Den folgenden Text wollte ich schon im Oktober hier einstellen, aber dann hatte mein Vater einen Oberschenkelhalsbruch und die ganze Familie erstarrte in der Befürchtung, er könnte seinen 100. Geburtstag vielleicht doch nicht mehr erleben. Der sollte in einem vielgepriesenen Restaurant in Ribbeck bei Nauen stattfinden und die Vorbereitungen waren schon angelaufen. Mein Vater ist mittlerweile wohl- und schon wieder obenauf, nur in Ribbeck hat gerade der Koch gekündigt und wir mussten umdisponieren. Nicht so schlimm, schließlich haben auch andere märkische Schlösser was zu bieten. Aber nur für Ribbeck sind meine Recherchen so frisch und vollständig. Hier mein Text:
Neulich kam ich wieder einmal mit Touristen ins Gespräch, die bei ihrem Rundgang durch die Altstadt Brandenburgs auch meine Straße frequentierten.
Meine Auskunftsfreudigkeit ermunterte die älteren Herrschaften, auch Fragen zur weiteren Umgebung zu stellen. „Sagen Sie mal, bis zu diesem Ribbeck mit dem berühmten Schloss und dem berühmten Birnbaum, der Fontane zu seinem berühmten Gedicht vom Herrn von Ribbeck inspiriert hat, dürfte es doch von hier aus gar nicht mehr weit sein?“ Ich bejahte das: „Mit dem Auto brauchen Sie eine gute halbe Stunde. Sollten Sie aber nach zwei Stunden noch immer nicht angekommen sein, haben Sie wahrscheinlich das falsche Ribbeck in ihr Navi eingegeben.“
Dieser Irrtum kommt gar nicht so selten vor, denn die 150-Seelen-Gemeinde gleichen Namens liegt, wie das „richtige“ Ribbeck, auch im Havelland (genauer gesagt bei Zehdenick im Landkreis Oberhavel) und kann sogar mit Fontanes Spuren in der Gegend und ein paar Birnbäumen aufwarten. Nur ein Schloss fehlt, das steht in dem anderen Ribbeck, einem Ortsteil von Nauen.
An der Irritation ist Theodor Fontane (1817 – 1898) wohl nicht ganz schuldlos. Wer in den sieben Bänden seiner „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ nach dem Stichwort Ribbeck sucht, findet so gut wie gar nichts. Der Ortsname wird nur dreimal ganz beiläufig und ohne Klarstellung, welches Ribbeck gemeint ist, erwähnt und von einem Herrenhaus oder gar Schloss mit einem sagenumwobenen Birnbaum im Garten ist nirgendwo die Rede, erst recht nicht von einem Schlossherrn gleichen Namens.
Fontane hat zwar die „Streusandbüchse Europas“ kreuz und quer durchwandert (genau genommen meist durchfahren, und zwar auf holprigen Straßen und in stuckernden Pferdekutschen mit harten Holzbänken) und er hat dabei wohl auch die meisten der mehr oder weniger repräsentativen Anwesen diverser Krautjunker kennengelernt, aber in Ribbeck bei Nauen ist er vermutlich nie gewesen. Am wahrscheinlichsten ist, dass Fontane durch ein damals gerade (1887) erschienenes Sammelbändchen, „Sagen aus der Grafschaft Ruppin“ von Karl Eduard Haase, auf den legendären Lokalhelden und Sympathieträger Hans-Georg von Ribbeck (1689 – 1759) aufmerksam wurde.
„Sind Sie Fontane-Spezialistin?“, fragte eine der Damen aus der Touri-Gruppe. „Das nun gerade nicht“, wehrte ich ab, „aber ich habe viele Jahre lang den Lesekurs für ausländische Germanistikstudenten betreut. Da gehörte Fontane zum Pflichtprogramm. Und seit Schloss Ribbeck zu einer Art Wallfahrtsort geworden ist, wurde es auch in unseren Exkursionsplan aufgenommen.“ Dass Fontane nicht unbedingt zu meinen Lieblingsdichtern gehört – er ist mir zu konservativ und zu redselig – und dass ich den aktuellen Rummel um sein Ribbeck-Gedicht nicht ganz nachvollziehen kann, behielt ich für mich.
Die Story: Da hatte also ein kauziger Landjunker Jahr für Jahr die Birnen aus seinem Garten an die Kinder des Dorfes verschenkt. Einer populären Metapher zufolge fällt der Apfel – oder die Birne – nicht weit vom Stamm, aber Ribbeck junior dachte gar nicht daran, die väterliche Tradition fortzuführen. Er wollte, sobald sein Vater gestorben war, den Zugang zu dem fruchtbaren Birnbaum versperren. Das ahnte der alte Ribbeck und verfügte deshalb kurz vor seinem Tod, dass man ihn zusammen mit einer Birne begraben solle. Der Plan, den knausrigen Sohn auszutricksen, ging auf, denn bald wuchs zur Freude der Kinder auf dem frei zugänglichen Grab ein Birnbaum und sorgte für regelmäßigen Nachschub an Frischobst.
Offenbar fand Fontane, dass diese Geschichte mehr Aufmerksamkeit verdiente als nur der Anlass für eine schlichte Sage zu sein, in deren Mittelpunkt ein magischer Birnbaum stand. Das fanden vor ihm auch schon einige Zeitgenossen, darunter eine Urenkelin des besagten von Ribbeck, Hertha von Witzleben (1851 – 1927), die den Stoff zu einer Ballade verarbeitete. Was Fontane aber nicht daran hinderte, ebenfalls diese traditionsreiche Gedichtform zu wählen, für die er schon als Gymnasiast ein Faible entwickelt hatte.
Im Laufe der Zeit konnte Fontane unter Beweis stellen, dass ihm Ballade besonders lag, und zwar nicht nur als freie Nachdichtung aus dem Englischen bzw. Schottischen, sondern auch als Eigenkreation.
Dabei war das Verfassen literarischer Werke für Fontane lange Zeit nur ein Nebenprodukt seiner eigentlichen Berufstätigkeit, die im Bereich Journalismus lag. Nach einigen halbherzigen Anläufen, die familiäre Tradition einer Apothekerlaufbahn fortzuführen, bestritt Fontane den Lebensunterhalt für seine neunköpfige Familie zwischen 1849 und 1876 vorwiegend als Zeitungsredakteur, Auslandskorrespondent, Frontberichterstatter, Theaterkritiker und Verfasser von Reiseliteratur, bevor er als freier Schriftsteller ein immenses Spätwerk aus dem Boden stampfte, zu dem neben seinen berühmten Berlin-Romanen auch die Ballade vom Herrn von Ribbeck gehört.
Als einer der führenden Vertreter des literarischen Realismus beweist Fontane vor allem in den besten Balladen seiner reifen Jahre, dass realitätsgesättigte Stoffe und eine realistische Darstellungsweise dieser Gattung neue Möglichkeiten eröffnen. Er greift wahre Begebenheiten der jüngeren Vergangenheit auf (wie 1880 in „Die Brück’ am Tay“) , orientiert sich bei der Wahl seiner Helden an lebendigen Vorbildern aus der Mitte der Gesellschaft (wie 1886 in „John Maynard“) und weist mystischen Elementen bestenfalls eine Nebenrolle zu (wie dem flüsternden Baum in „Herr von Ribbeck“).
Zum Realismus dieser Ballade trägt außerdem ihr bewusst volkstümlicher Stil bei. Fontane imitiert quasi den freien Knittelvers des 16. Jahrhunderts, der mit seinen urwüchsig-simplen Paarreimen (aa, bb, cc…), seinem unregelmäßigen Rhythmus und je nach Bedarf unterschiedlicher Vers- und Strophenlänge oft holprig daherkommt, der auf Versatzstücke zurückgreift, Wiederholungen nicht scheut und sich auch gern mal kleine Stilbrüche leistet.
Ich erinnere mich, diese Auffälligkeiten als Schülerin für ein Zeichen mangelnder dichterischer Geschicklichkeit gehalten zu haben; erst viel später ging mit auf, dass Fontane solche Merkmale im „Ribbeck“ mit Kalkül eingesetzt hat: Die zwei „überzähligen“ Verszeilen der zweiten Strophe markieren die Mitte des Gedichts und die entscheidende Frage: Wer sorgt nach dem Tod des alten Ribbeck für Birnen-Nachschub? Die mehrfache Wiederholung des sperrigen „Ribbeck auf Ribbeck“ rhythmisiert das Gedicht und erleichtert das Einprägen. Stilistisch auffällige, z.T. mehrmals gebrauchte Formulierungen steuern die Aufmerksamkeit: Die Birnen „leuchten“ oder „lachen“ (metaphorisch) „weit und breit“ (Zwillingsformel) in der „goldenen Herbsteszeit“ (gängige poetische Phrase). Der alte Ribbeck „stopft sich die Taschen voll“ (saloppe Umgangssprache). Er spricht mit den Kindern im heimischen Dialekt (sog. Märkisches Platt), seinen letzten Wunsch aber formuliert er auf Hochdeutsch. Dieses „Code-switching“ (leider gibt es dafür keinen adäquaten deutschen Begriff) charakterisiert ihn als einen sensiblen Sprecher, der auf unterschiedliche Kommunikationssituationen flexibel reagiert. Ebenso dient das nachgestellte Attribut „lobesam“ (gehoben-antiquiert für ‘verdienstvoll, ehrenhaft’) der Figurencharakteristik, die durch ein klassisches Balladenurteil in den letzten zwei Zeilen abgerundet wird.
Auch dieser Schluss weist die „Ribbeck“-Ballade als exemplarische Vertreterin ihrer Gattung aus, deren Besonderheit als „Urei der Dichtung“ (Goethe) mit ihrem ganzheitlichen Konzept zusammenhängt, das die drei literarischen Hauptgattungen Epik, Lyrik und Dramatik auf sich vereint: Eine erzählenswerte Geschichte wird zu wohlgeformten Versen ver-dichtet und hauptsächlich in spannungsvollen Dialogen entfaltet. Oft haben solche Texte zur Vertonung animiert, so auch „Herr von Ribbeck“. Die drei bekanntesten Versionen stammen von Gerhard Schöne, Achim Reichel und Eva-Maria Vormann.
Das Balladenurteil, das hier das segensreiche Wirken eines großzügigen Menschen betont, lässt viel Raum für darüber hinaus gehende Assoziationen. Zum Beispiel für den tröstlichen Gedanken, dass ein Mensch nicht nur in der Erinnerung anderer Menschen weiterlebt, sondern auch im ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen nicht gänzlich verloren gehen kann.
Mit mir war die Dozentin durchgegangen, was die bildungsbeflissene Touristengruppe, die mich spontan zu einem Kaffee nach nebenan in den Fontane-Klub eingeladen hatte, offenbar nicht befremdlich fand. Sie erzählten mir, dass drei von ihnen pensionierte Gymnasiallehrer waren. Das erklärte alles.
Nun wollten sie auch noch wissen, wie es Schloss Ribbeck zu DDR-Zeiten ergangen war. Was heißt Schloss? Es handelte sich um ein großes Haus mit neobarocker Fassade in der Dorfmitte neben Kirche und Friedhof, umrahmt von einem Ensemble roter Klinkerbauten: Wirtschaftsgebäude, eine Brennerei mit hohem Schornstein und Storchennest sowie ein „Inspektorenhaus“, in dem noch bis Ende der 50-er Jahre des vorigen Jahrhunderts die Nachfahren des alten Ribbeck wohnten. Das ganze Areal sah nicht sonderlich gepflegt aus. Das Haupthaus war zum Altenheim mit außen angebrachtem Fahrstuhl umfunktioniert worden. In der Kirche konnte man den Stumpf des ehemaligen Birnbaums besichtigen, dem Anfang des 20. Jahrhunderts ein Sturm den Garaus gemacht hatte. Die Bemühungen, einen neuen Birnbaum zu pflanzen, vor der Kirche oder auf dem Anger, waren zunächst nicht sonderlich erfolgreich, aber mittlerweile breitet wieder ein Birnbaum am Orginalschauplatz seine Äste aus.
Das heruntergewirtschaftete Schloss wurde 2004 freigezogen und der Landkreis Havelland wollte die gesamte Schlossanlage in private Trägerschaft zurücküberführen, verbunden mit dem Auftrag, diese historische Stätte zumindest in Teilen für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen – aber es fand sich kein Investor. Ein Jahr Leerstand hatte den Gebäuden weiter zugesetzt, so dass der Kreistag eine risikoreiche Entscheidung traf: das Schloss mit öffentlichen Mitteln zu sanieren und als touristisches Zentrum zu entwickeln. Als Glücksumstand erwies sich, dass das amtierende Oberhaupt derer von Ribbeck, Friedrich, nach der Wende mit seiner Familie in das Inspektorenhaus zurück gezogen war und die Pläne des Landkreises tatkräftig unterstützte. Heute ist die historische Schlossanlage eine clever vermarktete Touristenattraktion. Das Haupthaus beherbergt ein Fontane-Museum, ein Hotel, eine noble Gaststätte und eine Zweigstelle des Standesamtes Nauen. Es gibt regelmäßige Veranstaltungen, die angebotenen Souvenirs sind überwiegend geschmackvoll, z.B. ein Bilderbuch mit dem Balladentext und ein Video, in dem Friedrich von Ribbeck höchstselbst, umrahmt von lauschenden Kindern, die Ballade vorträgt, und natürlich gibt es Birnen, nicht nur im Birnengarten…
Liebe Meta, schön, dass Du wieder „auferstanden“ bist und diese Seite bereicherst.
Allerdings gibt es immer was zu stolpern. Wie könnte es auch anders sein. Und jeder stolpert auf die Weise, die ihm entspricht. Wir haben eben alle unsere Eigen-heiten. Ich stolpere konsequent über Anglizismen und akzeptiere das schnell dahingesagte „Leider gibt es dafür keinen adäquaten deutschen Begriff“ nicht.
Jeder, der sich ehrlich und bewusst um sein Eigenes bemüht, wird gerade im überreichen Reservoir der deutschen Sprache fündig, wenn er es will, wenn er es wirklich will. Aber der Sog, Angesagtes und Etabliertes zu verwenden, ist bei den meisten Menschen stärker, als sich die Mühe zu machen, sich auf das Eigene zu besinnen. (Das ist so wie ein Ehepaar, das schon mehrere Kinder hat und sich für eine neue Herausforderung lieber ein neues Kind adoptiert, als die eigenen genauer und tiefer kennenzulernen und ihnen zu helfen, verborgene Talente zu entwickeln.)
Was hältst Du zum Beispiel von „(Sprach)Modus-Umschaltung“? Neues hört sich zuerst immer „komisch“ an, weil es sich nicht mit dem Mut nähren konnte, alltäglich gebraucht zu werden. Soll ihm diese Vernachlässigung nun auch noch vorgeworfen werden? Ich stolpere zum Beispiel, wenn ich „Heim-Meisterschaften“ höre. Das Wort „Heim“ wird im Deutschen immer weniger verwandt, viel angesagter ist „Home“, zum Beispiel in „Home-office“. Würden wir konsequent und immer wieder „Heimbüro“ sagen (es ist ja auch kürzer und für Rechtschreibschwache leichter), vor allem in den öffentlichen Medien, wäre dieser Begriff bald ganz vertraut und gebräuchlich. Aber da gibt es zu viele, die lieber nach dem Höheren, Angesagten, Internationalen streben. Wie Ikarus werden sie abstürzen, prophezeie ich hier einmal, wenn ich an die tiefen politischen Wandlungen denke, die sich in der Welt und der deutschen Gesellschaft abzeichnen.
Du sagst vielleicht, „Code-switching“ ist international verständlich. Ich frage mich und Dich: Was ist wichtiger: Dass auch die einfachen Menschen, die nicht studiert haben, in der mit weitem Abstand größten Sprachgemeinschaft der EU leicht und gleich verstehen können, was gemeint ist, oder dass das den Studierten vieler Länder auf Anhieb möglich ist?
Außerdem: Wenn wir ermattet sind und als Deutschsprachige keine Chance mehr sehen bzw. auch keinen Sinn darin, gegen einen übermächtigen Gegner – den immer mehr zunehmenden Gebrauch des Englischen – zu kämpfen, können wir uns nun wenigstens noch mit ihm verbünden. Auf dieses „Stockholm-Syndrom“ der Verbrüderung der Unterworfenen mit der „Herren-Sprache“ habe ich hingewiesen. Aber was sollen denn dann die Vertreter der kleinen Sprachgemeinschaften – die Esten, die Letten, die Litauer, die Slowaken, die Slowenen usw. – sagen, wenn schon die Deutschen aufgeben, die – ich sage es noch einmal – mit Abstand größte Sprachgemeinschaft in der EU?
Obwohl, jetzt habe ich übertrieben, liebe Meta: Du plädierst ja nicht für die Unterwerfung der deutschen Sprache unter die englische, sondern hast „bloß“ gemeint, dass es für „Code-switching“ keinen passenden deutschen Ausdruck gibt. Die Liebe macht eben überempfindlich, auch die Liebe zur eigenen Muttersprache. Jedenfalls ist das bei mir so. Zum Unglück oder Unglück leiden unter dieser Überempfindlichkeit aber nur sehr wenige Deutschsprachige. Das ist das Ergebnis der von der herrschenden politischen Klasse gepflegten Mentalität, Lebens- und Kulturphilosophie..