Eigentlich müsste und würde dieser Brief Arvid gelten, meinem ältesten Enkelsohn, mit dem ich genauso nah verbunden war wie mit Hans. Aber die Beziehung ist unterbrochen seit einem Jahr.
Ich bin es leid, über diese Missverständnisse zu schreiben. Mir gehen sie als familienorientiertem Menschen besonders an die Nieren. Aber es ist, wie es ist; ich kann es nicht ändern.
So rückt Moritz vor, der 3. Enkelsohn im Bunde. Der Zufall wollte es, dass er der Enkel ist, mit dem ich am meisten, nämlich täglich zu tun habe.
Die Überschrift für den Brief an ihn könnte auch lauten: JEDES KIND HAT EIN RECHT AUF LIEBEVOLLE KORREKTUR, AUCH EIN AUTISTISCHES.
Mein lieber Moritz, Du wohnst mit Deinen Eltern auf dem Grundstück Deiner Großmutter, deren Lebensgefährte ich bin. Du bist fast so alt wie Hans, gehst aber erst in die 2. Klasse bzw. kommst im neuen Schuljahr in die 3. Allerdings hast Du am Tag nur zwei Stunden Unterricht, höchstens mal drei.
Du liegst in Deiner Persönlichkeitsentwicklung vier, fünf Jahre zurück. Bei Dir wurde eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert und Du hast deswegen einen Schwerbehindertenausweis erhalten.
Die Eltern lieben Dich, ihren Sohn, und sind sehr um Dich bemüht. Sie haben gedacht – und das ist das Tragische -, dass sie wegen dieser psychischen Entwicklungsverzögerung von Dir keine Anpassung an ihre Vorstellungen, wie Du Dich verhalten sollst, erwarten können, keinen „Gehorsam“, um dieses schreckliche, veraltete Wort auch noch zu gebrauchen. Er ist ja sowieso in unserer Zeit ganz außer Mode gekommen.
Die Eltern verlangen ihn aus doppelten Gründen nicht von Dir: 1. Er ist nicht mehr „in“, heutige Kinder sind nicht gehorsam, sondern selbstbewusst. Ein basaler „Gehorsam“, der Stereotype des sozialen Verhaltens betrifft wie zum Beispiel das Sitzenbleiben am Tisch, und Selbstbewusstsein schließen sich aber natürlich nicht aus.
Eine gute Stimmung, weil alle zufrieden miteinander sind – die Eltern, da sie sich gegenüber ihrem Kind durchsetzen können, das Kind, weil es seinen Eltern Freude macht, indem es sich an einfache Regeln hält – ist eine wichtige Vorraussetzung für die Ausbildung einer positiven Lebenseinstellung und die wiederum ist der Humus, aus dem Selbstbewusstsein wächst.
Ich bin glücklich. Jetzt funktioniert, was ich als Wunschtraum beschrieben hatte (dort im letzten Teil).
Ich kann es immer noch nicht fassen. Die Not trieb die Eltern dazu, uns, die Großmutter und mich, an der Erziehung ihres Jungen zu beteiligen, obwohl sie erstens wegen seiner Autismus-Spektrum-Störung angeblich gar nicht möglich sei (er sei nun einmal so – bis an sein Lebensende) und sie zweitens andere Familienmltglieder davor gewarnt hatten (lasst Euch das nicht aus der Hand nehmen, die Großeltern wollen nur einen Fuß in Eure Kernfamilie kriegen; Euer Sohn ist allein Eure Angelegenheit).
Moritzens Schulbegleitung fiel bald nach den Winterferien aus; die Eltern verzweifelten daran, es ihrem Jungen nun den ganzen Tag recht machen zu müssen. Das ist eine Kunst, die niemand kann, nicht einmal Eltern, die in ihr eigenes Kind „verknallt“ sind und es deswegen wie einen König behandeln.
Ich bot mich als ehemaliger Lehrer an, die Schulbegleiterin zu vertreten, so lange das nötig ist. Es war die ganze zweite Hälfte des letzten Schuljahres nötig. Moritz setzte zunächst sein altes Verhalten fort, er wischte zum Beispiel seine Schulmaterialien und die seiner Klassenkameraden vom Tisch, warf sogar ganze Tische um, was schlimm hätte ausgehen können, wenn sie jemand auf den Fuß gefallen wären. Und er schubste plötzlich Kinder um nach der Devise „Platz da! Jetzt komme ich, der König!“
Bis dahin galt für Moritz die pädagogische Devise „Der Junge kann nichts dafür, er ist eben Autist“. Also wurde das achselzuckend hingenommen, ohne ein „Gewese“ darum zu machen. Menschen, Kinder erst recht, wollen aber eine Wirkung mit ihrem Verhalten erreichen. Erfolgt sie nicht, legen sie mit ihrem auffälligen Handeln noch einen Zahn zu.
Ich habe mit Max jedes Mal nach solch einer Aktion den Klassenraum verlassen, habe ihn in der Garderobe fest gedrückt und ihm gesagt „Du – darfst – das – nicht – machen -!!“ Danach ließ ich ihn eine Weile stehen, bis er bereit war, mir, je nachdem, was passiert war, einen oder zwei der folgenden Sätze nachzusprechen:
- Ich wische nichts von den Tischen.
- Ich schmeiße keine Tische um.
- Ich schubse keine Kinder um.
Selbst formulieren kann er sie nicht, dazu reichen seine sprachlichen Fähigkeiten noch nicht aus. Ich fragte ihn eindringlich: „Hast du das verstanden?“ Er antwortete immer mit einem deutlichen „Ja!“, woraufhin ich ihn nochmals fragte: „Was machst du nicht mehr?“, und er antwortete mit meiner Hilfe.
Was machst du anstattdessen, wenn du wütend wirst. Keine Antwort von ihm, aber eine Vorgabe von mir: Du sagst es mir mit Worten: „Ich bin wütend, ich möchte (bitte) eine Pause!“ und nicht mehr mit einem dummen Handeln.
Dann gehen wir genauso raus wie jetzt, aber ich kann dich loben. Er hält dann immer seine Hand hin und möchte, dass ich – oder eine andere Bezugsperson – sie abklatsche. Worte allein reichen also auch jetzt nicht, aber es sind keine destruktiven Handlungen (runter- und umschmeißen), sondern konstruktiv freundliche. Und ganz wichtig: Am Ende drücke ich ihn noch einmal, liebevoll und fest wie am Anfang.
Das ist so wichtig: Kinder brauchen eine Reaktion auf ihr Handeln, zuerst natürlich eine positive Bestärkung, aber wenn es nötig ist, auch eine eindringliche Ermahnung. Sie ist für das Kind das zweitschönste, am schlimmsten ist Ignoranz, gar keine Reaktion. Dazu gehört auch, dass er immer alles aufheben muss, was er heruntergeworfen hat (in den meisten Fällen erst, nachdem wir aus der Garderobe in den Klassenraum zurückgekehrt waren), zum Beispiel auch die Mensch-ärgere-nicht-Figuren, die er zu Hause wutentbrannt beim Spielen vom Tisch gewischt hat.
(Übrigens gar nicht, weil er rausgeworfen wurde, sondern weil irgendetwas passierte, was wir vorher so noch nicht gemacht hatten, mit dem er also nicht rechnete, dass zum Beispiel, nachdem eine Figur „zu Hause“ war, er mit einer zweiten neu anfangen musste.)
Er hat immer bereitwillig das Heruntergeworfene aufgehoben, bis zur letzten kleinen Figur, die unter das Sofa gerollt war. Wir hatten ihn allerdings auch nicht nach seinem Wutanfall darum gebeten, sondern ihn energisch dazu aufgefordert.
Als einmal sein Vater dabei war, staunte er, dass Moritz ja jetzt aufhebt, was er heruntergeworfen hat. Für den Vater kam das geheimnisvoll aus dem Inneren seines Sohnes. Dass wir es vorher seinem Sohn konsequent antrainiert haben, auf diese Idee kam er nicht.
In kurzer Zeit hatten wir, meine Lebensgefährtin, die Oma, und ich, so wie ich es im unteren Teil des oben verlinkten Beitrages /1/ optimistisch gehofft hatte, große Erfolge erreicht: Moritz lernte, uns anzusehen, wenn wir ihn bei seinem Namen riefen, wobei es uns darauf ankam, dass er auch schon auf Rufe in normaler Lautstärke reagierte.
Moritz hat gelernt, dass er nicht andauernd aufsteht, wenn er bei uns zum Essen am Tisch sitzt. Er fragt erst: „Darf ich aufstehen?“ Inzwischen verkraftet er auch die Frustration, wenn einer von uns beiden sagt: „Noch nicht. Schau auf die Uhr, in fünf Minuten“. Wir stellen nie die Bedingung, dass er erst etwas gegessen haben muss. Wenn er dann aber mit Erlaubnis aufstehen will, sagen wir ihm: „Denke dran, nach dem Aufstehen ist das Essen zu Ende“, es sei denn, er musste nur einmal kurz auf die Toilette.
Aber auch das regeln wir konsequent: „Wenn du auf der Toilette warst, darfst du erst in einer halben Stunde wieder gehen“, denn er versucht, das als Trick einzusetzen und alle 10 Minuten auf die Toilette zu verschwinden. Das ist auch eine gute Übung für die Uhr, die groß an der Wand hängt.
Generell gilt, wir lieben das Leben und unseren Enkel; wir sind alles andere als verbittert, deswegen gehören (seltene) Ausnahmen zur Regel und dann kann es sein, dass er doch schon mal wieder auf die Toilette darf, bevor eine halbe Stunde vergangen ist.
Das Beides – das Fragen „Darf ich aufstehen?“ und das mindestens eine halbe Stunde zwischen den Toilettengängen Warten-Können – ist auch eine ganz wichtige Übung für die Schule. Wie soll ein Kind dort im Unterricht sitzen bleiben können, wenn es zu Hause beim Essen nach Lust und Laune aufsteht?
Die Klassenleiterin von Moritz hat mir gesagt, dass sie „beeindruckt“ ist, weil sich das Verhalten von Moritz so radikal verbessert hat, seitdem ich ihn begleite. Sie hätte das bei einem „Autisten“ nie für möglich gehalten.
Inzwischen waren wir als Großeltern mit Moritz in einem dreitägen Kurzurlaub – ohne seine Eltern. (Das war mir bisher mit keinem meiner leiblichen Enkel vergönnt – und wir haben für die Herbstferien schon eine Wiederholung gebucht.) Es hat alles – Sie ahnen es – perfekt funktioniert.
Die Eltern nehmen normalerweise gar kein Hotelzimmer mit ihrem Kind, sondern ein „Appartement“, wo sie mehr für sich sein können und zum Beispiel auch getrennt von den anderen Hotelgästen essen können. Bei uns war das kein Problem.
Nur am letzten Tag, als die Eltern ihren Sohn abholten und er eine Nacht in ihrem Appartement übernachtete, begannen die alten Probleme wieder, nicht, weil wir so viel besser als die Eltern erziehen können, sondern weil Moritz als tatsächlicher Autist mit neuen Situationen nur schwer klarkommt.
Die Eltern wollen jetzt auch konsequenter sein, aber es ist auch ganz schwer, von einer dem Kind folgenden Beziehung zu einer das Kind führenden Erziehung umzuschalten, selbst dann, wenn diese Führung liebevoll und geduldig ist.
Und das braucht er, unser Moritz, eine liebevolle Führung. Dann gibt er viel Liebe zurück, die auch uns ungemein stärkt, denn was gibt es Schöneres als eine vertraute, gelungene Beziehung zwischen Großeltern und Enkel? Wenig!
Fußnote
/1/ Die „Zirkusübung“, die ich im verlinkten Text beschreibe, hat sich als gar nicht nötig erwiesen: Ich gehe mit Moritz nach der Schule und dem Einkaufen immer auf einen Spielplatz. Dort machen wir – unter anderem – auf kleinen nebeneinander eingeschlagenen Betonpfählen Balancierübungen. Wenn diese Rundteile zu tief sitzen, so dass sie kaum noch aus dem Boden herausragen, sollte er sich immer umdrehen, ohne den Boden zu berühren, versteht sich. Weil es ihm manchmal nicht klar war, an welcher Stelle das beginnt, hatte ich mir angewöhnt, „Stopp!“ zu sagen, wenn er dort angelangt war. Das ist das Gleiche wie beim Zirkusspiel: Er muss sich aufmerksam auf mich ausrichten, aus seinem autistischen Selbst eine Beziehung zu mir aufnehmen. Manchmal sage ich auch schon vor der Umkehrstelle „Stopp!“ und dann „Weiter!“ und am Ende noch dazu „Dreh‘ dich um, aber ohne herunterzufallen“. Das sind alles Übungen, seine Beziehungen zu den Mitmenschen zu stärken und ihm zu helfen, auf sie zu hören, wenn er ihnen vertrauen kann. Das erklären wir ihm auch: Es kann auch ein fremder Mensch zu dir „Moritz“ sagen und du sollst ihn daraufhin ansehen. Aber du sollst nun nicht alles Weitere machen, was dieser Fremde von dir verlangt. Wenn deine Eltern, Lehrer oder wir in der Nähe sind, frage erst uns. Wenn keiner von uns da ist, folge diesem Unbekannten lieber nicht. Das ist diffizil; das lässt sich nur im Alltag über eine lange Zeit üben.