Josef, der unterschätzte Held?

Josef von Nazareth, der Ehemann von Maria und Ziehvater von Jesus, fristet in der Bibel ein Schattendasein.

Er ist offenbar immer an Marias Seite, kommt aber kein einziges Mal zu Wort. Bei der Interpretation der wenigen Spuren, die er im Neuen Testament hinterlassen hat, ist man auf die eigene Phantasie angewiesen. Diese sprang bei den frühen Chronisten kaum an, erst spätere Generationen widmeten sich verschiedenen Auslegungen, die natürlich nicht unabhängig vom herrschenden Zeitgeist waren. Etwa ab dem 8. Jahrhundert wird Josefs Biographie peu à peu von Vertretern der einzelnen Strömungen des Christentums komplettiert. Meistens wird angenommen, dass er sich als «Nährvater» hingebungsvoll der Erziehung Jesu widmete, aber vor Beginn von dessen Heilsbringer-Karriere starb. Ab dem 17. Jahrhundert steigt Josef zum Schutzpatron der Sterbenden, später auch der Arbeiter (besonders der Zimmerleute und Holzfäller), der Jungfrauen und der Eheleute auf. Seit dem 20. Jahrhundert gilt er, unterdessen heilig gesprochen, als Schutzpatron der Katholischen Kirche insgesamt.

Die Idee, Josef zum Vorreiter eines modernen Männlichkeitsbildes zu erklären, ist noch jung und ausbaufähig. Sie beruht ebenso auf Spekulationen wie jedes andere Josef-Konzept, hat aber für heutige Zeitgenossen den Reiz, ihre persönlichen Erfahrungen und Wünsche relativ unabhängig von religiösen oder ideologischen Vorgaben einbringen zu können. Wie wäre es denn, wenn Josef mit der Vorstellung klargekommen wäre, für das Kind eines anderen Mannes Verantwortung zu übernehmen, als ginge es um sein «eigen Fleisch und Blut»? Wie wäre es, wenn noch eine dritte Vaterfigur im Spiel wäre und die drei sich bereit zeigten, vielleicht unter Josefs Regie, arbeitsteilig ein friedliches Zusammenspiel hinzukriegen? Wie wäre es, wenn Josef sich mit Maria die Pflege- und Erziehungsarbeit redlich geteilt und auch keine fadenscheinigen Argumente angebracht hätte, um sich vor uncoolen Hausarbeiten drücken zu können? Wie wäre es, wenn Josef den Mut gehabt hätte, seine mentale Stärke nicht auf die Behauptung männlicher Überlegenheit mit Hilfe von Unterdrückung, Ausbeutung und Gewaltanwendung zu gründen oder auf die Fähigkeit, Macht und Besitz anzuhäufen? Wie wäre es, wenn Josef ein Mensch gewesen wäre, der neuen Erfahrungen mit Offenheit, Verständnis, Weichheit und Demut begegnet wäre und zu dessen hervorstechenden Eigenschaften Mitgefühl, Bescheidenheit und Altruismus gehört hätten?

So ein Josef würde meinem Wunschbild von Männlichkeit – ergo von Menschlichkeit – sehr nahe kommen, aber wäre dieser Typ heutzutage mehrheitsfähig? Die Frage ist vielleicht weniger realitätsfern und spekulativ, als sie es mit Blick auf vergangene Zeiten gewesen wäre, aber überzeugend zu beantworten ist sie noch lange nicht. Der Held von heute soll also ein friedlicher Softie sein?, fragen die einen. Aber geht die größere Anziehungskraft, egal ob auf Männer oder Frauen, nicht immer noch von den Macho-Arschlöchern aus?, fragen die anderen. Was ist mit der sexuellen Lust, wird sie nicht gerade durch die Spannung von Dominanz und Unterwürfigkeit angefacht, findet sie ihre Befriedigung nicht ebenso gern in den Grenzgebieten von Schmerz und Verletzung wie in den Bereichen von Einssein und Ekstase, genießt sie nicht auch gern mal auf Kosten der «besseren Hälfte»? Die für das Heute zurecht geschnittene Botschaft eines fiktiven, aus lauter Leerstellen zusammengesetzten Josef bleibt unvollendet. Vielleicht besteht diese Botschaft ja darin, all die zwischenmenschlichen Baustellen bis auf Weiteres auszuhalten und das für alle Beteiligten Beste daraus zu machen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert