie umzusetzen, anstatt sich von anderen inspirieren zu lassen.

„Wer nichts wagt, kann nichts gewinnen“: Diese Zeile betont, dass man nur durch das Eingehen von Risiken etwas erreichen kann.

„Lasst uns heut damit beginnen“: Diese Zeile ermutigt den Leser, mit dem Eingehen von Risiken sofort zu beginnen.

Die letzte Zeile des Gedichts lautet „Schneller als gedacht holt ein / uns der Tag St. Nimmerlein“. Eine Interpretation dieser Zeile könnte sein, dass die Zeit schnell vergeht und dass es wichtig ist, das Beste aus ihr zu machen, da man nie weiß, wann der „Tag St. Nimmerlein“ (der Tag des Todes) eintritt. Die Zeile warnt also davor, die Zeit zu verschwenden und fordert dazu auf, das Leben in vollen Zügen zu genießen.

So weit – so gut. Wir können bewundern, was die Maschine schon alles kann. Sie ist in der Lage, sich grammatisch korrekt in angemessenen Sätzen zu äußern. Sie erfasst auf einer allgemeinen Ebene den Textsinn. Sie kann das Gedicht sogar in eine andere Sprache übertragen, und zwar genretypisch rhythmisiert und gereimt. Manch einer fragt sich nun vielleicht bange: Wie lange dauert es wohl noch, bis die Maschine besser übersetzen, gar besser dichten kann als der Mensch? Bis zum St. Nimmerleinstag, würde ich gern antworten, aber so sicher bin ich mir da nicht.

Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Bild von – sagen wir – van Gogh und einem Bild, das nach der Methode ‚Malen nach Zahlen‘ entstanden ist? Meine frühere Nachbarin hätte mir wahrscheinlich geantwortet: Wenn das Ausmal-Bild gut gemacht ist, gibt es keinen Unterschied. Sie hätte sich wahrscheinlich auch in einer Ausstellung mit moderner Kunst vor einem Bild aufgepflanzt und festgestellt: „Na, das kann ich aber auch!“ Kommt Ihnen eine solche Szene bekannt vor? Im Grunde geht es um den Unterschied zwischen kreieren und kopieren, den Menschen wie diese Nachbarin für unwesentlich bis vernachlässigbar halten.

Wenn man so herangeht, muss man unweigerlich auch zu dem Schluss kommen, dass uns Computer irgendwann beim Texteschmieden den Rang ablaufen werden. Noch ist es nicht so weit. Was die Maschine in unserem Beispiel kann, geht über eine beachtliche Kopierleistung nicht hinaus. Sie ist gut gefüttert worden mit Beispieltexten, Vokabeln, Wendungen, Satzbauplänen und lyrischen Elementen, hat daraus selbstständig gelernt und kann Versatzstücke relativ frei kombinieren und auf die Akzeptanz mancher Formulierung als „dichterische Freiheit“ setzen. Lediglich an der gleichförmigen Satzgliedfolge (Subjekt-Prädikat-Objekt) und an der Häufung von Standardwendungen wie „in Frage stellen, Ideen entwickeln, Risiken eingehen, Neues entdecken, in vollen Zügen genießen“ lässt sich ein doch recht mechanisches, uninspiriertes Vorgehen ablesen, auch eine ungelenke Redundanz – mit anderen Worten: ein Als-ob-Text. Wobei die Maschine mit mindestens zwei Wörtern/Wendungen Probleme hatte: mit „Pöttern“ = regional (Norddeutschland) für Töpfern und mit „St. Nimmerleinstag“ = Tag in unbestimmter Ferne, den man vielleicht nie erleben wird. Während sie das erste Wort einfach übergeht, widmet sie der anderen Wendung mehrere Zeilen, die von ihrer Unsicherheit zeugen. Gegen solche Indizien für ein nur „allgemein-konkretes“ Verstehen oder gar punktuelles Nicht-Verstehen ließe sich sicher noch einiges tun – aber wird die Maschine jemals in der Lage sein, das kreative Leuchten von poetischen Texten, den Funken inspirierenden Wahnsinns, den unausgesprochenen Mehrwert einer Botschaft herzustellen und zu transportieren? Viele Menschen wären schon froh, wenn sie wenigstens so formulieren könnten wie die Maschine, und geben sich Zeit ihres Lebens mit menschlichen und maschinellen Als-ob-Texten zufrieden. Das soll uns aber nicht daran hindern, über solche Tellerränder hinaus zu blicken.

2 Kommentare zu “Wenn Maschinen Gedichte übersetzen und interpretieren”

  1. Zufälliger Besucher sagt:

    Ja, ChatGPT ist ein interessantes Spielzeug. Es zeigt, wie weit künstliche Intelligenz inzwischen gereift ist. Die Mechanik, die dahintersteht, ist faszinierend und beängstigend zugleich. Die Fähigkeiten werden momentan eigentlich nur durch die Ressourcen begrenzt. Aber wenn man genau darüber nachdenkt, ist es nur eine Frage der Zeit, ab wann solche Programme tausende von Callcentern überflüssig machen. Und es ist auch nur eine Frage der Zeit, wann es unmöglich ist, einen maschinengenerierten Text von einem menschlich erstellten zu unterscheiden. Auch sehr spannend wird die Frage sein, wie sehr wir uns auf solche Maschinen verlassen. ChatGPT liefert teilweise auf Fragen falsche oder unkorrekte Antworten. Durch die Art der Konversation bemerkt man das aber kaum. Macht sie dass nicht erschreckend menschlich?
    Diese Maschine ist momentan mit einem Teil des Internetwissens bis zum Jahr 2021 „gefüttert“. Das begründet viele Begrenzungen. Interessant ist es, wenn die Ressourcen soweit erweitert sind, dass ChatGPT direkt während eines Gesprächs recherchiert und neue Ideen entwickeln kann. Momentan fühlt es sich an, als ob man mit jemandem redet, der, na ja, etwas beschränkt ist 😉 Also sagen wir mal, als ob man mit jemandem redet, der zwar viel Fachwissen hat, aber eher in seinen Möglichkeiten des kreativen Umgangs damit Schwierigkeiten hat.
    Oder salopp gesagt, der IQ der Maschine ist momentan eher im mittleren zweistelligen Bereich. Wenn jetzt Hardware aufgerüstet wird, wird es richtig Interessant. Wie reagiert eine Maschine mit einem IQ weit außerhalb des messbaren? Also sagen wir mal, irgendwann hat sie einen IQ von 20.000. Wird man mit Ihr als Mensch überhaupt noch interagieren können? Übernimmt sie die Weltherrschaft komplett? Oder erschrecken wir dermaßen, dass wir eine solche Maschine sofort zerstören und für immer von der Erde verbannen?

  2. Marlen sagt:

    „Gedichte entstehen aus Worten, nicht aus Gefühlen.“ Das war so ziemlich das erste, was ich in einem Lyrikkurs lernte. Wenn man seine Gefühle mittels der Lyrik ausdrücken möchte, braucht man besonders schöne Worte. „Die Lyrik bricht die Alltagssprache auf“, eine weitere Erkenntnis.
    Diese Suche ist oft mühevoll und zeitaufwändig, denn nicht jedes geeignete Wort fügt sich in mein Gedicht. Rhythmus und Reim, die Sprachmelodie, all das muss passen.
    Insofern könnte ich mir vorstellen, auf der Suche nach Worten die Technik zu benutzen, ähnlich wie im Auto das Navi, ohne mich blind darauf zu verlassen.
    Ich befürchte nur, wenn so ein Gedicht dann ziemlich perfekt daherkommt, ist es da noch mein Gedicht? Ich bin auch nicht perfekt, schon gar nicht im Schreiben. Ich denke, ich würde da lieber ganz bei mir bleiben.
    In meinen persönlichen Krisenzeiten nutzte ich das Schreiben, neben sportlicher Betätigung, als Therapie. Zuerst schrieb ich mir meine Trauer, meine Enttäuschungen, sowie Kummer und Sorgen regelrecht von der Seele, danach begann die Arbeit am Text. Und genau dabei gelang es mir, zunehmend Abstand zu gewinnen.
    Nein, eine Maschine hätte ich da nicht dabeihaben wollen. Sie hat sicher eine große Zukunft, Angst hätte ich nicht vor ihr, zumindest nicht mehr, als ich vor manchen Menschen haben muss…

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