„Autismus“ (3) oder: Es könnte so einfach sein…

is’s aber nicht, weil gute Menschen alles so kompliziert machen müssen, vor allem, wenn es um das Wertvollste geht, was sie haben: ihre Kinder. Nehmen wir noch ein anderes Beispiel1, wie „Autismus“ entsteht: das unerlaubte Aufstehen beim Essen. „Einfache“ Menschen ermahnen ihr Kind freundlich und mit Nachdruck einmal: Wenn du jetzt nicht sitzen bleibst, ist das Essen für dich beendet. Es gibt dann erst zur nächsten regulären Mahlzeit wieder etwas, höchstens einen Apfel oder eine Mohrrübe zwischendurch. Und dann essen die Eltern in Ruhe weiter, ohne das Kind zu beschäftigen, damit es sich nicht langweilt. Es hat sich ja aus eigenem Willen vom Essenstisch wegbewegt, es wollte beim Essen nicht mit seinen Eltern reden, nun muss es auch selbst für seine Unterhaltung sorgen. (Auch schon) Kinder müssen Schritt für Schritt lernen, die Folgen ihrer Entscheidungen zu tragen.

Hat ein solches Kind nach einer halben Stunde wieder „Hunger“, bekommt es natürlich nichts: Wir haben dir gesagt, wenn du aufstehst, ist Schluss mit dem Essen. Das gilt. Was wir sagen, gilt. Das müsstest du inzwischen eigentlich wissen, und es ist für uns alle gut, dass gilt, was entschieden wurde. Aber wie gesagt, eine Möhre kannst du haben.

Eltern, die von der Autismus-Theorie überzeugt sind, probieren das gar nicht. Behaupten aber, mit Erziehung könne man bei ihrem Kind nichts erreichen: es sei eben nun einmal so. Wie können sie da so sicher sein, wo sie es mit Erziehung, freundlich und ausdauernd, nie versucht haben und wenn, der konsequenten Verweigerung ihres Kindes keine eigene Konsequenz entgegengestellt haben? Wahrscheinlich ist es in Wirklichkeit so: Nicht das Kind soll so bleiben können, wie es nun einmal ist, sondern die Eltern wollen so bleiben, wie sie nun einmal sind: schwach und nachgiebig, was sie allerdings für Liebe halten. Im Ergebnis ist es das Gegenteil, weil es ihrem Kind massiv schadet.

Wenn „Pseudoautismus“ durch eine falsche Erziehung verursacht wird, kann er durch eine richtige also auch wieder behoben werden, wobei natürlich die biologischen Voraussetzungen, die Erbanlagen, dafür ganz unterschiedlich sind. Bei extravertierten Menschen, zum Beispiel, mit schnellen Nervenprozessen geht es leichter, bei introvertierten mit langsamen ist es wesentlich schwieriger, dafür, wenn es einmal gelungen ist, ist es dann aber auch tiefer „eingerastet“.

Mir geht es um das Ziehen der pädagogischen Schlussfolgerungen aus der misslungenen Erziehungsrealität in Deutschland, die zu immer mehr Individualismus, Narzissmus und Egozentrismus führt, psychiatrisierend und medizinisierend „Autismus“ genannt, auf Kosten der menschlichen Beziehungen, auf Kosten der Fähigkeit, sich mit den Menschengruppen zu identifizieren, die ein Individuum hervorgebracht haben, also seiner Familie, seines Kindergartens, seiner Schule, seines (Sport)Vereins, seiner Region und seiner Nation.

Über „Werte“ wird gern und viel geredet, wahrscheinlich und womöglich besonders in Deutschland. Vor allem in Feiertags- und Sonntagsreden. Sie sind gar nichts wert, wenn sie nicht „heruntergebrochen“ werden auf praktische Umgangsformen wie das Hören auf den Namen (stehenbleiben und den Rufer ansehen) und das Sitzenbleiben beim Essen, deren Einhaltung nicht immer wieder nur „angemahnt“ wird, sondern im einheitlichen Handeln aller Erziehenden tat-sächlich ebenso ruhig wie bestimmt um- und durchgesetzt wird, wobei wie oft, die einübende Wiederholung die Mutter der Weisheit ist.

Aber Liebe macht blind, vor allem die erste Liebe, und das ist in nicht wenigen Fällen die Liebe zu den einzigen, heißersehnten Kindern und die verhindert dann die Konsequenz, die sie so nötig bräuchten, um ihr Leben zu „organisieren“: „Du warst aufgestanden, jetzt gibt es nichts mehr. (Bis zur nächsten Mahlzeit wirst du aber nicht verhungern, kann ich dir versichern, wenn doch, biete ich dir eine Möhre oder einen Apfel an.)“ – „Aber ich habe so einen Hunger auf Brot!“ – „Dann überlege dir das nächste Mal, ob du aufstehst, außerdem sollst du sowieso erst fragen, ob du aufstehen darfst, bevor du es tust.“

Das wäre eine ganz einfache, simple Methode, Beziehungsfähigkeit herzustellen, das Nebeneinander-Herleben auf parallelen Bahnen zu verhindern, wenn es die Eltern nur wollten. Ein Kind könnte so lernen, seine Bedürfnisse und Gelüste äußeren Strukturen unterzuordnen, wie es dann ja auch in der Schule sein wird: Im Unterricht kannst du nichts essen, du musst bis zur Pause warten. Aber die Eltern wollen möglicherweise die „totale Freiheit“ für ihr Kind, dass es immer das machen kann, was ihm gerade in den Sinn kommt, unabhängig von äußeren Strukturen wie Essens- oder Pausenzeiten. Wie dumm und kurzsichtig! Sie erziehen es zur Beziehungs- und Liebesunfähigkeit. Denn erfolgreich sein kann nur der Mensch, der seine Freiheit eine Zeitlang einer Sache unterordnet und lieben kann nur der Mensch, der seine Freiheit eine Zeitlang für einen anderen aufgibt.

Es ist ein „rennender Gedanke“ dieser Textreihe (Zeitzeichen Autismus), dass alle, die für die Erziehung eines Kindes verantwortlich sind, also die Eltern, Großeltern, Lehrer, Erzieher, Trainer gemeinsam die Kern- und Knotenpunkte seines sozialen Verhaltens mit dem Kind einüben. Das hätte immer etwas mit der schrittweisen Stärkung der kindlichen Fähigkeit zu tun, die eigenen emotionalen Impulse zu disziplinieren, um die Mitmenschen wertschätzen und Rücksicht auf ihre berechtigten Bedürfnisse nehmen zu können. Indem jeder Erziehende dieses Einüben eines rücksichtsvollen sozialen Verhaltens auf seine eigene Weise praktiziert, erhöhen gerade diese stilistischen Besonderheiten, das inhaltlich Gleiche zu vermitteln, den Verinnerlichungseffekt. Wenn die große Schwester es anders macht als der Papa und dieser wieder anders als die Frau Mama und beide anders als Opa 1 und Oma 2, und die Lehrer in der Schule wieder anders, aber bei allen läuft es auf das Gleiche hinaus, werden wir „plötzlich“ lauter gut erzogene Kinder haben.

Und die „Experten“, die wichtigtuerisch die Mädchen- oder Jungenhaftigkeit der Kinder, ihre Vor-, Mittel- und Nachpubertät als Grund anführen, neben ADHS, „Autismus“ usw. versteht sich, warum sich ein Kind heute in Deutschland nicht – mehr – benehmen können kann, stehen plötzlich „nackt“ da wie der Kaiser im Märchen, ihrer feingewebten Scheinbegründungen beraubt, warum das alles nicht ginge (damit sie weiter Honorare für ihre teuren Therapien einstreichen können). Und wenn dann Eltern, Großeltern, Lehrer und andere Pädagogen auch noch offen über ihre stilistischen Unterschiede miteinander reden können, freundlich und ruhig im Beisein der Kinder, aber orientiert auf das inhaltlich Gemeinsame und ohne Rechthaberei, dann gibt es plötzlich eine Explosion des guten Benehmens in Deutschland.

1Der geneigte Leser nehme bitte auch die Diskussion unter „Autismus“ (2) zur Kenntnis.

3 Kommentare zu “„Autismus“ (3) oder: Es könnte so einfach sein…”

  1. Zufälliger Besucher sagt:

    „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer. (Sokrates, 470-399 v. Chr.)

    Die exzessive Nutzung des Wortes „Autismus“ in dieser Serie ist etwas erschreckend. Weil die Artikel nichts mit Autismus zu tun haben.

    1. Karl sagt:

      Lieber zufälliger Besucher, welche Jugend hat Sokrates wohl gemeint? Die Kinder der Sklaven oder einfachen freien Bürger im damaligen Griechenland? Bestimmt nicht. Es ging um die verlotterten Manieren der Sprösslinge einer kleinen herrschenden Kaste, um die Kinder der Sklavenhalter. Das ist natürlich ein gewaltiger historischer Fortschritt, dass sich inzwischen ein Großteil der ganzen Jugend so benimmt, wie vor etwas mehr als 2000 Jahren ein winziger Teil von ihr.
      Ich überlege laut bzw. schriftlich, und ich muss nicht recht haben. Meine Hypothese ist, dass wir heute etwas, das nicht gelingt, zu schnell Krankheitswert verleihen, es sozusagen auslagern, damit wir uns mit unserem eigenen falschen erzieherischen Handeln nicht mehr auseinandersetzen müssen. Es gibt echten „Autismus“, aber es gibt nach meiner Meinung heute in den entwickelten individualistischen Gesellschaften noch mehr „Pseudoautismus“. „Jede Gesellschaft gebiert ihre Krankheiten und Entwicklungsstörungen, die heutige Diabetis, Autismus und ADHS“, kann ich mich nur wiederholen.

      1. Zufälliger Besucher sagt:

        Da stimme ich vollkommen zu.
        Ich war auf der Suche nach ein paar Informationen zu „Autismus“, so stieß ich auf die Seite über diese Artikel. Stellte aber fest, dass diese mit dem Krankheitsbild Autismus nichts zu tun haben. Natürlich lässt die Bezeichnung Autismus durchaus die Interpretation des Gegenteils von Authenzität zu. Aufgrund eigener Erfahrungen kräuseln sich mir nur die Fußnägel, wenn Autismus als „Fehlerziehung“ abgetan wird. Vielleicht sollte das klarer herausgestellt werden.
        Und natürlich gibt es jenen Teil Eltern, die der festen Überzeugung sind, Ihr Kind sei autistisch, nur um der unangenehmen Wahrheit nicht ins Gesicht schauen zu müssen, dass sie selbst einige gewaltige Fehler begangen haben. Und ja, reichlich Übergangsformen dazwischen gibt es auch, beispielsweise Eltern, die tatsächlich ein autistisches Kind haben und teilweise mit drakonischen Maßnahmen versuchen, das irgendwie wegzuerziehen.

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