Im vorletzten Beitrag habe ich länger aus Stefan Zweigs „Welt von gestern“ zitiert. Was in der KuK-Monarchie um 1900 das Zeigen nackter Haut war, sind heute in Deutschland nationale Gefühle. Das eine wie das andere wurde damals und wird heute prüde und pikiert vermieden.
„Selbst den Elementen der Natur, selbst Sonne, Wasser und Luft, war es nicht vergönnt, die nackte Haut einer Frau zu berühren. Im freien Meer quälten sie sich mühsam vorwärts in schweren Kostümen, bekleidet vom Hals bis zur Ferse, in den Pensionaten und Klöstern mussten die jungen Mädchen, um zu vergessen, dass sie einen Körper besaßen, sogar ihr häusliches Bad in langen, weißen Hemden nehmen. Es ist durchaus keine Legende oder Übertreibung, dass Frauen als alte Damen sterben, von deren Körper außer dem Geburtshelfer, dem Gatten und Leichenwäscher niemand auch nur die Schulterlinie oder das Knie gesehen. All das erscheint heute nach vierzig Jahren als Märchen oder humoristische Übertreibung. Aber diese Angst vor allem Körperlichen und Natürlichen [heute in Deutschland vor allem Nationalen – Karl] war tatsächlich von den obersten Ständen bis tief in das ganze Volk mit der Vehemenz einer wirklichen Neurose [Hervorhebung: Karl] eingedrungen.“ (S.97)
Und deswegen gibt es heute in Deutschland in Bezug auf Nationales nur zwei Möglichkeiten: Entweder gar keine Beziehung dazu zu haben bzw. sogar eher eine Anti-Beziehung nach der Devise, wie kann man auf etwas stolz sein, zu dem man selbst noch gar nichts beigetragen hat?
Nach diesem Grundsatz darf in Deutschland ja auch kein Nachkomme auf die Familie stolz sein, von der er abstammt, oder auf den Fußballverein seines Ortes, dem schon seine Vorväter huldigten: Junge, du musst natürlich genauso für die Mannschaft des Nachbarortes „sein“. Wenn nicht, bist du ein Fall für den Inlandgeheimdienst, den „Regierungsschutz“, denn wenn du auf „deine“ Mannschaft stolz bist, genauso wie die anderen das mit ihrer Mannschaft tun, diskriminieren sie dich zwar nicht, aber du sie. (Für Deutsche gibt es eben eine besondere Verantwortung.)
Die zweite der im vorletzten Absatz angesprochenen Möglichkeiten ist, unverhältnismäßig und massiv für alles einzustehen, was sich als Deutsch bezeichnet hatte bzw. – mehr noch – als ein solches von anderen bekämpft wurde. Und da kommt für die, die sich mit Geschichte nie tiefgründig beschäftigt haben, Hitler und der Nationalsozialismus in Frage und dabei mit stolzem Trotz das, was an ihm besonders schlimm war, zum Beispiel die SS und ihre Symbole.
In einer Welt, in der fast alles „scheißegal“ ist, in der „Mutterficker“ zu einem üblichen Ausdruck geworden ist, garantiert das wenigstens noch Aufmerksamkeit. Alles andere ist egal, aber „Hitler“, „SS“ und Ähnliches, das sind die bekannten Codeworte, darauf und nur darauf springt die gute Gesellschaft noch an, hoch und verlässlich. Wer provozieren will, weil er seine Liebe zum Eigenen, zur eigenen Familie und Nation missachtet fühlt, erzeugt noch am meisten Resonanz, wenn er die deutsche Nation mit Hitler und der SS verbindet.
Aber das ist dumm, denn Hitler war vielmehr Rassist, pathologischem Judenhass verfallen, als Nationalist. Ein guter Nationaler war im Gegensatz zu ihm Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der aus Liebe zu seiner Nation versuchte, Hitler zu töten, um damit das Deutschland in den Grenzen von 1918 zu retten. Seine letzten Worte vor dem Erschießungskommando waren nicht „Es lebe die heilige Freiheit!“ oder „Es lebe die heilige Demokratie!“, sondern „Es lebe das heilige Deutschland!“
Weil diese – natürliche – Liebe zur eigenen Nation in Deutschland nicht erlaubt ist, muss sie schmutzige und gefährliche Wege gehen, verbündet sie sich aus jugendlichem Trotz mit den Nazis, die zu den größten Verbrechern der Weltgeschichte gehören. Stefan Zweig beschreibt das als grundsätzlichen Zug der menschlichen Seele, ausgehend von der Prüderie um 1900 in Österreich – im Zusammenhang mit dem schon Zitierten:
„In Wirklichkeit steigerte und verschwülte nichts unsere Neugier dermaßen wie jene ungeschickte Technik des Verbergens; und da man dem Natürlichen nicht frei und offen seinen Lauf lassen wollte, schuf sich die Neugier in einer Großstadt ihre unterirdischen und meist nicht sehr sauberen Abflüsse.“ (S. 98)
Ergo: Es gibt nichts Wirksameres, in Deutschland etwas gegen Neonazis zu tun, als die gesunde und natürliche Liebe zur eigenen Nation, wie sie Stauffenberg beseelte, zuzulassen und zu fördern.
Hitlers Wut richtete sich gegen keinen so maßlos und brutal wie gegen die nationalbewussten Verschwörer des 20. Juli 1944, in der Mehrzahl preußische Offiziere. Sie wurden auf die grausamst mögliche Art gefoltert und umgebracht. Hitler ließ filmen, wie sie an Drahtschlaufen „erhängt“ wurden, nicht durch Genickbruch, sondern durch langsames Ersticken, mehrere nebeneinander, die sich in ihrem Todeskampf gegenseitig herunterzogen.
Keinen hasste er so sehr wie die, die gegen ihn waren, weil sie ihre eigene – deutsche – Nation liebten. Davon haben die heute in Deutschland etablierten Politiker keine Ahnung und wollen sie auch nicht haben.
Stauffenberg hatte Glück im Unglück des Scheiterns des Attentats. Er wurde in der Nacht vom 20. auf den 21.07.1944 auf Weisung von Generaloberst Fromm im Hof des Bendlerblocks, gemeinsam mit zwei anderen Wehrmachtsoffizieren, standrechtlich erschossen. Fromm wollte so seine Mitwisserschaft verschleiern. (Das nutzte ihm aber nichts, er wurde noch am 12.03.1945 durch Erschießung hingerichtet.) Vielleicht hatte Fromm aber auch geahnt, wie grausam Hitlers Rache an den national-konservativen Widerständlern ausfallen würde und er wollte Stauffenberg das Schlimmste ersparen.