Was tun bei „Autismus“ (2)

Ein Vierjähriger fährt mit seinem Laufrad1 vorweg. Die Mutter und/oder der Vater rennen hinterher. Es wird gefährlich, weil es in Deutschland von ausgeprägten Individualisten, die von ihren Rechten überzeugt sind, nur so wimmelt. So gibt es auch mehr und mehr Fahrradfahrer, die mit der größten Selbstverständlichkeit und zuweilen mit hoher Geschwindigkeit Fußgänger auf dem Bürgersteig (pardon: Bürger- und Bürgerinnensteig) umkurven. Dass er – manchmal noch – nicht auch für Fahrradfahrer freigegeben ist, kümmert sie nicht im Geringsten. Sie haben nichts zu befürchten. Das ist inzwischen Gewohnheitsrecht in Deutschland.

Sollte ein Streifenwagen vorbeifahren, ignorieren die Beamten diese Ordnungswidrigkeit konsequent, so wie auch immer mehr Lehrer so tun, als wenn ein rücksichtsloses, vereinbarte Regeln brechendes Verhalten völlig in Ordnung wäre. Das ist ihre einzige Chance, damit leben zu können. Sonst müssten sie daran zerbrechen, dass sie eine substantielle Voraussetzung effektiven Lernens nicht durchsetzen können, kündigen und sich „nach einer Stelle im Konsum“ umsehen, wie Anton Semjonowitsch Makarenko das so schön ausdrückt.2 (Die Problemverleugnung ist heute in Deutschland noch auf vielen anderen Gebieten die letzte, übriggebliebene Chance, mit ihm fertig zu werden.)

Da fahren also zwei Egoisten, die nie gelernt haben (sollten), Rücksicht auf die Ansprüche ihrer Mitmenschen zu nehmen, aufeinander zu. Der Vierjährige ist völlig unschuldig. Er muss auf der Entwicklungsstufe seiner Persönlichkeit denken, dass er der Mittelpunkt der Welt sei. Er kann noch nicht anders. Drei- oder auch noch Vierjährige beziehen alles, was sie beeindruckt, auf sich, im Guten wie im Schlechten3. Der große, vielleicht 20-jährige Fahrrad-Geisterfahrer ist schuldig. Er müsste wissen, dass nach der Straßenverkehrsordnung nur Kinder bis zu ihrem 10. Lebensjahr auf dem Bürgersteig Fahrrad fahren dürfen.

Die Eltern rennen ihrem kleinen Sohn immer noch hinterher, sind schon ganz außer Puste, rufen, so laut sie können, „Halt! Ben bleib stehen!“ Dieser dreht sich nicht einmal um. Er fährt unverdrossen weiter, auch über eine Nebenstraße, auf der zum Glück kein Fahrzeug kommt. Endlich hat die Mutter, die sportlich noch fitter ist als der Vater, ihren Sprößling eingeholt. Sie drückt ihn an sich und herzt ihn. Kein Wort der Auswertung. Dieses Verhalten wird als völlig normal, eben „kindgemäß“ hingenommen.

Ich hätte meinem Sohn angekündigt, dass wir darüber heute Abend, wenn wir wieder zu Hause sind, ausführlich reden müssen und dass er sich schon einmal überlegen soll, warum das unbedingt notwendig ist. Das geht auf eine einfache Weise auch mit einem Kind, das gerade einmal 4 Jahre alt ist. Zu Hause, nachdem ich in Ruhe seine volle Aufmerksamkeit hergestellt habe – sowie er unaufmerksam wird, hätte ich das Gespräch unterbrochen, ihm aber klar gemacht, dass wir erst fertig sind, wenn wir es ungestört beenden konnten – hätte ich nicht über die Gefährlichkeit des Straßenverkehrs gebarmt, sondern zunächst nur ein einziges Thema gehabt:

„Wenn ich oder Mama (oder ein anderer, der auf dich aufpasst, Oma, Opa, eine Erzieherin) dich rufen, bleibst du sofort stehen und drehst dich zu demjenigen um. Du wartest dann, bis er bei dir ist und dir sagt, worum es geht. Hast du das verstanden?“

Er würde wahrscheinlich unwillig nicken, um mit seinem Spiel fortfahren zu können. Gut, wenn du es verstanden hast, dann wiederhole mir noch einmal mit deinen eigenen Worten, was ich gesagt habe. Er würde mich kennen, er würde wissen, dass ich nicht locker lasse, bevor das geschehen ist, also würde er vielleicht sagen: „Ich muss stehenbleiben, wenn ihr mich ruft.“ Und was noch? „Mich umdrehen und auf euch warten.“

„Genauso ist es, mein lieber Sohn. Geredet wird viel, wenn der Tag lang ist. Jetzt gehen wir noch einmal runter auf den Hof und üben das gleich einmal. Ich weiß, es ist schon spät, aber das muss jetzt sein.“ Unten auf dem Hof lassen wir ihn fahren und trainieren das gewünschte Verhalten. Mal bereits kurz nach dem Losfahren, mal später, rufen seine Mutter oder ich: „Ben!“ und siehe da, es funktioniert.

Und wir führen ihm das gewünschte Verhalten auch in der Eltern-Beziehung vor: Die Mutter läuft, ich rufe „Julia“, sie bleibt stehen und sieht mich an. Umgedreht macht sie es so auch mit mir und auch der Kleine darf uns „kommandieren“: Ich laufe über den Rasen, er ruft „Papa“, ich bleibe stehen und sehe ihn an. Wenn das Oma und Opa und die Erzieherinnen im Kindergarten auch so machen, immer wieder, monatelang, „überschreibt“ Ben seinen angezüchteten „Autismus“ auf seiner „Hirn-Festplatte“ und wird langsam beziehungsfähig.

Er darf dann endlich lernen, sich nach anderen, seinen wichtigsten Mitmenschen, seinen Eltern, zu richten. Er muss nicht „autistisch“ in sich gefangen bleiben im Geflecht eigener Wünsche und Triebimpulse. Er darf sozusagen aus ihm „herausgucken“ und sich nach dem richten lernen, was die äußere Welt verlangt. Das ist schon allein deswegen Voraussetzung für das Fortbestehen seiner inneren, weil ein überfahrenes Kind leicht gar keine mehr hat, weder eine innere noch eine äußere.

1 Es handelt sich bei diesen Gefährten im Übrigen um eine Supererfindung. Schon Zweijährige können gut damit umgehen. Ich bedaure als Vater dreier Söhne, die in den 70-er und 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts geboren wurden, dass sie damals noch nicht bekannt waren.

Vor kurzem habe ich etwas ganz Ähnliches erlebt: „Bahn frei! Kartoffelbrei! … Ein vielleicht achtjähriger Junge kommt mir mit seinem Fahrrad auf dem Bürgersteig entgegen. … Er hat an seinem Lenker eine Hupe. Mit großem Stolz drückt er sie immer wieder, sozusagen schon vorsichtshalber wie die Feuerwehr, die ihre Signalhörner bereits ein Stück vor der Kreuzung einschaltet. Die Botschaft, die dieses Hupen, seine Körperhaltung und seine Mimik ausmachen, ist ganz eindeutig und passt gut zur Feuerwehr: ‚Platz da!! Jetzt komme ich!! Ich bin ein Kind und deswegen habe ich Vorfahrt!’“

2 Werke, Bd. 1, S. 706f.

3 Sie denken zum Beispiel auch, wenn sich ihre Eltern trennen, dass sie daran Schuld wären, weshalb Trennungen in diesem Alter psychisch besonders verheerend sind und in der Seele der Kleinen leicht dauernden Schaden anrichten können.

2 Kommentare zu “Was tun bei „Autismus“ (2)”

  1. Verena sagt:

    Lieber Karl, mein fünfjähriger Neffe könnte die Vorlage für deinen Ben gewesen sein.
    Ich bin so froh, dass du dieses Thema nicht nur theoretisch aufgegriffen hast, sondern auch noch mit praktischen Beispielen und Vorschlägen unterlegst. Ich kann sie alle gut gebrauchen, denn ich habe an einem Tag der Woche die Betreuung des Jungen übernommen und möchte es besser machen als seine Eltern. Damit möchte ich ihnen und dem Kind helfen, es ist das Sorgenkind unserer Familie.
    Mit Bangen denke ich schon jetzt an das bevorstehende Weihnachtsessen bei unseren Eltern, wenn er sich an keine Regel hält und Wutanfälle bekommt, sobald ihm ein Wunsch verwehrt oder ein Verbot ausgesprochen wird. Dadurch steht er im Mittelpunkt, die Atmosphäre ist angespannt und wenig feierlich.
    Ich denke, er wurde von seinen Eltern von Anfang an verwöhnt und kaum erzogen, er war nach zwei Fehlgeburten meiner Schwester ein absolutes Geschenk für die Eltern.
    Als ich meine Schwester schon vor Jahren auf einige Entwicklungsrückstände hinwies, begründete sie es damit, dass bei Jungen alles etwas verzögert verläuft. Ich selbst habe zwei fast erwachsene Töchter und habe derartige Verhaltensweisen bei ihnen nie kennengelernt.
    Wenn mein Neffe bei uns ist, auch übernachtet, haben wir kaum Probleme mit ihm. Er weiß, was er darf und was nicht, muss sich, wie die Mädchen, an die Ordnung der Familie halten.
    Die Kita hat meiner Schwester empfohlen, den Jungen wegen seines Verhaltens untersuchen zu lassen, es könnte sich um eine Art von Autismus handeln.
    Ich sehe das anders, da ich weiß, dass er seit seiner Geburt nie eine konsequente Erziehung kennengelernt hat.
    Gibt es nicht eine Art von „Elternschule“, die den Eltern hilft, die Führungsrolle bei ihrem Kind zu übernehmen? Verena

    1. Karl sagt:

      Ich fürchte, liebe Verena, eine Elternschule wird nicht weiterhelfen, denn eine solche Schule kann nur so gut sein, wie es ihr der Geist der Zeit erlaubt. Und der „sagt“: Du musst dein Kind „auf Augenhöhe“ erziehen. Du darfst von ihm nicht verlangen, etwas zu tun, was es nicht vorher eingesehen hat.

      So sind Eltern und Lehrer in eine Diskussionskultur geraten, die sich ewig im Kreis dreht. Früher, als die Eltern in der Regel noch mehrere Kinder hatten, ging das praktisch gar nicht. Da musste ein mütterliches oder väterliches Machtwort her: Schluss mit der Diskussion! Du machst das jetzt! – Warum? – Weil ich es sage!

      So zu argumentieren, würde heute in den meisten Elternschulen für falsch gehalten werden. Als wenn die Kinder nicht das Recht auf einen starken Lebenspartner hätten, der sie führt, so lange sie minderjährig sind, der „vorn“ sitzt wie ein starker Motorradfahrer und an dem sie sich festhalten können wie ein vertrauensvoller Sozius, nämlich dann, wenn die Geschwindigkeit steigt oder es sogar in die Kurve geht.

      Von wegen „gleiche Augenhöhe“. Ein Kind muss vertrauensvoll zu seinen Eltern aufsehen können, wenn es sich in einer schwierigen Lebenssituation befindet. Es hat ein Recht auf diesen Halt, der Lebensvertrauen stiftet, der Mut für Situationen gibt, wenn das Kind „vom Motorrad abgestiegen“ ist und sich selbst frei bewegen will.

      Wer kennt das nicht: Ein kreisendes Hin-und-Her-Geworfensein, ein unentschiedenes Schwanken, das sogar noch Erwachsenen zu schaffen macht. Kinder müssen sich in solchen Situationen auf einen fremden Willen verlassen können, dem ihrer vertrauten Eltern. Diese und auch Lehrer müssen der „Boss“ „ihrer“ Kinder sein können und wollen, wenn es darauf ankommt.

      Ein solches Denken ist nicht mehr angesagt. Die „Westdemokraten“ fühlen sich auch auf diesem Gebiet dem Rest der Welt weit überlegen, und von Jahr zu Jahr fallen ihre Kinder in internationalen Leistungsvergleichen weiter zurück. Führend sind die asiatischen Gesellschaften, auch die „demokratischen“ wie Japan, Südkorea und Singapur, in denen noch das Primat der Gemeinschaft über das Individuum gilt und in dem deswegen die Eltern und Lehrer als Vertreter der familiären und gesellschaftlichen Gemeinschaften das Sagen haben.

      Das ist die entscheidende Frage: Was liegt in der „Luft einer Zeit“? Entweder: Der Einzelne, der sich sträubt, hat immer recht. Oder: Du musst auch das machen, was du nicht einsiehst, wenn es deine Eltern oder Lehrer immer noch verlangen, obwohl du protestiert hast (was unbedingt erlaubt sein soll). Sie entscheiden, wann Zeit ist, deine Gegenargumente zu erörtern und nicht du!

      Die praktisch entscheidende Frage ist nicht: Führung oder Begleitung als Wesen der Erziehung, sondern wie werden Erziehende zum freundlichen, liebevollen Boss „ihrer“ Kinder, stabil in sich ruhend, mit einem intuitiven Gefühl für den richtigen Zeitpunkt, ein Machtwort zu sprechen, oder etwas noch laufen zu lassen. Beides kann richtig sein.

      Darüber ist sich die deutsche Gesellschaft nicht einig, deswegen werden auch Elternkurse nicht helfen, es sei denn, Erziehende suchen sich mit ihrem intuitiven Bauchgefühl einen, der nicht der westlichen Arroganz von „Demokratie und Partizipation über alles“ entspricht. (Außer natürlich, es handelt sich um nach „rechts“ abweichende Auffassungen, und die entsprechen heute bereits allem, was noch vor 20 Jahren in der Mitte der CDU vertreten wurde.)

      Unter der Ägide dieses Denkens werden Störungen der psychischen Entwicklung wie Autismus, deren einer Ursachen-Strang durchaus in genetisch bedingten neuronalen Besonderheiten, zum Teil extremer Art, liegen kann, aufgebauscht und „vergeheimnisvollisiert“, psychologisiert und medizinisiert. (Der andere Strang ist die sich immer mehr individualisierende und fragmentierende „westliche“ Lebensweise: Jede Zeit gebiert ihre Krankheiten bzw. Entwicklungsstörungen. Die heutige: Diabetis, Autismus und ADHS.) Die entsprechenden Experten erliegen zum Teil der Versuchung, sich als Träger eines geheimen Wissens zu fühlen, von dem sie den gläubigen Stammesangehörigen abgeben wie „damals“ der Medizinmann, der sich so ebenso Bedeutung verschaffte.

      Dabei ist doch zweitrangig, ob etwas mehr genetisch oder mehr sozial verursacht ist – es wird in den meisten Fällen eine Mischung sein – , wichtig ist doch nur: Was machen wir nun, wie helfen wir einem solchen Menschen? Und das Hirn der Kinder ist doch so plastisch, ein reines Wunderwerk, wie ich schon im 1. Beitrag zum Thema „Zeitzeichen Autismus“ schrieb („Die Grundfrage der Erziehung“), dass es immer Grund zum Optimismus gibt, wenn sich die Erziehenden nur entschlossen und aufeinander abgestimmt dem Problem stellen und Halt geben, weniger mit persönlichem Gerede als mit Strukturen, Umgangsformen und Ritualen. Darauf muss doch der Fokus liegen und nicht auf den Besonderheiten autistischer Wahrnehmung. Die kann und soll man kennen, aber nicht um bei ihnen stehen zu bleiben, sondern um dann das zu machen, was trotzdem geht.

      Und genau darum wird es in dieser Rubrik weiter gehen.

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