Mein lieber Hans, Du bist mein einziger Enkel, dem ich einen Brief schreiben möchte, der Dich möglicherweise über meinen Tod hinaus begleitet. Zu den anderen habe ich leider keine so enge, keine so vertraute und gewachsene Beziehung wie zu Dir.
Das liegt daran, dass ich „schwierig“ bin und zu zweien meiner drei Söhne nur eine stark gestörte, wenn nicht sogar bald eine abgebrochene Beziehung habe. Zu Deinem Vater ist sie besser aber auch nicht richtig gut. Du kennst die Gründe.
Du sagst: „Entschuldige Dich doch! Ich würde es jedenfalls tun.“ Vielleicht hast Du recht, vielleicht bist Du mit Deinen 10 Jahren lebensklüger als ich. Aber ich kann Dir nur das raten, was mir entspricht, und ich denke, das Wichtigste im Leben ist, sich treu zu bleiben. Und ich bin sehr eigen, in vielerlei Hinsicht. Du bist es auch und dabei trotzdem offen und das wahrscheinlich besser, als ich es sein kann.
Das bewundere ich an Dir, dass Du so gut Freundschaften schließen kannst. Du bist beliebt in Deiner Klasse und in Deinem Ort. Wenn wir zusammen durch ihn gehen, grüßen Dich immer wieder andere Kinder zuerst. Das ist sehr gut, diesen Stand hatte ich in Deinem Alter nicht.
Die modernen Menschen in Deutschland würden sagen: „…dieses ‚Standing'“. Sie latschen den breiten Weg des Angesagten der Lemminge, der geradewegs, wie die Bibel sagt, in die Hölle führt.
Im Matthäus-Evangelium heißt es: „Geht durch das enge Tor! Denn das [übliche] Tor [, das die große Mehrheit benutzt,] ist weit, und der Weg ist breit, der ins Verderben führt, und viele sind es, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist das Tor und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wie wenige sind es, die ihn finden.“
Du machst Dich zwar öfter über meine „Deutschtümelei“ lustig und sagst: „Das sagt man eben heute so“, aber dann fragst Du Dich auch ehrlich empört, genauso wie ich, wo wir denn hier leben, doch nicht etwa in einem englischsprachigen Land, wenn das Deutsche so durchgehend, schon in jeder Kaufhalle – pardon: jedem Supermarkt – missachtet und geringgeschätzt wird.
Das gefällt mir, diese „zwei Seelen in einer Brust“. So ist das Leben in der Tat: Wir müssen Dinge tun und aushalten, die sich widersprechen. Ich finde es gut, dass das einzige wichtige Hauptfach auf Deinem Zeugnis, in dem Du eine Eins hast, Englisch ist. Du hast ein Sprachgefühl, sowohl für das Deutsche als auch für andere Sprachen wie Englisch. Das ist schön, denn wir lernen am besten das, was irgendwie zu uns passt und uns deswegen leicht fällt. Englisch muss man heute in der Tat können, wenn man Erfolg in vielen Berufen haben will.
Aber ist das ein Grund, die eigene (Groß)Mutter- und (Groß)Vatersprache geringzuschätzen? Vor allem dann, wenn es eine Ex-Weltsprache ist, in der viele wichtige Gedanken der Wissenschaften, einschließlich der Philosophie, zum ersten Mal ausgedrückt wurden? Einsteins Relativitätstheorie zum Beispiel wurde zum ersten Mal auf Deutsch formuliert und bedeutende Teile der klassischen Philosophie und Psychologie – ich denke nur an Freuds Psychoanalyse – und auch der modernen Philosophie.
Die Theologie Martin Luthers möchte ich ebenfalls in diesem Zusammenhang erwähnen und noch im Nachhinein darüber staunen, dass überzeugte deutsche Christen seine und ihre Sprache verleugnet haben, als sie in Frankreich christliche Lieder sangen. („Ehe der Hahn dreimal kräht, wirst du mich verleugnet haben.“) Sie hatten das eigene Deutsche nicht etwa vermieden zugunsten der Landessprache Französisch, was ich noch zum Teil hätte verstehen können, nein: zugunsten von Englisch.
Ebenso Vieles, das in kleineren Sprachen zum ersten Mal seinen Ausdruck gefunden hatte, wurde dann zuerst im Deutschen einer größeren Weltöffentlichkeit zugänglich.
In der DDR war es mir gelungen, die „Budapester Rundschau“, ein deutschsprachiges Wochenblatt aus Ungarn, zu abonnieren. Mehrere Male habe ich darin gelesen, wie froh Ungarn waren, ihre Texte in die „Weltsprache Deutsch“ überführt haben zu können.
„Liebling, ich habe die Kinder geschrumpft!“,
heißt ein lustiger Film, den ich vor Jahren auf Plakaten angekündigt sah. Unsere politische Klasse, die in Deutschland das Sagen hat, allesamt „weltoffene Demokraten“, haben die eigene Sprache geschrumpft, bewusst und absichtlich; sie wollten sich unbedingt andienen bei denen, die jetzt „groß und wichtig“ sind in der Welt, insbesondere bei den Englischsprachigen.
Ich wünsche Dir, dass Du so kritisch gegenüber dem Etablierten und Angesagten sein kannst, wie ich es immer war, sowohl in der DDR als auch im neuen, territorial ebenso wie sprachlich geschrumpften Deutschland. Ich fand die alte DDR-Führung genauso inkompetent, wie mir die heutige politische Führung in Deutschland vorkommt.
Allgemeiner und philosophischer gesagt, wünsche ich Dir, dass Dir die Lebenskunst, treu und offen zugleich zu sein, dauerhaft gelingt, und Du Dich darin vielleicht sogar noch steigern kannst. Bei sich zu bleiben und zugleich immer wieder neu in die Beziehung zu anderen Menschen zu gehen, das gehört in Wirklichkeit zusammen. Ein wichtiger Hinter- und Zusatzgedanke ist dabei noch: Immer wieder neu in die Beziehung zu anderen zu gehen, gilt auch und zuerst für Beziehungen, die schon existieren.
Etwas Altes neu und besser zu machen, ist wichtiger, als ein mangelhaftes Altes einfach durch ein Neues auszutauschen. Wenn Du mit mir Probleme hättest, würde ich mir wünschen, dass wir beide daran arbeiten und Du Dir nicht einfach einen neuen „Großvater“ suchst bzw. ich mir einen neuen „Enkel“. Das scheint mir ein Problem unserer Zeit zu sein, dass Liebesbeziehungen einfach zu schnell abgebrochen und ausgewechselt werden.
Mehrere Deiner Klassenkameraden, sogar Deiner Freunde, machen so etwas durch: Die Eltern haben sich getrennt, in der einen Woche sind sie bei der Mutter, in der anderen beim Vater. Das kann einen sensiblen Jungen wie Dich schon verunsichern.
Ich habe Dir gesagt: Zur Not und wenn es denn unbedingt sein muss, kann ich auch ganz allein leben. Das Wichtigste ist der Frieden, den wir mit uns selbst schließen. Damit wir das aber auf die Dauer können, brauchen wir andere Menschen.
Du bist total auf Deine Eltern orientiert. Ich glaube, ich hätte meine kindliche Liebe, wenn ich denn einen Großvater gehabt hätte – und eine liebe Oma, die für mich präsenter gewesen wäre als meine damalige – , sozusagen breiter verteilen können und wollen auf eine Gruppe mehrerer vertrauter Bezugspersonen über die Eltern hinaus. Ich hatte neben dem Großvater, der sich 1945 das Leben genommen hatte, sogar noch einen lieben, Emil, aber er war weit weg und starb, als ich noch im Grundschulalter war.
Zu dieser Gruppe elterlicher Personen können durchaus auch andere Omas und Opas gehören, sogar Katrin, mit der ich inzwischen von meiner Seite aus meinen Frieden gemacht habe.
Eine solche erweiterte Elternschaft – auch über mehrere Generationen – hätte den Vorteil, nicht so abhängig von einzelnen Personen zu sein, immer noch Stellvertreter für die Geborgenheit zu haben, Reserve-Zuhause sozusagen. Irgendetwas bedrückt auch Dich, obwohl Du bei Deinen Mitschülern so angesehen bist und eine so enge Beziehung zu Deinen Eltern hast: Du knaupelst an den Fingernägeln; ich spüre eine Spannung in Dir.
Das Leben ist von Haus aus mit Spannungen und Widersprüchen, zum Teil auch unlösbaren wie der Zwangsläufigkeit des Todes, beladen; wir brauchen mehrere Menschen, unterschiedliche Menschen, mit ihnen fertig zu werden. Da wünsche ich Dir mehr Vertrauen, die enge Beziehung, die Du zu Deinen Eltern hast, vielleicht besonders zu Deinem Vater, zu weiten und zu öffnen für andere Bezugspersonen aus der Familie oder dem Freundeskreis.
Weißt Du, was ein Traum von mir ist? Mit Dir einmal, vielleicht wenn Du 16 geworden bist, den ganzen Faust, zumindest Teil 1, durchzugehen. Da steckt „Musik drin“, eine spezielle, schöne Melodie der Sprache und des Geistes. Ich würde dazu öfter einmal an einem richtig guten Rotwein nippen und sogar, ich gebe es zu, Dich, wenn Du es willst, noch nippender kosten lassen. (Bei Dir würde ja auch viel weniger Alkohol reichen, Deinen Geist weicher zu machen, ihn zu öffnen und zu weiten als bei mir.)
Es kommt bei allem, was wir tun, immer auf das Maß an. Manchmal müssen wir aber auch alles auf eine Karte setzen, „volle Pulle“ sozusagen, zum Beispiel wenn Du in einer Katastrophensituation Menschen helfen willst, die sich in Lebensgefahr befinden. Da hilft kein kleines Maß – und doch ist dieser Satz auch schon wieder falsch. Alles ist zugleich falsch und richtig, es kommt nur darauf an, was in einer bestimmten Situation mehr richtig als falsch ist und umgedreht. Für Menschen in Lebensgefahr muss man was riskieren und aufs Ganze gehen. Richtig? Ja, mehr richtig als falsch.
Und trotzdem solltest Du – zum Beispiel – nicht versuchen, einen Menschen aus dem tiefen Wasser zu retten, der schwerer ist als Du selbst. Voller Einsatz heißt in dem Fall, Hilfe zu holen und sei es, einen langen Ast, den zwei Helfer zugleich anfassen.
Versprich mir bitte, wenn wir den Faust nicht mehr zusammen schaffen sollten, dass Du ihn dann selbst einmal lesen wirst. Vielleicht findest Du ein Buchexemplar von mir, in das ich Gedanken zu Wörtern und Textstellen geschrieben habe. (Ich werde es Dir schenken.)
Das ist eine schöne Vorstellung für mich. Ich habe es jedenfalls sehr bedauert, dass in einem Faust-Reclam-Heft meines Großvaters nichts anderes von ihm stand als auf der ersten Rückseite sein von ihm eingetragener Name.
Gute Idee, den Enkeln einen Brief zu hinterlassen!
Ich denke, nach uns werden sie sich irgendwann für uns interessieren, können uns aber keine Fragen mehr stellen. Ich werde diese Idee aufgreifen, und sobald mir die Tagessgeschäfte die Zeit dafür lassen, werde ich an alle meine vier Enkel schreiben.
Vielleicht im kommenden Winter? Jenseits der 80 kann man immer noch hoffen, aber unverhofft kommt oft, deshalb möglichst nichts auf die lange Bank schieben…
Heute sind mir nach dem Lesen spontan einige Dinge in den Sinn gekommen:
Anabell
geboren in der großen Stadt
Studentenkind Krippenkind erstes Enkelkind
aufgewachsen in der kleinen Stadt
im Gartenhaus ganz nah bei Oma und Opa
die erste Schritte die ersten Worte
Höhlen bauen Rollenspiele
abends Geschichten und Märchen
spielend lernen Buchstaben Zahlen
bald schon erstes Lesen Schreiben
Rechnen und Malen
Fahrradfahren Schwimmen
im Winter Rodeln und Ski
fünf Jahre wenig
Scheidungskind
auch von uns geschieden
das hat uns weh getan
am Telefon die vielen Fragen
Urlaubswochen an der See
wohnt bei Mama und Familie
Besuche werden seltener
behält den Namen vom Papa
trägt ihn als Tätowierung
dort wo der Puls schlägt
trägt sie unseren Namen
nun ist sie erwachsen
erfolgreich ohne Zeit für uns
der Abstand wird größer
Besuche nur selten kein Anruf
Beziehung am seidenen Fädchen
ich halte es fest
lasse niemals los bis zuletzt
sie gehört doch zu mir
und dann
bekommt sie von mir
auch noch einen Brief