Ich habe gestern Abend am Mittwoch, dem 4.12.24, auf Arte einen Film über Capote und seinen „Tatsachenroman“ „kaltblütig“ gesehen. Der lässt mich diese Erkenntnis, die in der Überschrift steht und die ich schon länger hatte, noch klarer sehen.
Im Roman schildert Capote die Ermordung einer ganz und gar rechtschaffenden vierköpfigen Farmerfamilie, Mann, Frau und zwei jugendliche Kinder, eine Tochter und ein Sohn, durch zwei brutal kaltblütige Räuber, die in der Nacht in das Haus eingedrungen sind. Dies war kein Kunststück, denn die ganze Gegend war so ordentlich und gesetzestreu, dass die Farmer ihre Hauser unverschlossen ließen. So ist es, wenn eine Welt auf die andere trifft, die ordentliche, in der Gemeinsinn selbstverständlich ist, auf die ganz und gar aus den Fugen geratene, wo immer nur der gewinnt, der im weiteren Sinne triebgesteuert noch einen Tick rücksichtsloser ist als der andere. Das stellt so Capote oder eine der interviewten Hauptpersonen auch einmal im Film fest.
Dieses Zusammentreffen zweier ganz und gar unterschiedlicher Welten, das zur Katastrophe führt, zuerst – nicht nur zeitlich, sondern auch moralisch gesehen – für die unschuldige Familie und dann auch für die Gewalttäter, die aber nach meiner Meinung schließlich doch nur auf eine gerechte und logische Weise, zumindest einer von beiden (s.u.), mit ihren Leben für die brutal ausgelöschten Leben Unschuldiger bezahlen müssen, erinnert mich auch an die Situation im Deutschland von heute. Auch hier treffen immer mehr von außen dazugekommene, entwurzelte und traumatisierte Menschen auf die Gemeinschaften von Dörfern und kleinen Städten, in denen bis zu ihrer Ankunft noch Ordnung herrschte.
Perry, der eine der beiden gehängten Mörder, führte die Taten eigenhändig aus, den Familienvater ermordete er besonders brutal, indem er ihm die Kehle durchschnitt. Capote hatte viele lange Gespräche mit ihm geführt. Daher wissen wir, dass er dem Mann vorher lange in die Augen sah und mit Erstaunen bemerkte, dass dieser erfolgreiche Familienvater und Farmer, der eine Autorität nicht nur in seiner Familie, sondern auch im ganzen Ort war, eine schreckliche, regelrecht kindliche Angst vor ihm, dem Eindringling und Räuber, dem Menschen hatte, der ihn kurz danach tatsächlich ermorden würde. Von wegen, Täter seien so brutal, weil sie keine Empathie mit ihren Opfern hätten. Perry hatte sich eingefühlt und trotzdem gemordet.
Sein Kumpan stand bei allen Taten nur dabei. Ich staune, dass er das nicht ins Feld führte, um im wahrsten Sinne des Wortes seinen Kopf doch noch aus der Schlinge zu ziehen. Für mich ist das wesentlicher Unterschied, auch wenn im Film behauptet wird, dass Perry nur morden konnte, weil er die Rückendeckung seines Gefährten hatte. Ihn hätte ich als Geschworener auch hart bestraft, aber nicht mit dem Tode.
Perry hatte eine Mutter, die ihn schon als kleines Kind von Mann zu Mann, von Ort zu Ort schleppte und dabei oft allein ließ, weil sie ihren Geschlechtstrieb nicht beherrschen konnte oder wollte. Ergebnis war ein tief verunsichertes, entwurzeltes Kind, das niemals ein richtiges Zuhause hatte. Das wurde ihm nach seiner eigenen Erzählung Capote gegenüber noch einmal schmerzhaft bewusst, als er die Sparbüchse des Mädchens neugierig öffnete, dem er kurz danach mit einer Schrotflinte ins Gesicht schoss. Er fand darin einen silbernen Dollar, der ihm auch noch herunterfiel und unter das Bett des noch lebenden Mädchens rollte.
So eine Silbermünze, die er nun demütig auf dem Bauch kriechend unter dem Bett hervorholte, hatte er nie besessen. Keiner hatte ihm je etwas geschenkt, das einigermaßen von Wert war. Jeder, auch der Triebhafteste und Unverwurzeltste kommt einmal in einem Zuhause an, und sei es ein Fremdes, Überfallendes, Vergewaltigtes.
Ich denke bei dieser triebhaften Unordnung, die ich für die Quelle allen Übels halte, auch an die Kinder der Gegenwart in Deutschland, denen es eigentlich gut geht, die nicht traumatisiert und entwurzelt sind, denen aber hier jedes Recht auf Erzogen-Werden, auf eine liebevolle, bestimmt-gelassene Korrektur und Zurechtweisung verweigert wird. Ich denke an Ben, der von seinen Eltern systematisch daran gewöhnt wird, immer zu bestimmen, wo es langgeht und das auch im direkt körpersprachlichen Sinn beim Laufen. Er geht vorneweg, die Eltern hinterher, immer. Er entscheidet, wann eine Pause gemacht wird und wann und ob ein Gaststättenbesuch stattfindet. Wenn ja, entscheidet er, welchen Tisch die ganze Familie wählt und wann es wieder losgeht. Wie soll so ein Kind, zum Beispiel, an einem Wandertag in der Schule teilnehmen können? Es kann ja gar nicht anders als zu erwarten, dass er das Kommando für die ganze Schulklasse übernimmt und dass ihm alle zu folgen haben.
Angeblich seien Autisten nun einmal so. Nein! So sind Autisten, denen von vornherein jede Erziehung, jede langfristige, einfühlsam-konsequente Einübung sozialer Rücksicht verweigert wird.