Der Großvater (1) oder die große, dumme Verklemmtheit, die den Lebenslauf aufhält

Apropos: „(1)“. Wer das in der Suchfunktion der Seite eingibt, sieht, dass ich ein richtiger „Fragmentarier“ bin, im Sinne von: Fragmente zu beginnen: Lauter angefangene Sachen, die ich dann zu faul oder zu unmotiviert war, fortzusetzen. Aber „Der Großvater“ wird eine Reihe, die ich auf jeden Fall zu Ende bringe.

Meinen habe ich leider nie kennengelernt. Er hat sich 1945 im August das Leben genommen, und es wurde auch nicht viel über ihn geredet. Oder war ich als Kind nicht motiviert genug, mir diese Geschichten anzuhören? Sein Sohn, mein Vater, hatte ihn sehr geliebt, erzählten meine Mutter und meine Tante, aber mein Vater hatte ein eher verschlossenes Wesen, redete über „innerliche Sachen“ nicht gern und oft. Nur dass auch sein Vater, mein Großvater, gern wie ich Kosenamen verteilte und ihn „Hundeköpfchen“ nannte.

Der Großvater war weit weg und interessierte mich in meiner Kindheit und Jugend nicht wirklich. So, schätze ich, geht es heute auch der Mehrheit meiner eigenen Enkel, obwohl ich noch lebe, nämlich dreien meiner vier Enkelinnen. Für sie bin ich auch tot, zumindest scheintot, für tot erklärt von ihrem Vater. (Bei der vierten und einem Enkelsohn läuft es inzwischen auch darauf hinaus, was aber nicht so einfach sein wird, weil wir bisher ein gutes Verhältnis hatten.)

Ich bin ja einer, der gern viel nachdenkt. Nur so kann ich mich meiner selbst und meiner Welt vergewissern, einen sicheren Platz in ihr finden und emotionale Eruptionen glätten. Aber warum mein jüngster Sohn die Beziehung zu mir gekappt hat, bleibt mir ein kognitives Rätsel, obwohl ich natürlich Anhaltspunkte habe. Das ist eine echte „Nuss“, die ich da auf meine alten Tage noch geistig zu knacken habe.

Zerrissene Familien gibt es massenweise in unserer Welt, vielleicht sind sie sogar mehr die Regel als die Ausnahme. Und immer haben sie mit Scheidungen zu tun, mit dem Ende einer Liebe und dem Beginn einer neuen. So ging es mir vor über 50 Jahren auch mit meiner neuen Familie, obwohl ich nicht im Traum daran gedacht hatte, sie aufzugeben. Immerhin war ich glücklicher Vater dreier Söhne. Meine Arbeit war so, dass ich mich mehr um sie kümmern konnte, als das ihrer Mutter möglich war.

Also hatten wir eine intensive, feste Vater-Sohn-Beziehung. Mit ihrer Mutter war das wesentlich wechselhafter, vor allem in der Beziehung zu mir, aber auch zu den Kindern: immer wieder gab es heftige Streitereien, dazwischen aber auch Zeiten inniger Verbundenheit.

Ein Grundproblem war der Widerspruch zwischen der Extraversion meiner ersten Ehefrau, der Mutter meiner Kinder, und meiner Introversion. Ich war in meinem Element in der geborgenen Häuslichkeit meiner Familie; sie zog es immer wieder hinaus in die Welt. Sie hatte vor mir viele Liebeserfahrungen gesammelt. Ich war zwar auch viele Male verliebt, unglücklich und intensiv, sowohl in gleichaltrige Mädchen als auch Jungen, aber mir war es nicht einmal gelungen, eine solche Liebe ganzkörperlich zu vollenden.

Das Tragische ist oft auch komisch

Einmal hatte ich ein Mädchen kennengelernt, im 2. oder 3. Studienjahr, ich war also 20 oder 21 Jahre alt /1/, die der Grundart meiner Seele entsprach: Auch schüchtern, introvertiert und vertieft, aber zugleich sportlich-spröde, ganz mein Typ, nicht „fein“ damen- oder puppenhaft, sondern sie hatte auch etwas – wie soll ich sagen? – Burschenhaftes. Sie ging in die parallele Seminargruppe, war ruhig und „unlaut“ in vielerlei Beziehung, auch eher eine Außenseiterin wie ich. Zunächst war sie mir gar nicht aufgefallen; sie war ein Typ, der „gern“ und von vielen übersehen wurde. Ich war damals auch nicht besser. Erst beim genaueren Hinsehen merkte ich nach zwei, drei Jahren, wie sehr sie mir gefiel.

Für ihre Familie, Ihre Eltern und ihren kleinen Bruder aus Zittau, galt das auch. Da war sie wieder, die Sehnsucht nach Geborgenheit und häuslicher Gemütlichkeit. Also ein Volltreffer. Alles passte. Ich war – auch – wirklich „scharf“ auf sie. Wir knutschten uns, zogen uns aus, ich lag auf ihr mit einem steifen Glied – jetzt kommt das lächerlich Tragische – und dachte, „er“ müsse von allein „hineingehen“.

Das tat „er“ aber nicht, und sie war auch völlig unbeholfen. Für mich war das ein Desaster, ein tragisches Scheitern vor dem Herrn. Ich schämte mich so, dass ich mich, ohne ein Wort zu sagen, schnell anzog, meine Sachen schnappte und zum Zittauer Bahnhof lief. Als ich dort ankam, fuhr der Zug nach Leipzig gerade an. Der Lokomotivführer machte Anstalten zu bremsen, als ich die Treppe zum Bahnsteig hochgerannt kam. (Es ist erstaunlich, wie nett und einfühlsam Menschen sein können.)

Das fehlte mir nun gerade noch: Noch eine Verwirrung, noch ein Hin-und-Her. Ich winkte ab. Der Stolz hat mir durchgehend in meinem Leben ein Bein gestellt. Aber vielleicht war es in diesem Fall ganz gut: Ich musste und konnte reumütig zu meiner Marina – ich nenne sie jetzt so, ich habe wirklich vergessen, wie sie (genau) hieß /2/ – zurückkehren. Aber denkst Du, lieber Leser, wenigstens jetzt hätten wir offen darüber reden können?

Denkste. Weiter ging das „unverschämt“ verschämte Treiben. Wir unternahmen viel, fuhren gemeinsam mit dem Trabbi ihrer netten Eltern nach Böhmen (und das will schon etwas heißen: mein Vater hätte mir den seinigen nicht anvertraut), einige Male auch zusammen mit ihrem Bruder. Schon damals, in den 70-er Jahren des vorigen Jahrhunderts schmeckte mir das helle Budweiser Bier sehr gut. Österreichische Bierbrauer hatten es nach Böhmen im heutigen Tschechien gebracht. Aus dem Fass muss(te) es allerdings sein.

(Es brachte das selbe fast zum Überlaufen, als nach 2000 eine junge Studenten-Kellnerin mir dieses Bier im Leipziger „Lindenfels“ als „Bad(weiser)“ anbieten wollte. Armes Neu-Deutschland. Ich habe ihr geduldig erklärt, dass dieses Bier aus Budweis stammt, einer Stadt in Südböhmen, ehemals Österreich-Ungarn, und dass sich die richtigen, alten Budweiser höchstwahrscheinlich im Grab umdrehen würden, wenn man sie „Badweiser“ nennen würde. Von diesem Teil der deutschen Kulturgeschichte hat die junge Generation von heute absolut keine Ahnung und will sie, fürchte ich, auch nicht haben.)

Damals trieb ich schon das Spiel, das ich bis heute nicht lassen kann: Ich ließ den Trabbi rollen  – heute ist es allerdings ein anderes (deutsches) Auto – und schaute, wie weit wir kommen würden. Auf den letzten Metern ruckelten wir Drei mit unseren Körpern, um noch ein paar Zentimeter herauszuholen.

Es war eine schöne gemeinschaftliche Zeit, aber einen Sexversuch wagten wir nicht mehr. Zu peinlich war das offenbar für uns beide: Tragisch und dumm. Wir hätten uns so gut in dieser Zeit gegenseitig weiterhelfen können, und wir hätten uns bestimmt auch gegenseitig große Lust bereiten können, wenn wir nicht so furchtbar verklemmt und beide verschlossen in dieser Hinsicht gewesen wären.

Anstatt dessen habe ich Trottel mich dann von ihr getrennt. Sie war eine so treue Seele, sie hatte das gar nicht verstanden, aber ich fühlte mich als Versager, an jedem Tag, mit dem ich mit ihr zusammen war, wieder neu. Heute kann ich es selbst nicht verstehen, dass wir uns aus diesem Kreislauf der Dummheit und des Stolzes nicht befreien konnten, dass wir lieber ein großes Stück Lebensglück geopfert haben, als ehrlich und offen zueinander zu sein.

Ihr Vater richtete ihr ein neues Zimmer in Leipzig ein. Offenbar hatten wir vorher zusammen gewohnt. Ich staune, dass ich das nicht mehr genau weiß. Wahrscheinlich ist meine Demenz doch stärker ausgeprägt, als das üblicherweise in meinem Alter mit Anfang 70 der Fall ist. Was ich aber noch weiß, ist, wie verbittert und enttäuscht sie war; auch ihre Eltern waren das, mit denen hatte ich mich ja gut verstanden.

Ihr Vater war ein gestandener Mann, der in Zittau eine Führungsposition inne hatte. Schade, dass auch er nicht mit mir reden konnte, von Mann zu Mann sozusagen. So kommt eins zum anderen, und es bestärkt meine Lebenserfahrung, dass stolze Verschlossenheit zum Schlimmsten gehört, das Menschen geschehen kann.

 

Fußnoten

/1/ Ich hatte damals Schwein. Ich musste vor dem Studium nicht zur Armee, nicht einmal zum Grundwehrdienst. Mein Jahrgang war der letzte, der mit einem sechswöchigen Lehrgang, ich glaube, nach dem 2. Studienjahr, davonkam. Allerdings gehört diese Zeit zum Schlimmsten, was mir in meinem Leben passierte. Wir hatten dort nichtakademische Gefreite und Obergefreite als Gruppenführer. Unserer hat es genossen, uns nach allen Regeln der Kunst zu drillen: Wenn ihr schon mit sechs Wochen davonkommt, Ihr „Drückeberger-Schweine“ und glaubt, ihr seid was Besseres, dann will ich euch zeigen, was „ne Qual“ ist. Es gab auch menschliche Gruppen- und Zugführer, die die Anrede „Genosse“ ehrlich meinten, aber wir in unserer Gruppe hatten ausgesprochenes Pech. Als Größen aus unserer Sektion uns besuchten und wir uns beschwerten, wurde uns gesagt, dass das bei der Armee nun einmal immer so wäre. Eine dumme Lüge, denn anderen – und wir sahen es täglich – ging es viel besser. (Nicht nur Verklemmtheit hält den Lebenslauf auf, sondern auch Feigheit.)

/2/ Jetzt wo ich das aufschreibe, kommt aus der Kontextualisierung von Erinnerungsfragmenten Vieles hervor, was mein altes und erschlafftes Hirn schon nicht mehr halten konnte und das beinah endgültig in den Nebeln der Vergangenheit versunken wäre. Ich danke meiner Zeit, dass sie mir mit dieser Webseite den Anreiz geschenkt hat, das noch einmal aufzuschreiben. Nur für die Schublade zu schreiben, wäre ich nämlich bei Weitem nicht motiviert genug dafür gewesen.

Fortsetzung folgt

Ein Kommentar zu “Der Großvater (1) oder die große, dumme Verklemmtheit, die den Lebenslauf aufhält”

  1. Junker Martin sagt:

    Lieber Karl, es ist schön, dir zuzuhören. Schreib weiter!

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