Der Großvater (2) und ein Hochverrat, der nach den Maßstäben der Bibel für sieben Generationen reicht – eigentlich

Mein Großvater hatte sich, wie gesagt, im August 1945 das Leben genommen. Er war NSDAP- und Ehrenmitglied der Waffen-SS. Er hatte auf das falsche Pferd gesetzt, auf das total falsche. Trotzdem fühle ich mich mit ihm verbunden; ich hatte in meinem Leben nämlich auch so einen Hang, mich für eine falsche Sache zu engagieren und dann richtig. 

Ist das Hochverrat an der eigenen Familie, an einem schönen Augusttag einen Handwagen zu nehmen, der damals etwas besonders Wichtiges und Wertvolles war, und eine Wäscheleine und dann durch die Innenstand nach Brandenburg-Nord zu ziehen, um dort auf einen vertrauten Weg einzubiegen, berandet von schönen Laubbäumen verschiedenster Art, der in Richtung Beetzsee aus der Stadt hinausführt?

Jeder kann nur denken aus dem Kreis seiner eigenen Lebenserfahrungen heraus, wobei ich glaube, dass ganz grundsätzlich und „gedankenweit“ dazu auch die einschneidendsten der Vorfahren gehören, sofern sie danach Kinder gezeugt bzw. geboren haben. Leicht besteht die Gefahr, dass wir aus diesem persönlichem Kreis heraus ungerecht werden, aber ich frage mich schon Folgendes:

Wenn die Familie eines älteren Mannes, 59 Jahre alt, den 2. Weltkrieg überlebt hat, sowohl die Frau als auch die Kinder, wobei der Sohn ja bis zuletzt die Offizierslaufbahn in der Wehrmacht anstrebte und tatsächlich zum Ende des Krieges zum Leutnant befördert wurde, ohne dass ihn diese Urkunde noch erreichte, ist das nicht eher ein Grund zu Freude und Dankbarkeit?

Sogar das Haus mit der eigenen Wohnung stand noch, wenn sie auch durch Vertriebene aus den Ostgebieten besetzt worden war. Allerdings der geliebte Mann der Tochter war im Krieg umgekommen, ein mutiger Frontsoldat, der seinen Kameraden im Kampf immer vorangegangen war, und ihre Wohnung wurde durch Bombenangriffe beschädigt.

Aber hatte es andere Familien da nicht viel härter getroffen? Und dann ohne ein Wort zu verschwinden, kein Brief, nichts. Mit tut die arme Frau, meine Oma, heute noch deswegen leid. Was musste sie nicht alles schultern in Zeiten hoher Not? Die Tochter hatte kurz danach, im Dezember 1945 noch mit Hilfe eines sowjetischen Offiziers, der sie mit seinem Jeep ins Krankenhaus brachte, ein Kind geboren. Das musste nun miternährt und durchgebracht werden.

Mein Großvater wusste, dass sich dieses Kind, sein Enkel, im Bauch seiner Tochter entwickelte. Das und die anderen frohen Nachrichten vom Leben und Überleben hielten ihn nicht, er ließ seine Familie allein, die ja gerade in solchen Zeiten auf ein (männliches) „Oberhaupt“ angewiesen war. Entschuldige, lieber Opa, wenn Du das jetzt lesen können solltest: Ich, Dein Enkel, muss das schon für eine Art von Verrat halten – mit der Einschränkung von oben, dass ich wie jeder im Kreis meiner eigenen Gedanken und Erfahrungen gefangen bin.

Sicher, einige brandenburger Mitbürger drohten ihm, die noch eine Rechnung mit ihm offen hatten: Du wirst abgeholt, du kommst sowieso nach Sibirien. Gut möglich. Aber warum muss ein Mensch das Sterben, das ihm droht, freiwillig selbst vorverlagern? Warum bleibt er nicht, so lange es geht, bei denen, die ihn brauchen? Und ging damals nicht so viel durcheinander? War es nicht erstaunlich, wie sich alte Nazis bei den Besatzungstruppen beliebt machen konnten und wirkliche Widerstandskämpfer in Schwierigkeiten gerieten?

Vielleicht tendierte mein Großvater, damals nur wenige Jahre jünger als ich heute, auch zu dem, wie ich schon seit längerem ticke: Ich bin faul und bequem geworden, habe einen Widerwillen, mich zum Beispiel irgendwo anzustellen, um etwas zu bekommen. Es reicht mir für mein Leben, dass das in DDR-Zeiten öfter einmal nötig war und selbst damals war ich noch kurz vor Sechs in den Konsum-Fleischerladen gekommen und hatte tatsächlich irgendetwas immer noch bekommen.

Wollte er sich, der angesehene und gefürchtete Lehrer, nicht noch einmal von der „Pike auf“ hocharbeiten? Aber wenn’s ums (Über)Leben geht, ist dann das wirklich so schlimm? Oder neigte er dazu, beleidigt zu sein wie ich, beleidigt vom Leben: Gerade noch war ich „hoch auf dem Ross“, jetzt bin ich der Dumme, der Heruntergefallene, der Gescheiterte.

Aber warum hat er diese Gedanken dann nicht wenigstens mit seiner Frau und seinen erwachsenen Kindern geteilt? Er war ja philosophisch veranlagt wie ich, hielt für den Freimaurer-Bund Grabreden im Brandenburger Krematorium. Also hatte er über Leben und Tod sicher und durchaus viel nachgedacht.

Fragen halten ein Gedankensystem offen; sie sind wichtiger als Antworten, die das Denken, zumindest vorläufig, abschließen. Deswegen will ich das, was ich über den Freitod meines Großvaters denke, ob und inwieweit er etwas mit Verrat zu tun hat, hier so mit diesen Fragezeichen stehen lassen.

*

Bei einem Ereignis, das mit meinem eigenen Leben als Großvater zu tun hat und das miterklärt, warum meine heutige Familie zerrissen ist und die Beziehungen zu Zweien meiner drei Söhne und zu deren Kindern, meinen Enkeln, blockiert sind, bin ich mir sicher, dass es sich um Verrat handelt, sogar um Hochverrat, der wahrscheinlich erst nach sieben Generationen endgültig geheilt werden kann.

Ich kam von einer fünfwöchigen Dienstreise in den achtziger Jahren nach Hause. Meine Söhne waren damals 2, 3 und 5 Jahre alt. In Kiew, wo ich war, kam ich mir in meinem Internatszimmer oft vor wie eine Mutter mit einem Milchstau, so sehr sehnte ich mich danach, meinen Kindern Zärtlichkeit zu geben.

Als ich Zuhause in Leipzig ankam, an der Tür klingelte und wahrscheinlich wie ein Honigkuchenpferd aus großer Vorfreude heraus grinste, sagte meine damalige Frau, die Mutter meiner Kinder: „Du brauchst dich gar nicht so zu freuen. Ich habe dein Tagebuch gelesen. Ich lasse mich scheiden.“

Ich war wie vom Donner gerührt. Einen solchen Absturz von größter Vorfreude hin zu tiefster Verzweiflung gibt es im Leben bestimmt nur selten. Meine Art ist ja immer, zu retten zu versuchen, was noch zu retten ist. Bei ihr biss ich auf Granit. Ich weiß nicht, ob die Kinder schon im Bett waren. Wahrscheinlich waren sie das, und das war gut so, denn dieses Desaster war für mich als ausgewachsenen Mann schon nicht erträglich:

Ich nahm mir den Autoschlüssel und fuhr mit unserem Trabant-Kombi durch Leipzig. Durch meine Tränen konnte ich oft gar nicht genau erkennen, ob die Ampel wirklich grün war. Ich ging davon aus und hatte wenigstens diesbezüglich Glück.

Aber es kommt noch schlimmer: Meine damalige Frau hatte mein Tagebuch genommen und es im Kollegenkreis ihrer Schule herumgezeigt. Ich denke, dass es einige moralisch kultivierte Kollegen gab, die sich angewidert abgewendet hatten. Aber meine Ex war eine gute Schauspielerin, sie heuchelte eine Bestürzung, dass sie mit dem, was sie las, allein nicht fertig werden würde.

Dass das so sei, hatte sie mir selbst erzählt. In Wirklichkeit war sie eine durch und durch lebensgestählte (wenn nicht: abgebrühte) Person, auf jeden Fall in Bezug auf das, was im weiteren Sinne zur Sexualität gehörte.

Ich wollte mir durch Nachdenken Sicherheit im Leben verschaffen, wie ich schon in Teil 1 schrieb. Deswegen hatte ich in meinem Tagebuch ausführlich bizarre sexuelle Phantasien beschrieben, um Ihnen auf den Grund gehen zu können.

Sie hat einen Teil dieser Dinge später im wirklichen Leben mit der Tochter des Mannes praktisch getan, den sie nach mir geheiratet hatte – mit der Geburtsurkunde übrigens, die ich für sie bestellt hatte, weil ich unbedingt unsere alte Ehe im Interesse unserer Kinder wiederherstellen wollte.

Sie hat das gefundene Tagebuch wie eine eroberte Trophäe eiskalt genutzt, um aus einem Leben auszusteigen, dessen sie sowieso überdrüssig war. „Ein Ehe, drei Kinder – das soll es jetzt gewesen sein?“, hatte sie mich selbst einmal vor der Dienstreise, die zum Desaster führte, gefragt. Sie hatte einige Männer vor mir und noch viele sollten kommen, die sie nach mir hatte.

Vierzehn hatte ich dokumentiert, weil ich Material für den Kampf um das Sorgerecht für meine Söhne haben wollte. In den meisten Fällen fuhr sie zu ihnen hin, aber einige kamen auch zu uns nach Hause. Sie hatte lauten Sex mit ihnen, während ich mit den Kindern im Kinderzimmer schlief, besser gesagt: zu schlafen versuchte. Die Kinder schliefen zum Glück.

Mein Tagebuch war das perfekte Ausstiegsvisum für das neue aufregende Leben, das sie nun hatte, aus einem langweilig gewordenen alten. Was hieß das schon, Mutter von drei Kindern zu sein? Für sie offenbar wenig.

Mein dummer Zwang, über alles schriftlich nachdenken zu wollen, gab ihr sogar noch die Gelegenheit, sich bemitleiden zu lassen: Die arme Frau, die nun plötzlich allein da stand, weil ihr Mann so ein schlimmer Perverser war.

Alles hat zwei Seiten, mindestens. Durch sie, durch ihre großen sexuellen Erfahrungen konnte ich meine Verklemmungen (Teil 1) überwinden. Sie hatte „ihm“ einfach reingeholfen, als wir es das erste Mal machten, und ich war so glücklich, aus der Enge des Versagens endlich aufgestiegen zu sein, dass ich dieses große Glücksgefühl nicht auf die befreite Sexualität bezogen hatte, die sie mir sozusagen schenkte, sondern auf sie als Person.

Obwohl: Sie war nicht nur jung und sexy – ihre natürlich gebräunten Beine im blauen Minirock und in weißen Stiefeln hatten es mir angetan -, sondern sie hatte durchaus auch liebenswerte Seiten, die meine Sehnsucht nach Geborgenheit ansprachen, und sie konnte gut kochen, und sie hatte freundliche Eltern. Durch ihren Vater hatte ich zum ersten Mal im Leben gelernt, eine gute Flasche Wein beim Essen und/oder beim Schachspielen zu genießen. Das kannte ich von meinen Eltern gar nicht.

Vielleicht sind jetzt einige empört, dass ich so etwas öffentlich schreibe, obwohl nur die wenigen, die mich und meine Familie kennen, sich aus dem Geschriebenen ein konkretes personalisiertes Bild machen können. Und das sollen sie auch, denn was ist dieses Preisgeben an die Öffentlichkeit im Vergleich mit dem, was meine erste Ehefrau vor über 50 Jahren mit mir tat? Da war der Kreis der einbezogenen Menschen, die nun gern oder auch wider Willen zu Voyeuristen geworden waren, viel größer.

Katrin, wie ich sie hier nennen will, hatte über 50 Jahre Zeit, mit mir ein klärendes Gespräch zu führen. Sie hat es nicht getan.

Ich staune heute immer noch, wie ich es geschafft habe, das alles zu überleben.

Jetzt sind wir „quitt“, jetzt kann ich ihr sogar verzeihen, wobei ich nicht weiß, ob sie das annehmen kann und will. Ich kann aber vorläufig nicht Zweien meiner drei Söhne verzeihen, die sich trotz allem von mir abgewendet haben und nicht etwa von ihrer Mutter.

Meine Eltern waren zum Ende der DDR nach Westberlin übergesiedelt. Mein Vater wollte mich überreden, da zu bleiben, nachdem ich erstaunlicher Weise die Erlaubnis erhalten hatte, ihn zu seinem Geburtstag zu besuchen. Ich „Trottel“ sagte ihm: Das kann ich nicht machen, meine Söhne brauchen mich. Es war die Zeit, als sie mich regelmäßig an jedem Wochenende in meiner Einraumwohnung besuchten und meine Ex darauf bestand, dass ich am Ende ihre Kleidung ihr gewaschen und gebügelt zurückgab. Das habe ich geschafft, weil ich damals eine nette Studentin als Lebensgefährtin hatte, die bezüglich des Haushalts über goldene Hände verfügte.

Wenn ich sehe, wie sich das heute alles entwickelt hat, kann ich wirklich nur sagen: Undank ist der Welten Lohn. Zu ihrem 70. Geburtstag kamen alle ihre und meine Söhne, der meinige wurde von Zweien von ihnen wieder boykottiert.

Im Nachhinein sehe ich also, mein Vater hatte recht gehabt, ich hätte schon damals ein neues Leben im Westen beginnen sollen.

Fortsetzung folgt

 

Ein Kommentar zu “Der Großvater (2) und ein Hochverrat, der nach den Maßstäben der Bibel für sieben Generationen reicht – eigentlich”

  1. Marlen sagt:

    Natürlich hatte dein Vater n i c h t recht!
    Nach allem, was ich über den Karl gelesen habe und weiß, hätten dich das schlechte Gewissen und die Schuldgefühle gegenüber deinen drei Söhnen über kurz oder lang eingeholt.
    Du als Menschenfreund und Pädagoge hättest das niemals verkraftet!
    Du hast damals getan, was du für richtig fandest, und das war gut so.
    Ich habe selbst zwei Söhne und weiß, dass sie ohne ihren Vater niemals zu den Männern herangewachsen wären, die sie geworden sind. Und als Lehrerin habe ich erfahren, wie ganz besonders Jungen sich zum Vater hingezogen fühlen und bei einer Scheidung sehr unter dem Verlust leiden. Sie brauchen eine Vaterfigur, um sich daran zu orientieren. Kein Junge schaut diesbezüglich auf seine Mutter, die hat andere Aufgaben. Natürlich kann auch ein Opa, ein Stiefvater ein guter Ersatz sein, aber die Sehnsucht eines Kindes geht immer in Richtung der leiblichen Eltern.
    Dass sich erwachsene Kinder von Elternteilen entfernen, gibt es leider häufig und wird als sehr schmerzhaft empfunden, auch ich kenne dieses Gefühl. Oft dauert es Jahre, bis man das korrigieren kann, manchmal klappt es gar nicht. Die Ursachen liegen m.E. häufig in der Familie, in die der erwachsene Sohn (seltener die Tochter) einheiratet. Hat der Sohn die „richtige“ Frau fürs Leben gefunden, so hat sie einen immens großen Einfluss, und es gelingt ihr, die Herkunftsfamilie außen vor zu lassen, wenn sie es denn so möchte. Man hat keine Chance, als Elternteil das zu ändern.
    Diese Information bekam ich von einem Psychologen, nachdem ich ihn um Rat gefragt hatte. Es hat Jahre gedauert, um mich daran zu gewöhnen, mich damit abzufinden und einen Weg zu suchen, um trotz allem meinem Sohn nah zu sein.
    Ich wünsche dir viel Kraft bei der Aufarbeitung deines Lebensweges und hoffe, du bleibst wie immer lebensfroh und optimistisch!

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