Wer kontrolliert die Ämter? (1)

Karl: Alter Freund, dir geht es schlecht. Du wurdest aus deinem Lebenswerk sozusagen herausgekickt. Das stelle ich mir sehr schwer für dich vor, weil du dich, glaube ich, weitgehend über deine Arbeit definiert hast. Die konkreten Fälle haben dich in Beschlag genommen, deine Lebensenergie sowohl gebunden, als auch aktiviert. Plötzlich muss da eine Leere sein. Wie kam es dazu?

Berthold: Ja, da ist er wohl nun da…. … mein „Pause-für-Wanzka“-Moment… Nach 48 Berufsjahren dennoch überraschend, so rüde seinen Hut nehmen zu müssen, irgendwie unwürdig und endgültig. Ja, ich suhle mich gerade in zornigem Selbstmitleid und möchte es einfach nicht glauben. Du, lieber Karl, kennst diesen Moment ja auch aus eigener Erfahrung!

Aber von Anfang an, so sachlich wie möglich: Ich arbeitete nun sehr viele Jahre für Jugendämter, begleitete Familien in schwierigen Erziehungssituationen, versuchte mit unterschiedlichem Erfolg, Krisen abzuwenden, beruhigte Gerichtsvollzieher, wenn sie mittellosen Eltern die Wohnung ausräumen wollten, beriet Schulen und Eltern in Fragen der Formulierung und Umsetzung von Nachteilsausgleichen in methodisch-didaktischen Fragen und konzentrierte mich lange Jahre auf das Thema Autismus mit den vielen komorbiden Randthemen in diesem Bereich.

Ende 2022 übergab ich meine Firma einem engagierten Mitarbeiter, der diese seit Anfang 2023 führt. Ich selbst arbeitete hier zur Unterstützung des Kollegen und der Mitarbeiter (untere zweistellige Zahl) weiter. Dies in der gewohnten Art und Weise: Ich betreute etwa 12 Familien, beriet die Integrationshilfen, schulte weiterhin Lehrkräfte …. Nun ergab es sich, dass ich im Januar `24 einen intelligenten autistischen Jugendlichen und dessen Familie begleitete. Paul (Name geändert) litt weniger unter seiner autistischen Art, eher unter seiner hypersexuellen Problematik, welche sehr stark durch paraphile Fantasien angetrieben wurde.

Er selbst war mit 7 Jahren selbst Opfer harter sexueller Übergriffe, welche nie – obwohl angezeigt – vom zuständigen Jugendamt bearbeitet wurden. Nun hatte er seine jüngere Schwester übergriffig angefasst… Die Mutter suchte Hilfe beim Jugendamt. Hier wurde, natürlich begründet, eine Gefährdungsanzeige gestartet (8a-Anzeige ). Die Kindeswohlgefährdung war eindeutig. Von Anfang an war dem Jugendamt klar: Dieser autistische Junge muss dringend weit weg von der Familie, das Sorgerecht ist teilweise zu entziehen. Mein Bemühen, zunächst einmal Sicherungen im Haus zu installieren und den in der Fachliteratur beschriebenen Zusammenhang zwischen Autismus und Hypersexualität zu diskutieren, wurde ignoriert.

Dennoch hat meine Argumentation vor dem Familiengericht dazu geführt, dass nun zunächst eine Pflegefamilie Paul übernahm. Ich selbst nahm Kontakt mit der Charité in Berlin auf. Der Junge wurde in ein Forschungsprojekt aufgenommen. Ziel wäre eine medizinische Beurteilung seiner Hypersexualität, eventuell eine medikamentöse Unterstützung, neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen. Das Jugendamt fühlte sich jedoch durch mich brüskiert, konnte die eigenen vorschnellen Entscheidungen also nicht umsetzen.

Interessant in diesem Zusammenhang: Es fand in den ganzen Monaten nicht ein einziges Gespräch mit Paul statt, in welchem sich das Jugendamt hätte einen Eindruck machen können. Selbst, als P. suizidale Aussagen machte, war dies kein Anlass für die Sozialpädagogen vom Jugendamt (JA), mit Paul zu sprechen. Die Familie schaltete eine sehr kompetente und engagierte Rechtsanwältin ein. Diese sah natürlich sofort, neben den fachlichen Defiziten der Verwaltung, auch deren schlampige Aktenführung. Eine Beschwerde beim Verwaltungsgericht führte zu einer Rüge des Jugendamtes: Ich selbst erhielt hinsichtlich meines Herangehens durchgängig Unterstützung durch den Beschluss des Verwaltungsgerichtes….

Das Jugendamt wurde gerügt. Ihnen wurde Rechtsbeugung und Kindeswohlgefährdung attestiert. An dieser Stelle kürze ich nun etwas ab: Der neue Geschäftsführer wurde ins „obere Management“ der zuständigen Kreisverwaltung zitiert. Es wurde ihm definitiv erklärt, dass er als Träger keine weiteren Aufträge mehr erhält, wenn er sich nicht von mir trennt. Ich hätte wohl völlig gegen das JA gearbeitet…als Auftragnehmer ginge dies gar nicht… Ich verabschiedete mich umgehend aus dem Unternehmen, immerhin standen viele Arbeitsplätze auf dem Spiel.

Nun also das berufliche Ende… die Geschichten wiederholen sich …. Ich erlebte dies 1978 auch an einer Kinder- und Jugendsportschule in der ehemaligen DDR. Hier allerdings deshalb, weil ich gegen die Dopinggaben protestierte, welche meinen Schülerinnen gegeben wurden, aber dies wäre eine andere Geschichte…

Nun arbeite ich diese Erfahrungen ab, werde allerdings hinsichtlich des unglaublichen Vorgehens der Jugendämter in unserem Land nicht ruhen. Es braucht eine obere Dienstaufsicht für Jugendämter, diese Willkürentscheidungen müssen ein Ende haben! Wer hier Mitstreiter sein möchte, schreibe mir über die Kommentarfunktion.

Karl: Lieber Berthold, Du wirst unseren Lesern erklären müssen, was es mit der „Pause für Wanzka“ auf sich hat. Wir beide hatten dazumal, in den 70-er Jahren, dieses Buch von Alfred Wellm sehr gemocht, aber kaum ein Leser wird es heute kennen.

Ich werde es mir auf jeden Fall noch einmal vornehmen. Ich fand Wanzka sympathisch, obwohl er für mich ein Vertreter einer individualistischen Pädagogik war. Sie kann vielleicht funktionieren, wenn es grundsätzlich noch eine Ordnung der Generationen gibt. Heute in Zeiten der Nivellierung und Entstrukturierung braucht es dafür die Grundlage einer „Zack-Zack-Pädagogik“, die der Sportlehrer Seiler durchsetzt. Ich glaube, das Verhältnis zwischen Seilers und Wanzkas Pädagogik kann uns gut helfen, die grundsätzlichen Probleme der heutigen Pädagogik zu verstehen.

Berthold: Hier eine kleiner Eindruck in das Buch von Alfred Wellm: „Pause für Wanzka: oder Die Reise nach Descansar“:

Stell dir vor, du tauchst in eine Geschichte ein, die dich von der ersten Seite an fesselt und nicht mehr loslässt. „Pause für Wanzka“ von Alfred Wellm nimmt dich mit auf eine packende Reise in den Schulalltag einer kleinen ostdeutschen Schule. Hier trifft man auf Wanzka, einen Lehrer mit einer unerschütterlichen Leidenschaft für seine Schüler. Wanzka ist kein gewöhnlicher Lehrer: Er glaubt fest daran, dass jeder seiner Schüler etwas Besonderes ist und dass sie das Potenzial haben, Großes zu erreichen – wenn sie nur die richtigen Chancen bekommen. Aber das Schulsystem ist starr und bürokratisch, und es scheint, als würde jeder Tag neue Hindernisse für ihn bereithalten. Doch Wanzka gibt nicht auf. Mit Kreativität, Humor und einem unerschütterlichen Glauben an seine Mission kämpft er für seine Schüler und zeigt ihnen, dass Lernen Spaß machen kann und dass sie alles schaffen können, was sie sich vornehmen.

In „Pause für Wanzka“ begegnest du lebendigen Charakteren und bewegenden Geschichten, die dich zum Lachen, Nachdenken und Mitfühlen bringen. Die authentische Darstellung des Schulalltags und die berührenden Schicksale der Schüler lassen dich tief in die Welt von Wanzka eintauchen. Du wirst miterleben, wie ein einzelner Mensch einen großen Unterschied machen kann – und wie wichtig es ist, nie die Hoffnung zu verlieren. Dieses Buch ist mehr als nur eine Geschichte über einen Lehrer. Es ist ein Plädoyer für Engagement, Hoffnung und die transformative Kraft der Bildung. Ein Muss für alle, die an die Kraft des Einzelnen glauben und sich von einer inspirierenden Geschichte mitreißen lassen wollen.

Karl: Wie gesagt, ich mag Wanzka, weil ich selbst ein alter Mann bin und ein Idealist, auch ein Individualist und in vieler Beziehung ein Außenseiter. Die ersten drei Charakteristika treffen auch für dich zu, da bin ich mir sicher. (Beim „alten Mann“ ist es logisch – du bist nun mal wie ich Rentner.) Aber du bist kein Außenseiter, nach meinem Gefühl eher ein Mitschwimmer. Du willst das, was angesagt ist, vertreten, nicht zurückbleiben hinter dem Gang der Zeit. Ich bleibe bewusst zurück, bin immer noch ein Anhänger von Anton Semjonowitsch Makarenko. Darf ich das sein? Um Gottes Willen, er ist ja ein Russe! Nein, ein Ukrainer, da habe ich noch mal Glück gehabt.

Makarenko macht sich über die Individualisierung, die angeblich immer noch mehr nötig wäre, um die Erziehungsprobleme zu lösen, schon in den 20-er Jahren des vorigen Jahrhunderts lustig. Er sagt, wenn er die Pädagogik-Professoren oder Psychologen, deren eigene Kinder häufig völlig missraten sind, so reden hört, dann müsse er an einen guten alten Arbeitergürtel denken. mit denen er diese Wunschdenker am liebsten versohlen würde. Hat er natürlich nie gemacht. Aber das Reden von der geheimnisvollen Individualität, die Konsequenz bei der Erziehung verbieten würde, weil jedes Kind sowieso ganz anders sei, bringt ihn so in Rage. Wer bei der Erziehung nicht massenweise einfache Verhaltensweisen „stanzt“, die für alle gelten, und so einen Sockel des Sozialverhaltens für alle schafft, kann dann auch nicht mehr sinnvoll individualisieren, weil ihm die Grundlage dafür fehlt.

(Ich habe das auf dieser Seite immer wieder versucht zu erklären, beginnend beim Grundwiderspruch der Erziehung  Oder gib/geben Sie in der Suchfunktion „Individualisierung“ ein. Da kommen 9 Ergebnisse, zum Beispiel Das ist genau das, was ich meine… Ich fürchte, du hast es nicht gelesen. Das ist menschlich, wir haben alle viel zu tun, und ich habe bestimmt auch nicht alles das gelesen, was ich lesen sollte.)

Pädagogik ist viel mehr ein sachliches Handwerk als eine geheime „Wissenschaft“, meint Anton. Ein Hauptpunkt dieses Handwerks ist die Kollegialität der Erziehenden. Wenn sich die Mutter und der Vater nicht zuerst als „Kollegen“ betrachten, die sich wohlwollend und zuversichtlich über die Erziehung ihrer Kinder abstimmen, misslingt jeder Versuch der Individualisierung, weil sie diese schon in ihrer misstrauischen, konkurrierenden Vereinzelung sozusagen „aufgebraucht“ und verschwendet haben. Das gleiche gilt für das Kollegium der Pädagogen einer Schule.

Wer als Erziehender gute Beziehungen zu den einzelnen Kindern haben will, muss zuerst gute Beziehungen zu seinen Miterziehern haben. Das heißt gar nicht, dass sich alle immer einig sein müssen. Der eine kann ruhig strenger/nachsichtiger sein als der andere, aber die Kinder müssen spüren, dass alle an einem Strang ziehen und dass sie einen Grundfundus des Vereinbarten dann auch gemeinsam durchziehen. Man kann sogar sagen: „Eigentlich will ich das gar nicht. Es geht mir gegen den Strich. Aber ich habe mich nun mal mit Papa geeinigt, dass ihr beim Essen nicht einfach aufsteht, wann es euch in den Sinn kommt, sondern dass ihr wartet, bis alle fertig sind oder wenn das zu lange dauert, erst fragt: ‚Darf ich aufstehen?‘, bevor ihr es tut.“ Dann wird zwischen dem Handlungsimpuls und seiner Ausführung eine verbale Besinnungspause gesetzt. Wahrscheinlich erlaube ich euch dann sogar das Aufstehen, aber ihr habt es nicht sofort, sozusagen „besinnungslos“ getan.

Ich kenne einen sympathischen, intelligenten Jungen, der bezüglich seiner Rechenfertigkeiten Gleichaltrigen weit überlegen ist. Aber er hat einen IQ von 70, ist also geistig stark beeinträchtigt. Warum? Weil er beim Intelligenztest immer aufsteht, weil ihm seine Eltern nicht gegönnt haben, bei den alltäglichen Kleinigkeiten des Lebens (z.B. beim Essen) zu lernen, sitzen zu bleiben, etwas zu Ende zu machen, auch wenn es langweilig geworden ist.

Entschuldigung, das ist wahrscheinlich ungerecht. Richtiger ist: Weil sie einfach nicht in der Lage waren, Erziehung als das sachliche Handwerk zu begreifen, das es ist. Das heißt zuerst und vor allem, ebenso konsequent wie geduldig immer wieder beim praktischen Handeln (nicht beim Reden) einzuüben,  worauf es ankommt – mit unerbittlicher, optimistischer Zuversicht. Erziehung hat nichts  mit einer geheimnisvollen Mystifizierung zu tun, mit den allerneuesten neurobiologischen Erkenntnissen, die man „heute“ angeblich haben müsse, um erfolgreich zu sein, sondern mit dieser Konsequenz und dieser Geduld beim praktischen Handeln.

Dazu sind wahrscheinlich einfache Menschen eher in der Lage als die, die zu viel studiert haben.

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