Schutzengel sind auch nur Menschen

Meine Biografie kann man, abgesehen von dem viel zu frühen Tod dreier Lebensgefährten, mit einigem Recht als Ansammlung von unglaublichen Zufällen und Treppenwitzen mit positivem Ausgang beschreiben.

Überschrift: Noch einmal Glück gehabt. Dabei hätte mein familiärer Hintergrund doch eigentlich als Fußfessel für mein Fortkommen wirken müssen, tat es aber nicht. War da etwa ein mächtiger Schutzengel am Werk? Das Wort eigentlich kam jedenfalls, fernab von jeder Floskelhaftigkeit, in vielen Aussagen meines Lebenslaufs vor. Hier folgen ein paar einschlägige Beispiele.
Eigentlich hätte ich als Älteste von fünf Geschwistern aus einem Neuapostolischen Haushalt kaum Chancen auf ein Abitur gehabt, zumal uns meine Eltern auch von der Pionierorganisation und der FDJ (Freie Deutsche Jugend) fernhielten. Tatsächlich hat aber Direktor Georg Kaiser, der auch mein Deutschlehrer war, persönlich dafür gesorgt, dass ich trotz rigider Auslese einen Platz an der EOS (Erweiterte Oberschule) bekam. In meiner Heimatstadt gab es auf ca. 90.000 Einwohner nur eine EOS mit 6 Parallelklassen.
Eigentlich hätte Herr Kaiser gar nicht mein Deutschlehrer sein sollen, denn nachdem die Fontane-Schule, die ich bis zur 5. Klasse besuchte, wegen baulicher Mängel für einige Jahre geschlossen werden musste und die Lehrer und Schüler auf umliegende Schulen verteilt wurden, wäre eigentlich die Puschkin-Schule für mich zuständig gewesen. Dass ich stattdessen an der Brecht-Schule landete, einem gerade fertiggestellten Neubau im Stadtteil Brandenburg Nord, war unserer Musiklehrerin zu verdanken. Ilse Schwotzer, ehemalige Opernsängerin, wollte möglichst viele Mitglieder ihres gut eingesungenen Schulchors mit an die Brecht-Schule nehmen und besuchte ein Elternhaus nach dem anderen, um sich der Kinder zu versichern, die eigentlich auf anderen Schulen landen sollten. Das Einverständnis meiner musisch interessierten Eltern war kein Problem – im Gegensatz zu ihren Bedenken zwei Jahre später, mich auf die EOS zu schicken. Direktor Kaiser hatte eigentlich mit ihrer Dankbarkeit gerechnet, stattdessen musste er sich ihre Einwände anhören: In unserer Familie sei es nicht üblich, das Abitur zu machen. Man wolle sich der ideologischen Durchtränkung der Bildungsinhalte nicht länger als nötig aussetzen. Schließlich durfte ich aber doch zur EOS. Was meine Mutter später bereute: Die höhere Bildung habe mich arrogant gemacht und dem Elternhaus entfremdet.
Eigentlich sollte ich auf Wunsch meiner Dozenten die PH Dresden nach dem Diplom gar nicht erst verlassen, sondern gleich promovieren. Eine solche Ehre auszuschlagen war in der DDR nicht vorgesehen. Aber ich wollte auf keinen Fall die angebotene Dissertation in Pädagogik schreiben, diesem „aufgeblasenen Sabbelfach“, wie ich es damals nannte. Da half nur die Flucht nach vorn, sprich: freiwillig an eine Dorfschule zu gehen und damit der unbeliebten Kampagne „Beststudenten aufs Land“ zu folgen.
Eigentlich hätte ich nach vier schönen Jahren als Lehrerin im Erzgebirge das Angebot der PH Dresden, nunmehr in Germanistik zu promovieren, als kleinen Sieg feiern können, aber stattdessen mischte ich mich öffentlich in die Biermann-Affäre ein, was zur Folge hatte, dass meine 10. Klasse die Ausbürgerung des Liedermachers nicht per Unterschrift begrüßen wollte und dass ich über Nacht meinen Status als hoffnungsvoller Nachwuchskader verlor.
Eigentlich hatte ich mich mit der Aussicht, bis auf weiteres in einer beruflichen Sackgasse zu stecken, schon abgefunden. Da kam überraschend Hilfe aus einer Ecke, mit der ich nicht gerechnet hatte. Die Kreisfachberaterin legte mir nahe, mich an ein gerade gegründetes Weiterbildungsinstitut im Bezirk Potsdam versetzen zu lassen. Sie würde von ihrem Vorschlagsrecht Gebrauch machen. „Ehe man Sie hier kaputtspielt, will ich Sie lieber wegloben“, kommentierte sie ihre Initiative.
Eigentlich hätte der zuständige Schulrat bei aufmerksamer Sichtung meiner Unterlagenn stutzig werden müssen. Dass ich „die Treppe rauf fallen“ würde, war eine DDR-typische Praxis, um unbequeme Zeitgenossen zu neutralisieren. Aber dass am Ende der Treppe meine Geburts- und Heimatstadt lag, war eigentlich zu viel des Guten und ein verdammter Zufall.
Eigentlich wollte ich nicht unbedingt dahin zurück, wo ich einmal hergekommen war, aber das kleine Institut in der Havelstadt entwickelte sich bald zu einer Nische der Offenheit und des relativ freien Diskurses, in der man sich gut einrichten konnte.
Eigentlich war ich, im Gegensatz zu einigen Kollegen, nicht für eine Dissertation an der PH Potsdam vorgesehen, da wirkte der Fleck auf meiner Kaderakte nach. Irgendwann begann ich trotzdem, nebenbei an einer Doktorarbeit zu schreiben, für die aber die fachliche Betreuung fehlte. Dann bekam das Institut einen neuen Direktor, der nach fünf Jahren Dozentur in Peking seine eigene Meinung zum Sozialismus hatte und sich vor ungewöhnlichen Maßnahmen nicht scheute. Ich gab ihm das Fragment meiner Dissertation zu lesen und bekam schon am nächsten Morgen die Antwort: „Das Ding ziehn wir durch.“
Eigentlich sollte von meiner außerhalb des offiziellen Programms entstandenen Arbeit kein Gewese gemacht werden, aber dann stand ein kleines Jubiläum an, die 2000-ste Dissertation an der PH Potsdam, und da überließ man nichts dem Zufall. Der Jubiläumskandidat musste ein Einserkandidat sein – und da kam für den betreffenden Zeitraum nur ich in Frage und heimste die Ehre ein, für die ich gar nicht vorgesehen war.
Dennoch hätte ich eigentlich drei Jahre später die zur Uni aufgestockte PH Potsdam wieder verlassen müssen, weil meine unbefristete Stelle nach DDR-Recht klammheimlich in eine befristete Stelle nach BRD-Recht umgewandelt worden war. Die Verwaltungsmitarbeiterin, die mir das steckte und auch gleich noch einen Ausweg aus dem Dilemma aufzeigte, riskierte damit ihren eigenen Job.
Es gab sie also, die beherzten Mitmenschen, deren Fürsprache ich es in entscheidenden Situationen zu verdanken hatte, dass sich die Dinge zu meinen Gunsten fügten. Daraus schöpfe ich bis heute die Kraft, wenn nötig meinerseits beherzt für meine Mitmenschen einzutreten. Ich glaube nicht, dass da im Hintergrund mächtige Schutzengel walten, aber es schadet auch niemandem, das zu glauben.
Ein Nachtrag muss sein, der meine Behauptung, ich hätte Treppenwitze produziert, einschlägig belegt. Vor einiger Zeit, es mag ein bis zwei Jahre her sein, wollte ich in kleiner Runde das Biermann-Gedicht aufsagen, das damals den Stein gegen mich ins Rollen gebracht hatte, „Sozialistischer Biedermeier“. Da mir nicht mehr alle Strophen präsent waren, googelte ich sie. Und fiel aus allen Wolken: Das Gedicht war gar nicht von Biermann, sondern von Kurt Bartsch. Der Irrtum war erklärlich, wenn man bedachte, dass damals die aufmüpfigen Texte aus der alternativen Liedermacher-Szene oft nur mündlich oder handschriftlich weitergegeben wurden. Weniger verständlich aber doch bezeichnend war, dass den Irrtum keiner meiner Ankläger bemerkt hatte. Relativ sicher bin ich mir aber, dass sie einige Jahre später an der gesamtdeutschen Fernsehserie „Unser Lehrer Dr. Specht“ ihre Freude hatten, für die Kurt Bartsch das Drehbuch schrieb.

Ein Kommentar zu “Schutzengel sind auch nur Menschen”

  1. Zufälliger Besucher sagt:

    Zwei Zitate aus einem meiner Lieblingsfilme fassen es eigentlich treffend zusammen:

    „Meine Mama hat immer gesagt, das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nie was man kriegt.“
    (Forrest Gump)
    „Mama sagt, dumm ist der, der Dummes tut.“
    (Forrest Gump)

    Auch ich habe in meinem Leben einige, auf den ersten Blick auch unglaublich dumme und in Ihrem Ausgang mehr als vorherzusehende Entscheidungen getroffen. Entscheidungen, die recht bedeutende Einschnitte ergeben haben. Nun, einige Jahrzehnte später stellt sich heraus, diese Entscheidungen haben zum einen den Menschen geformt, der ich bin; sie haben lebenslange Freundschaften erschaffen, unechte Freunde entlarvt und einen Lebensweg ermöglicht, den ich aus der jetzigen Sicht als recht erfolgreich und aus der Ursprungssituation heraus als unerreichbar bezeichnen würde.
    Schutzengel oder höhere Wesen waren nicht daran beteiligt. Es waren meine Entscheidungen und mein Wille, aus der Situation das Beste zu machen. Komfortzonen erweitern, das Gefühl zu genießen große Veränderungen vollbracht zu haben.
    Klar, eine Prise „Glück“ gehört dazu, aber ob eine Entscheidung einen glücklichen oder unglücklichen Ausgang nimmt, ist, denke ich, eine 50:50 Chance. Das Geheimnis ist, einfach genügen Wagnisse einzugehen um als reine Menge eine ordentlich große Anzahl glücklicher Fügungen im Leben zur Verfügung zu haben.

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