Karl: Wer passt sich wem mehr an, das Individuum an die Gemeinschaft oder umgedreht? Das ist die Gretchenfrage der Erziehung oder die Grundfrage der Pädagogik, die ich nicht nur im verlinkten Beitrag, sondern auf dieser Seite in vielen Beiträgen immer wieder gestellt habe.
Ich glaube in der Tat, auf diese Frage kann und muss jede Diskussion über Erziehung, besonders über ihre gegenwärtigen Herausforderungen heruntergebrochen werden.
Immer wieder stoße ich auf Artikel, die für eine Schule plädieren, in der die Teilnahme am Unterricht freiwillig ist und in der die Schüler, zumindest bis zur 8. Klassenstufe, nicht mit Noten bewertet werden.
Ich glaube nicht, dass das gut ist. Ich vermute, dass die Probleme mit oppositionellen, launischen und unmotivierten Kindern, die sich verweigern und Stress machen, wenn etwas nicht nach ihrem Willen geschieht, so vermieden werden sollen.
Wenn nichts verlangt und alles nur angeboten und vorgeschlagen wird, müssen die Lehrer keine anstrengenden Kämpfe mehr mit ihren Schülern führen, und die Eltern auch nicht mehr mit ihren Kindern, da ja auch die Hausaufgaben, sofern es überhaupt welche gibt, dann freiwillig sind und ihre Erledigung ganz dem persönlichen Gustos jedes einzelnen Schülers überlassen wird. Das scheint mir das Hauptmotiv solcher pädagogischen Konzepte zu sein: Energieeinsparung für sowieso schon weitgehend ausgebrannte Erziehungsverantwortliche.
Dieser Weg führt geradewegs in eine Republik der Ungebildeten, die nicht einmal mehr ihre eigene Sprache lesen und schreiben können, geschweige denn, die Kommas an den richtigen Stellen setzen, wie das noch meine Oma Frieda konnte, eine ostpreußische Bauerntochter mit 8 Klassen kaiserlicher Volksschul-Bildung. Mir scheint, dass heute diesbezüglich Gymnasiasten nach 13 Schuljahren in der Regel schlechter sind.
Und dieser Weg führt geradewegs in den Autismus, in die generelle Leistungsunfähigkeit und -Unwilligkeit einer Gesellschaft. Denn zuverlässig und ausdauernd Leistungen zu erbringen, hat immer mit der Fähigkeit zu tun, sich an den Erwartungen anderer, die für ein Kind wichtig sind, auszurichten, sich also außerhalb des Eigenen Ichs auf das Du, auf den Mitmenschen zu orientieren und das nicht nur launisch, blitzlichtartig, sondern zunehmend langfristiger und zuverlässiger.
Es geht in diesem Sinn nicht um den „Autismus“ an und für sich (du nennst ihn, glaube ich, „neuronalen Autismus“), den es auch gibt, aber nur im Promillebereich, sondern um einen sozial gelernten Pseudo-Autismus, der sich im „Westen“ und besonders im individualistischen Deutschland, das Gemeinschaftlichkeit sogar auf der Ebene der Nation ablehnt (so vermessen ist kein anderes europäisches Land), massenhaft ausbreitet. Inzwischen gibt es keine einigermaßen große Stadt mehr ohne Autismus-Zentrum.
Der Pseudo-Autismus betrifft sicherlich zuerst die Kinder, die tatsächlich und sowieso schon biologische autistische Züge in sich tragen durch Vererbung und Geburt. Prägungen in der frühen Kindheit führen zur Überlappung des Biologischen mit dem Sozialen, dass zum Beispiel eine Mutter sich symbiotisch mit ihrem Kind verbindet, aus Verlustängsten und dem Anspruch, dieses Kind nun für immer für sich „behalten“ zu können.
Egal, welcher „Autismus“ es ist, es geht immer um das Kreisen um sich selbst. Das Einzige, was wichtig ist, ist das, was ich selbst will, wann, wo und wie lange ich es will. Es geht nicht darum, was eine Gemeinschaft, meine Familie, meine Schule, mein Sportverein, meine Gemeinde, meine Nation von mir erwarten und fordern, sondern nur darum, was ein Einzelner denn nun heute wollen wollen könnte.
Diese gesellschaftliche Prägung geht in Deutschland unter der Ampel-Herrschaft nun sogar so weit, dass jedes Individuum das Recht hat, in sich hineinzuhorchen und sich zu fragen, ob er – der Mensch – bereit ist, das Geschlecht, das er sozusagen von außen, von seinen Genen, bekommen hat, nun wirklich selbst von sich aus auch haben zu wollen. Das ist eine Wohlstandsverwahrlosung höchsten Grades. Schon 14-Jährige können nach diesem links-grün-gelben Recht gegen ihre Eltern klagen, wenn diese ihren noch minderjährigen Kindern das Recht, jährlich ihr Geschlecht zu wechseln, verweigern wollen.
Wie beim Promillebereich des neuronalen Autismus gibt es verschwindend wenige Menschen, die tatsächlich im falschen Körper geboren wurde. Dieses ganz besondere, seltene Problem wird nun im Sinne der Innenorientierung auf die eigene Individualität links-grün verallgemeinert: Alle Menschen werden in Versuchung geführt, die Geschlechtsumwandlung als ihr persönliches Recht zu beanspruchen, sie werden dadurch überhaupt erst auf diese Idee gebracht. Ähnlich ist es mit der Verallgemeinerung seltener Abarten der Sexualität: Jeder hat heute in Deutschland ein Recht darauf, zum Beispiel Schuh-Fetischist zu sein. Soll er es privat sein, ich habe nichts dagegen, aber ich habe sehr viel dagegen, dass alle diese Sonderfälle staatliche Unterstützung beanspruchen und einfordern.
Ich führe das jetzt hier nur als Beispiele für die totale Innenorientierung in den westlichen Gesellschaften – ich glaube, besonders in Deutschland – an, für die Ausrichtung des Menschen an seinen eigenen Ambitionen, Launen und Stimmungen, anstatt an den Notwendigkeiten der Gemeinschaften, in denen er lebt. Das ist meiner Meinung nach auch ein Grund, warum hier bei uns psychische Krankheiten, vor allem Depressionen und Angststörungen, so zunehmen.
Weder primär sozialisierte, noch primär biologisch determinierte „Autisten“ haben einen „schlechten Charakter“, sondern ihre Erziehung hat nicht den erhöhten Anforderungen entsprochen, die die vererbten und/oder angeborenen und/oder erlernten Besonderheiten ihrer Wahrnehmung, ihres Denkens und ihrer Kommunikation stellen. (Ich hoffe, wir können noch im Einzelnen anhand konkreter Beispiele darüber diskutieren, wie Eltern und andere Erziehende diesen erhöhten Anforderungen praktisch entsprechen können.)
Wenn diese Kinder aggressiv sind und über längere Strecken unwillig und unfähig, sich in Gemeinschaften einzufügen, gelang es der Familie, dem Kindergarten und der Schule nicht, die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit auch dieser Kinder im ausreichenden Maße zu entwickeln, so viel steht meines Erachtens schon einmal fest.
Wo liegt die Lösung? Obwohl ich sonst gar nicht für den Mittelweg bin, wie Du weißt, liegt die Lösung diesmal wohl wirklich in ihm, allerdings so, wie ich ihn schon immer verstehe: Nicht dauerhaft ein mittleres Maß, zum Beispiel immer 15 Grad Temperatur, sondern da und dann, wo es hingehört und passt, auch mal 30 oder – 10 Grad. Die Kunst bei der Erziehung ist, herauszufinden, wann was zu 100 Prozent angesagt ist und wann das Gegenteil. In der Summe ergibt das einen Mittelweg, der weiterführt.
Also einerseits überlegen, was ein Kind schon kann und was es selbst will, sich voll in es einfühlen. Und andererseits dann das Minimum dessen, was auf dieser Grundlage mit anderen Erziehenden und dem Kind selbst beschlossen wurde, was es tun (Verhalten, Umgangsformen, häusliche Pflichten) und in der Schule&Zuhause lernen soll, einhundertprozentig und konsequent, sozusagen naturgesetzlich, einfordern und einüben. Immer Stück für Stück, Minimum für Minimum, erst wenn sich eins durch kontinuierliche und konsequente Einübung richtig fest stabilisiert hat, kommt das nächste, die nächste Stufe dran.
Weil das alle wissen, funktioniert es auch. Das gilt bis zur nächsten Zwischenkorrektur. Es gibt – zum Beispiel – bei jedem Abendessen Zeit und Platz, Gedanken und Gefühle zu dem, wie es läuft, mitzuteilen, von beiden Seiten, von der Elternseite genauso wie von der Kinderseite und Änderungswünsche vorzubringen.
Wer das auch tut, Eltern oder Kinder, muss sich vorher die Mühe gemacht haben, sie gut zu begründen. Sonst haben sie keine Chance auf Umsetzung: Jammern, Quengeln und Meckern reichen also nicht. Wer was besser haben bzw. machen will, muss geistig genau beschreiben können, was ihn an der aktuellen Situation stört und warum das so ist. War das durchdacht, kann er auch sinnvolle Vorschläge für Änderungen machen, die diesmal länger halten werden, weil sie erfahrungsgesättigt sind und sich aus der Kommunikation aller Beteiligten entwickelt haben, also aus einem geistigen Rund-um-Blick heraus.
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Berthold: Lieber Karl, deine Argumentation zur Frage der Anpassung des Individuums an die Gemeinschaft ist durchaus provokant, aber ich finde, sie vereinfacht viele komplexe Themen und lässt wichtige Aspekte unberücksichtigt. Du sprichst davon, dass Schulen, in denen Teilnahme und Noten nicht verpflichtend sind, zur Unbildung führen. Doch die Idee, dass Freiheit und Selbstbestimmung im Lernen zu schlechteren Ergebnissen führen, ist nicht so eindeutig. Zahlreiche Studien zeigen, dass ein Lernumfeld, das auf intrinsische Motivation setzt, tatsächlich bessere Lernergebnisse fördern kann.
Deine Behauptung, dass Schüler ohne klare Anforderungen schnell unmotiviert werden, ignoriert die Tatsache, dass Kinder in einem unterstützenden Umfeld oft ein stärkeres Engagement zeigen. Flexibilität und die Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen, können die Entwicklung von sozialen und emotionalen Kompetenzen fördern. Ein starrer Ansatz, der auf Druck und Kontrolle setzt, könnte genau das Gegenteil bewirken.
Außerdem ist die Verbindung, die du zwischen „Pseudo-Autismus“ und der Erziehung herstellst, problematisch. Autismus-Spektrum-Störungen sind neurologische Erkrankungen, die nicht nur durch soziale Umstände verursacht werden. Sie erfordern ein tiefes Verständnis und Unterstützung, die oft in Schulen und Familien fehlen. Es ist wichtig, dass wir die Herausforderungen von Menschen mit Autismus anerkennen und die notwendigen Ressourcen bereitstellen, anstatt sie durch gesellschaftliche Normen zu stigmatisieren.
In Bezug auf Geschlechtsidentität äußerst du dich abwertend über die Rechte von Jugendlichen, sich selbst zu definieren. Diese Sichtweise verkennt die Realität vieler junger Menschen, die oft mit Fragen ihrer Identität kämpfen. Die Möglichkeit, sich in einem unterstützenden Umfeld mit der eigenen Geschlechtsidentität auseinanderzusetzen, ist für das psychische Wohlbefinden von entscheidender Bedeutung. Statistiken zeigen, dass Jugendliche, die Akzeptanz und Unterstützung erfahren, seltener unter psychischen Erkrankungen leiden.
Darüber hinaus ist deine Behauptung, dass die Gesellschaft in eine „Wohlstandsverwahrlosung“ abgleitet, wenn Jugendliche ihre Geschlechtsidentität selbst bestimmen, übertrieben. Über die Rechte von Individuen, sich selbst zu definieren, zu diskutieren, ist wichtig, aber es sollte nicht in einem negativen Licht stehen. Die Vielfalt von Identitäten und Erfahrungen sollte als Stärke und nicht als Schwäche angesehen werden.
Schließlich scheinst du zu glauben, dass der individuelle Fokus in unserer Gesellschaft zu einer Entfremdung von der Gemeinschaft führt. Während es wichtig ist, die Bedürfnisse des Einzelnen zu beachten, ist es genauso entscheidend, dass wir eine gesunde Gemeinschaft fördern, die Vielfalt schätzt und integriert. Der Schlüssel liegt darin, ein Gleichgewicht zu finden, das sowohl individuelle Freiheit als auch soziale Verantwortung umfasst.
Kurz zusammengefasst besteht meine Botschaft an dich, die Argumente über die Anpassung des Individuums an die Gemeinschaft holistisch zu betrachten. Anstatt die Entwicklungen in der Erziehung und Gesellschaft zu kritisieren, sollten wir Wege finden, um Verständnis, Unterstützung und Akzeptanz zu fördern. Nur so können wir eine inklusive und gesunde Gesellschaft für alle schaffen.
Ich freue mich auf deine Gedanken zu diesen Punkten!