Das ist genau das, was ich meine: Die vorauseilende Anpassung an jedes einzelne Individuum

Am Freitag habe ich beim bundesweiten Vorlesetag in der Klasse meines Enkels vorgelesen. Es war ein Erfolg: Die Kinder haben zugehört und sich am Gespräch beteiligt, das sich aus vorgelesenen Abschnitten ergeben hatte.

Allerdings 1: Gleich zu Beginn musste ich einige Schüler, die sich mit dem Rücken zu mir über ihre Tische gebeugt hatten, um etwas mit ihren Stiften abzuzeichnen oder aus ihrer Phantasie auf das Papier zu bringen, bitten, sich zu mir umzudrehen. Das taten sie ohne Umstände auch sofort. Mit dem Zeichnen während des Vorlesens habe ich keine oder nur wenige Probleme: Viele Menschen kritzeln etwas auf das Papier, während sie zuhören.

Allerdings 2: Es waren nur relativ wenige Schüler. Die Lehrerin erklärte mir, dass einige im Schulhaus unterwegs wären, um sich in anderen Projekten einzubringen oder anderen Vorlesern zuzuhören. Diese Schüler hatten gar nicht die Chance, sich für mein Buch „Die drei ???“ und mich als Vorleser zu entscheiden. Weder das Buch noch mich sollten bzw. konnten sie kennenlernen; vergeblich hielt ich nach einem Mädchen Ausschau, das ich noch aus dem Kindergarten kannte.

Sich einzufügen in eine – sagen wir das schreckliche Wort: frontal angeführte oder vorgetragene – Anforderung und in eine Gruppe, die sie gemeinsam bewältigt, sollen deutsche Kinder nicht mehr lernen, wenn es nach unseren Bildungs- und politischen Eliten geht. Anstatt dessen wird das Pferd umgedreht aufgezäumt: Die Sache, die Anforderung und die Gemeinschaft, in der sie bewältigt werden soll, hat sich den einzelnen Kindern anzupassen.

Das ist mein Hauptthema auf dieser Seite und in meinem Leben. Natürlich muss eine Sache, die unterrichtet wird, didaktisch aufbereitet werden, zum Beispiel dem Alter der Schüler entsprechend dargestellt und vermittelt werden. Aber der Westen und besonders wir Deutschen haben das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Es bleibt ein nationales Alleinstellungsmerkmal von uns, dass wir alles, das wir als richtig und angesagt erkannt haben, nun besonders gründlich und (über)eifrig tun wollen.

Die andere Seite der Medaille stimmt nämlich auch und sogar noch mehr: Eine Gesellschaft muss seine einzelnen Mitglieder, besonders die jungen, die gerade erst ihren Lebensweg beginnen, befähigen, in das  Gemeinschaftliche und seine sachlichen Notwendigkeiten hineinzuwachsen. Dafür und nur dafür kann und soll sie auf den Einzelnen zurückgehen, das aber nicht als Selbstzweck, um bei ihm zu bleiben, sondern um ihn dann zum übergeordneten Gemeinschaftlichen zu führen.

Philipp Möller – keine Angst, ich bringe meine Reihe „Isch geh Schulhof“ noch zu Ende – hat das auch erkannt:

„Schon der kleinste Fehler meinerseits, ein heruntergefallener Stift oder auch nur ein Vogel, der am Fenster vorbeifliegt – und schon bricht Chaos aus. Bis dann wieder Ruhe eingekehrt ist und ich zum Unterrichtsthema zurückkehren kann, gibt es längst den nächsten Anlass zur Unruhe.

Der einzige Weg aus diesem Teufelskreis heraus besteht meiner Erfahrung nach in meinem Aufritt als frontalpädagogische Dampfmaschine. Mit im Militärton vorgetragenen Befehlen komme ich hier halbwegs voran. Das widerspricht zwar komplett meinen pädagogischen Vorstellungen, aber es funktioniert. Lasse ich die pädagogische Leine ein bisschen länger, bekomme ich fast immer sofort die Quittung dafür.“ (S. 204)

Hilbert Meyer, ein emeritierter Didaktik-Professor der Universität Oldenburg, hatte mir einmal ein Manuskriptausdruck seines Artikels „Lob des Frontalunterrichts“ geschenkt. Im Internet finde ich nur das hier.  Dort nennt er auch Argumente für das frontale Lehrprinzip anstatt der Individualisierung, koste es, was es wolle, die nicht nur in solchen Schulen gelten wie der, die Philipp Möller beschrieben hat.

Wie es der Zufall will, habe ich gestern Abend in den Tagesthemen einen Bericht über japanische Studenten gesehen, die das Im-Gleichschritt-Gehen als Kunstform kultiviert haben (ab der 14. Minute). Eingeführt wird dieser Bericht von einem Sprecher mit den Worten „Hier dient das Individuum dem Kollektiv und das läuft am Ende dadurch zur Höchstform auf“. (In Deutschland „dient“ prinzipiell keiner, igittigitt, nicht einmal mehr in der Bundeswehr, nicht wirklich, obwohl es den Leitspruch „Wir. Dienen. Deutschland“ noch gibt.) Die 21-jährige Chefin des japanischen Geh-Kollektivs sagt:

„In unserer Gruppe können sich alle kreativ beteiligen. Es trifft also überhaupt nicht zu, dass wir im militärischen Stil einfach nur stur einem Kommando folgen.“ Und der Sprecher fügt an: „Die Studierenden erfinden die Choreographie selbst: Eine Mischung von Marsch und Tanz.“

Wenn ich Bildungsminister wäre, würde ich bei der Frage, wer versetzt wird, auch das Bemühen bewerten, sich an einer solchen Marsch-Tanz-Choreographie aktiv zu beteiligen. Etwas Ähnliches gab es auch in Deutschland schon einmal, nämlich 2003:

„Berlin, Januar 2003. In der Arena, der alten Omnibus-Remise im Industriehafen, geschieht Erstaunliches. 250 Berliner Kinder und Jugendliche aus 25 Nationen tanzen Strawinskys „Le Sacre du Printemps‘.“ (Rhythm Is It! – Der Film erschien 2004)

Auch das war ein Kampf zwischen individuellen „Bedürfnissen“ – was Menschen in einem bestimmten Moment wollen – und dem, was für das Ganze, das Kollektiv und die Sache erforderlich ist. Er wurde in Berlin vor 15 Jahren noch viel existentieller ausgeführt, als das heute im ordnungsgewöhnten Tokio der Fall ist. Aber Musik und Rhythmus schafften es, selbst Berliner Kindern und Jugendlichen Disziplin beizubringen.

Ich bin mir sicher, die Asiaten, jedenfalls die in den hochentwickelten Staaten wie Japan, China, Südkorea, Singapur und bald auch Vietnam, werden den „Westen“ im Wettbewerb um Wirtschaftskraft und Innovation bald hinter sich lassen, denn es liegt in ihrer kulturellen Natur, sich sowohl leicht in eine Gemeinschaft einfügen zu können und zum Beispiel das Marschieren als geschmeidigen und ästhetischen Ausdruck dafür zu kultivieren, als auch innovativ dabei zu sein.

Das Individuelle entwickelt sich nur im Kollektiven und durch dieses. Wenn ich das Kollektive zurücknehme, wie das eifrig nach der Wende in der ehemaligen DDR geschah, wachsen doch in diesem Vakuum nun nicht von allein die individuellen Persönlichkeiten. Nein, diese brauchen soziale Beziehungen und ihre Auseinandersetzung damit, um sich entwickeln zu können.

 

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